22. Dezember 2024

Eric Basso: Der Pestarzt, Kapitel 1

Anmerkung des Übersetzung: Diese bahnbrechende und legendäre Geschichte  begann ich zu übersetzen, bevor Eric Basso überraschend am 10. Juni 2019 verstarb. Bisher konnte das Lizenzrecht nicht geklärt werden, so dass ich mein Vorhaben aufgeben musste. Tatsächlich gehe ich auch nicht davon aus, dass dafür in Deutschland einen Markt gegeben hätte, aber eine kleine Auflage für Kenner der Weird Fiction hätte mir eine gewisse Genugtuung verschafft. Ich erlaube mir dennoch, das erste Kapitel hier zu präsentieren. Ich verstehe das als einen Kulturauftrag. Wer die Novelle im Original lesen will, kann diese in Jeff & Ann VanderMeers The Weird finden.

Jetzt werde ich versuchen, wach zu bleiben. Der Nebel. Sie müssen mich bereits vor dem Morgengrauen gesucht haben. Leere Straßen. Durch einen schwach beleuchteten Raum.

Sie lag im Schatten. Die Stufen. Eine nach der anderen. Nicht, dass ich alt wäre. Es war die Maske. Der Gips bröckelte von den Wänden. Sie lag schlafend auf einer Couch. Ein Netzwerk von Rissen und verzweigten Adern wie die Oberfläche eines antiken Gemäldes. Chiaroscuro. Figuren halb geformt. Und sie war nackt. Kleine Wasserflecken in der Farbe von Rost. Von den Geländern ging ein Geruch nach Desinfektionsmittel aus. Mottenkugeln. Mit dem Geruch an meinen Händen kehrte ich dorthin zurück. Am unteren Ende der wackeligen Treppe konnte ich das fieberhafte Leuchten einer Glühbirne erkennen, die in die zerfressene Decke auf dem Treppenabsatz geschraubt war. Trittschatten schwangen sich über die Schuhspitzen, als ich mich dem oberen Ende näherte.

Keine Ecken. Ich musste meinen Kopf von einer Seite zur anderen drehen, um zu sehen, was um mich herum lag. Die Augenhöhlen waren eine Spur zu schmal geraten. Meine eigene Schuld. Beim Schneiden hatte ich mich nicht genau an das Muster gehalten. Sie bilden eine dunkle Vignette. Die Schutzbrille beschlägt. Dunkelheit um eine Dunkelheit herum, als ich in den Raum kam. Ich war am Ersticken.

Die Frau wich zurück. Zuerst schienen sie ein wenig erschrocken zu sein und murmelten vor sich hin.

Etwas zu leise, um es verstehen zu können. Ich sagte ihnen, sie müssten lauter sprechen. Eine Lampe brannte an der Kaminsimsuhr. Ein ovaler Streuteppich in der Mitte des Fußbodens, gerade außerhalb der Reichweite eines verblassten Lichtfeldes. Jetzt erinnere ich mich. In der Stille konnte man ein Ticken hören. Ich bildete mir nur ein, dass die Frau gesprochen hatte. Es könnte ein Rumpeln auf dem Boden darüber gewesen sein, verbunden mit den zufälligen Bewegungen ihrer Lippen. Der Vater nahm mich bei der Hand. Er war alt. Die Haut seiner Handflächen war trocken, seine Finger weich und leblos. Er wollte nicht sprechen. Hinter mir schloss sich eine Tür. Wir beide blieben mit der Unbekannten allein.

Ich musste ihm vermutlich helfen, durch den Raum zu kommen, er war so schwach. Seine Augen waren schlecht. Unterwegs blieb er einige Male stehen, um sich zu orientieren, und kratzte sich an den Augenbrauen, als versuche er sich zu erinnern, dass selbst in diesem gedämpften Licht ihre Flanke sichtbar war, und sich blass gegen den schwarzen Rumpf der Couch abhob. Ihr Gesicht war abgewandt oder unter einer Masse von langen dunklen Haaren oder in einem Schatten verborgen. Niemand hatte daran gedacht, sie mit einer Decke zu verhüllen. Wir lauschten ihrem Atmen zwischen den Ticks der kleinen Porzellanuhr; ein Miniaturpendel schwang in seinem länglichen Fenster, ein tiefes Klicken ließ von innen das Surren eines Mahlwerks ertönen – die Stunde erklang langsam am unteren Ende des Spiegels.

