Geschrieben von WH Pugmire
Die Dame von ehrwürdigem Alter führte ihn die alte Holztreppe nach oben, und er verspürte einen Schauder der Begeisterung, endlich hier an diesem Ort zu sein, von dem er so oft geträumt hatte. Es war nicht leicht gewesen, das Geld zusammenzusparen, das ihn den Flug nach Paris ermöglicht hatte – aber er wusste in diesem Augenblick, dass sich der ganze Aufwand gelohnt hatte. Sie erreichten den oberen Absatz und standen vor der Tür des berüchtigten Mansardenzimmers, wo die verblühte alte Dame zögerte, bevor sie den Schlüssel in das Schlüsselloch steckte.
„Es ist seltsam, Monsieur. Ich fühle mich jedes Mal … ich mag es nicht, die Ruhe dieses Raums zu stören. Es ist albern, ich weiß, aber ich erwarte ständig, dass er bewohnt ist … von ihm. Man würde meinen, dass sein Selbstmord eine Aura des Todes und der Finsternis in diesem Raum hinterlassen hätte, aber man fühlt stattdessen … seine Jugendlichkeit. Sie porträtierten ihn abscheulich in diesem lächerlichen Film. Ich stamme ursprünglich aus England und hatte keine Vorstellung von der Legende des Mannes, als ich meinen französischen Ehemann heiratete, möge er in Frieden ruhen … Die Legende dieses Mannes begann in Ihrem Heimatland Gestalt anzunehmen, als Hollywood beschloss, die erfundene Geschichte über Honoré Radin zu verfilmen. Und jetzt sagen Sie mir, dass Sie eine Biographie über den Maler schreiben.“
„Einen Roman, Madame Dupin. Der Erfolg des jüngsten Horrorfilms, in Zusammenhang mit seiner berüchtigten Malerei und ihrem vermeintlichen Fluch, hat ein großes Interesse an dem Künstler selbst hervorgerufen. Ich bin nicht dafür qualifiziert, eine authentische Biographie zu schreiben, Literatur ist mein Metier; und, um die Wahrheit zu sagen: wir wissen so wenig über Radin, dass eine tatsächliche Beschreibung seines Lebens nur ein sehr kurzes Buch ergäbe.“
„Und nun kommen Sie zu seinem Mansardenzimmer in Paris, damit es Ihnen dabei hilft, die … genaue Beschaffenheit beschreiben zu können?“
„Es ist vielmehr die Atmosphäre.“
Die alte Frau nickte, und dann zuckte sie leicht mit den Schultern und drehte den Schlüssel im Schloss. Sie selbst betrat den Raum nicht, sondern deutete mit einer gebrechlichen Hand hinein. „Entrez, Monsieur Blake.“ Der junge Mann ging an ihre vorbei in den Raum und bemerkte sofort, dass er eine andere Welt betrat, ein älteres Reich. Die Frau an der Schwelle sprach weiter: „Als die Leute aus Hollywood kamen, um die Eröffnungssequenz zu drehen, gaben sie ein Vermögen dafür aus, um das Appartement wieder so aussehen zu lassen, wie es an diesem Abend im Jahre 1848 ausgesehen haben könnte. Es gelang ihnen recht gut, wie Sie sehen können. Die Gaslampen, die unechten antiken Möbel. Ich habe die Henkersschlinge entfernt, die sie am Balken befestigt hatten – das war etwas zu viel. Oh ja, es stand in unserem Vertrag, dass sie den Raum genauso verlassen würden, wie sie ihn restauriert hatten – das war die einzige Zahlung, die wir forderten, weil wir genau wussten, dass wir den Besuchern dann den Raum leicht gegen eine Gebühr zeigen konnten.“
Aber er beachtete sie nicht, weil er völlig eingenommen war von dem Gemälde über dem Kaminsims.