Ihr Zwerchfell hob und senkte sich. Ihre Rippen wölbten sich schwach, wobei sie abwechselnd die weißliche Haut über der breiten Bauchdecke streckten und entspannten. Ich schätzte sie im Alter zwischen dreißig und fünfundvierzig Jahren, aber das Licht war zu schwach. Und ihr Vater plapperte unzusammenhängend, bevor ich etwas darüber herausbekam, dass er sie auf dem Heimweg von einem Spaziergang gefunden hatte.

– Sie lag auf der Seite… zusammengerollt wie ein Ball am Bordstein.
Er kratzte sich wieder an seinen buschigen Augenbrauen. Die Frau hatte sie die Treppe hinaufgetragen und auf das Sofa gelegt. Im Tiefschlaf zeigte sie keine Anzeichen des Erwachens.

Der alte Mann hielt ihre Beine für mich fest und blickte durch die rot-weißen Spuren, die meine Leuchte in die Dunkelheit geätzt hatte nach unten. Die leichten Bewegungen meiner Hand hinterließen ein Nachbild von verflochtenen Linien auf seiner Netzhaut. Er schien immer noch zu versuchen, sich zu erinnern, beugte sich nach vorne, warf den Ballast, den die Füße seiner Tochter für ihn waren, gekreuzt hinter seinen Kopf, was seine weißen Haare auffächelte; die Messingglieder seiner Uhrkette glitzerten in einer doppelten Schleife, die über die Spitze ihrer Brüste schaukelte. Seine Brille rutschte ihm bis zur Nasenspitze herunter.

Es war kurz nach fünf. Kratzer. Quetschungen. Einige tiefe Einkerbungen hinterließen violette Streifen entlang der Rückseite ihrer Strumpfhose, wie Kratzer, die von einem wilden Tier verursacht wurden. Oder ähnliches. Ich brauchte keine Brille. Die Genitalien bildeten bereits in der Dunkelheit eine geschwollene Masse. Die geschwärzten Schamlippen blähten sich im Bereich der Entzündung auf. Die Schleimhaut war so rau, dass sie sich blau färbte. Eine Spur von getrocknetem Blut ließ sich bei der Berührung mit dem Finger von der Haut abschuppen. Ich fühlte eine Kruste unter meinem Handrücken, als ich nach inneren Läsionen suchte. Ein brauner Ausfluss hatte genug Zeit gehabt, sich auf dem Kissen auszubreiten und dort zu erstarren.

Wie lange lag sie schon so da?

– Ich… nein, ich habe nur…

Der alte Mann sah aus, als würde er gleich ohnmächtig werden. Er ließ eines der Beine los und legte seine Hand auf den Arm der Couch. Etwas Hartes schlug gegen die Oberseite meiner Maske. Ich fiel auf die Knie. Die Lampe flog mir aus der Hand und ich hörte, wie sie unter das Sofa rollte. Ein weiteres Gewicht fiel schwer auf die Mitte meines Rückens. Ich sah, wie ein grauer Mond auf die Couch und dann in die Finsternis stürzte. Mein Keuchen ließ heiße Luft durch das Innere der Maske nach oben strömen. Ich hörte den Wind brüllen. Er quetschte mir den Atem aus dem Leib.

Ich lag dort auf dem Boden und versuchte, die Augenlöcher neu auszurichten, meine Schutzbrille war dampfgetrübt. Er stand über mir, der Vater, durchkreuzt von der breiten, diagonalen Silhouette eines nackten Beines. Die Zimmerdecke erschien mir dunkelgrau ins Schwarze zu driften, an dessen Rändern es kobaltblau und golden glänzte.

Eine weitere Minute verging. Das Grau wäre bei Tageslicht weiß gewesen. Die Vorhänge waren zugezogen, die Jalousien geschlossen. An einigen verzweigten Spalten hingen zackige Formen wie Stalaktitenstücke. Der alte Mann fasste mich bei den Händen. Er wollte mich nach oben ziehen.

– Wie wär’s mit etwas zu trinken? Sie müssen da drin ja ersticken. Oder vielleicht möchten Sie ein in kaltes Wasser getränktes Tuch für Ihr Gesicht?

Warten Sie. Heben Sie ihr Bein wieder auf die Couch. Ich schaffe das nicht allein.

– Es ist nebliger geworden als je zuvor. Man kann nicht einmal mehr über die Straße sehen. Ich schalte einfach die Lampe aus.

Nein, ich muss ihr eine Spritze geben. Helfen Sie mir, Sie umzudrehen. Fassen Sie sie unter den Knien. So ist es gut. Vorsichtig.

Penicilin, 10 ml. Keine Reaktion auf den Stich der Nadel. Sie lag einfach auf dem Bauch, ihr offener Mund sabberte in das Kissen. Es war noch zu früh für eine Dehydrierung. Der Vater fischte eine Schachtel Zigaretten aus seiner Westentasche. Er klopfte eine heraus und hielt sie mir hin.

– Sind Sie sicher? Ich rauche nicht gern allein.

Ich war zum Fenster gegangen und wollte gerade die Jalousien nach oben ziehen, als die Lampe auf dem Kaminsims erlosch und uns beide in völlige Dunkelheit stürzte, mit nichts als ihrem Atemgeräusch und dem Ticken der Uhr. Ich hätte sie wieder auf den Rücken drehen sollen. Aber das machte keinen Unterschied. Sie schien sich wohl genug zu fühlen. Ich bildete mit zwei Fingern einen Spalt in der Jalousie und blickte in den Nebel hinaus. Der alte Mann hatte Recht.

– Das ist alles, was ich weiß. Fragen Sie mich nicht, warum ich so lange damit gewartet habe. Wenn es nach meiner Frau und meiner Schwester gegangen wäre, würde sie immer noch splitternackt da draußen liegen, und, na ja, sagen wir einfach, ich hielt es für das Beste zu warten, bis sich der Nebel gelichtet hat… und als er das nicht tat, nun, Sie kennen den Rest… sie lag am Bordstein unter einem Laternenpfahl, sonst hätte ich sie gar nicht gesehen, meine Augen sind nicht mehr das, was sie mal waren, wenn sie auf dem Bürgersteig gelegen hätte, wäre ich vielleicht über sie gestolpert und hätte mir das Genick gebrochen; um die Wahrheit zu sagen, war ich nicht einmal sicher, ob ich in der richtigen Straße war… der Nebel… konnte meine Hand nicht vor meinen Augen sehen… nein, an Ihrer Stelle würde ich ein wenig warten, bevor ich wieder hinausgehe… etwas zu trinken vielleicht? … sehen Sie, ich habe das Licht ausgemacht, also gibt es keinen Grund zur Sorge… Ich kann mich an fast alles gewöhnen, aber nich an diesen Nebel! Wenn ich daran denke, wie die Dinge früher waren und wie sie jetzt sind – überall Gerüchte, und die Straßen sind menschenleer – habe ich wirklich Angst, rauszugehen, sogar tagsüber… Früher bin ich mit dem Bus zum Einkaufen an den Olde Market gefahren, jetzt muss ich wie alle anderen alleine durch die Straßen laufen… aber warum setzen Sie sich nicht? Ich lasse uns von Duma – meiner Frau – etwas zu essen bringen… was sagen Sie zu ein paar Brezeln und einer schönen Flasche Bier? Es ist das letzte, was wir noch haben, die Brezeln meine ich, aber das ist ja schließlich ein besonderer Anlass… ich hatte seit Jahren niemanden mehr im Haus, seit mein Schwager gestorben ist… er war einundvierzig… haben Sie ihr Gesicht gesehen? … vielleicht sollten wir ihren Mund schließen, es sei denn, Sie sind der Meinung, das könnte ihre Atmung behindern… ich wusste zuerst nicht, was zum Teufel ich tun sollte. Ich dachte, ich hätte nicht richtig gesehen… ich musste fast ganz hinauf steigen, bevor ich erkannte, dass es eine Frau war und nicht ein Haufen Müll, den jemand unter dem Laternenpfahl gehäuft hatte… sie ist nicht von hier – zumindest denke ich das nicht – ich habe sie nie gesehen, nicht dass ich mich erinnern würde… sie lag da ganz zusammengeknüllt wie ein Ball… Ich dachte, sie wäre tot… was ist jetzt mit dem Bier? Ich werde auch die Lampe nicht einschalten.

Durch einen kleinen Spalt in der Jalousie – nichts. Ein dumpfes Grau stieg nach oben, das konturlos von der Straßenbeluchtung gestreut wurde.Verlorene Heiligenscheine in einem geräuschlosen Nebel. Nicht einmal ein gedämpftes Echo war zu hören. Etwas hatte sich im Haus bewegt. Alles wurde von dieser einen kurzen Bewegung absorbiert. Es könnte auf dem Dachboden unter oder in einem Außenkorridor oder auf einem der Treppenabsätze gewesen sein. Ein Fußball. Das Klicken einer sich schließenden Tür. Wer konnte schon sagen, was es war oder wo es herkam? Das brachte mich zu ihrer Atmung zurück. Der alte Mann hatte seinen Monolog beendet. Vielleicht hatte er einen Schritt nach vorne gemacht. Er könnte es gewesen sein. Ich konnte es nicht sicher sagen. Es war zu dunkel.

– Und jetzt?

Wie bitte?

– Ich meine, was sollen wir mit ihr machen?

Die Polizei wird sich um alles kümmern.

– Ist Ihnen heiß?

Was ist?

– Nichts, ich habe mich nur gefragt.

Ziehen Sie der Frau etwas an. Und wenn Sie einen Führerschein oder irgendeinen Ausweis finden, stechen Sie ein Loch hindurch und binden Sie ihn ihr mit einem Stück Schnur um den Hals. Verwenden Sie kein Gummiband oder etwas anderes, das ihre Atmung beeinträchtigen könnte.

– Das ist nicht gut… Sie sehen sie so, wie ich sie gefunden habe… so wie sie war.
Vielleicht ist etwas in Ihrem Zimmer. In einer der Schubladen. Sie könnten Ihre Frau fragen.

– ?

Oder hier. Nehmen Sie das und füllen Sie es später aus. Ich habe es schon unterschrieben. Wenn Sie wollen, können Sie das Licht wieder einschalten. Ich muss jetzt gehen.

– Was ist das? Ein Rezept?

Nein, es ist für die Polizei. Geben Sie es ihnen, wenn sie das Mädchen abholen. Und vergessen Sie nicht, es auszufüllen. Ich gehe voraus und treffe die nötigen Vorkehrungen. Versuchen Sie nicht, sie zu bewegen. Ziehen Sie sie so gut es geht an. Sie bringen sie in den Ringlokschuppen.

– Zum Ringlokschuppen? Sie meinen das alte Eisenbahnmuseum? Das war seit Jahren nicht mehr geöffnet.

Irgendwie hatte er es geschafft, an die Tür zu kommen, ohne an die Möbel zu stoßen. Ein gelbes Licht fiel aus dem Korridor und umrahmte seine gebogene Silhouette mit einem dumpfen Flimmern. Er nahm seine Brille ab.

– Ich würde sie gerne loswerden… kann damit nichts mehr sehen… sie anprobieren… sehen, wie sie Ihnen passt.

Ich muss jetzt gehen. Wenn Sie meine Lampe gefunden haben, schicken Sie sie mir zum Ringlokschuppen. Die Adresse steht oben auf dem Zertifikat. Oder Sie können mich jederzeit im Büro erreichen. Sie haben meine Nummer.

Der alte Mann kratzte sich an den Augenbrauen, zuckte mit den Schultern und zog ein Taschentuch aus der Hose. Er atmete die Linsen an und lächelte.

– Ich würde mir eine Menge Atem sparen, wenn ich sie einfach aus dem Fenster halten würde.

Er rief mir nach.

– Seien Sie vorsichtig. Auf einer der Stufen liegt eine lose Matte.

Ich kam langsam aus dem gelben Licht heraus, eine quietschende Stufe nach der anderen nach unten. Dieser Geruch. Ich konnte ihn später an meinen Händen riechen. Ich hörte, wie die Mieter vor mir die Tür schlossen. Bis ganz nach unten.

In den Nebel hinein.

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