„Das ist die Replik, die sie angefertigt haben?“
Sie nickte. „Sie wissen natürlich, dass sie für den Dreh der Selbstmordsequenz das Original erworben hatten. Das war ein verrückter Tag. Sie luden mich tatsächlich dazu ein, die ursprüngliche Hauswirtin im Film zu spielen, aber ich brachte es einfach nicht fertig, mit diesem … Ding in Öl im gleichen Raum zu sein! Diese Imitation fängt die Aura des Originals nicht ein. Wir hatten an diesem Tag allerhand Sicherheitskräfte – das Museum überließ uns das Gemälde wegen seines Rufes für nur einen einzigen Tag. Sie wissen natürlich von den ganzen Verrückten, die behaupten, das Bildnis sei Böse, und dem Versuch, das Gemälde im Museum zu zerstören, so dass sie es dort in eine geheime Kammer sperren mussten. Ich stand genau hier, als sie das Original an seinem Platz anbrachten, und ich hatte so eine Vorahnung. Der Raum nahm eine andere Atmosphäre an.“ Obwohl er mit dem Rücken zu ihr stand, konnte der junge Schriftsteller den Schauder wahrnehmen, der ihre zierliche Gestalt erfasste. „Nun überlasse ich Sie aber Ihrer Arbeit.“
Er wollte sich noch verabschieden, bemerkte aber, dass sie bereits verschwunden war, und plötzlich ergriff ihn ein absurdes Gefühl von Panik. Er wollte nicht allein in diesem Raum sein, dieser Mansarde der Stille, der Schatten und der Erinnerung. Einige der Habseligkeiten des Künstlers, so ging das Gerücht, befanden sich noch immer hier in diesem Zimmer, das die wunderliche Wirtin nach dem Selbstmord des Malers stets verschlossen hielt und sich weigerte, es zu vermieten. Der Schriftsteller schaute nach oben und betrachtete den Dachbalken, an dem das Seil befestigt worden war, das dem Künstler dabei geholfen hatte, seine Sterblichkeit auszulöschen – ein Akt, der dem Maler nun in gewisser Weise wegen der reißerischen Legenden, die sich um sein Gemälde und dessen Fluch rankten, Unsterblichkeit verlieh. Ein Bestandteil dieser Legende verweilte weiterhin in diesem Raum, ihr Zentrum war die Replik des berüchtigten Bildes.
Der Schriftsteller ging zu einem hohen Bücherregal und studierte die Titel der Bücher, von denen die meisten in Französisch waren. Sicher war das nicht Radins eigentliche Büchersammlung, über den man sich erzählte, dass er Umgang mit Zauberei und Schwarzer Magie gehabt hätte. Der Schriftsteller hatte Sprachen an der Miskatonic University studiert, wo er sich in die Sammlung arkaner Wissenschaften vertieft hatte. Aus diesem Grunde waren ihm die Titel in den Regalen vertraut. Er berührte den Rücken von Comte d’Erlettes Cultes des Goules und konnte nicht fassen, wie glatt und ölig sich die Bindung präsentierte, als hätten sich die Seiten mit Schweiß vollgesaugt. Er murmelte andere Titel: Gaspard du Nords Übersetzung des Buchs von Eibon aus dem 13. Jahrhundert und das befremdliche Sorcerie de Démonologie. Er zog ein Bündel zusammengepacktes Kanzleipapier heraus und erkannte bebend, dass es sich dabei um die höchst obskure französische Übersetzung des Necronomicon handelte, von dem eine Kopie aus einem Kloster aus dem 13. Jahrhundert in Südfrankreich verschwunden war.
Nein, diese Ausgaben konnten unmöglich echt sein, es musste sich dabei um geschickt angefertigte Requisiten der Filmleute handeln.
Und doch war es nicht unwahrscheinlich, dass der Maler tatsächlich eine solche Bibliothek besessen hatte, denn er hatte sich in der Korrespondenz mit seinem Vater damit gebrüstet, mit dem furchtbaren Gott Thanatos einen Pakt geschlossen zu haben. Eine der Legenden, die man sich über den Künstler erzählte, besagte, dass sein Selbstmord das finale Opfer für die Gottheit gewesen sei. Dieser Teil der Legende war in einer Traumsequenz des Hollywoodfilms prächtig dargestellt worden; aber wie er da mitten in diesem Raum stand, wusste der Schriftsteller, dass der Film nicht die Tiefe besessen hatte, um Radin als Kenner dämonischer Künste darzustellen, und diese Erkenntnis ließ ihn sich dem Herzstück zuwenden, das Honoré Radins Ruhm begründete.
Das berüchtigte Gemälde war mit dem Titel „Der Sensenmann“ versehen und es wurde gemunkelt, dass der Besitzer des Gemäldes eines gewaltsamen Todes sterben würde und dass seinem Ableben eine Warnung vorausging, die von dem Gemälde selbst stammte. Es sollten nämlich Blutmale auf der Sense der Klinge des Schnitters erscheinen.
Er trat näher an die Leinwand heran und berührte mit der Hand die geschwungene Fläche der Sense. Sofort spürte er ein Frösteln des Entsetzens, das durch die meisterhafte Darstellung des Todes hervorgerufen wurde. Dann bemerkte er am unteren Rand des Gemäldes eine Zeile, die mit rostroter Farbe in französischer Sprache dort hingekritzelt worden war, und die er aus einem Shakespearschen Sonett kannte. Schnell übersetzte er:
„Nichts kann es vor der Zeit der Sense wahren …“
War diese Transkription Teil des Originalgemäldes? Darauf hatte es in dem amerikanischen Horrorfilm, der sich auf die Legende des Fluchs des Bildes stütze, keinen Hinweis gegeben. War dies der Schlüssel zu Radins wahnbehafteter okkulten Suche: Unsterblichkeit?
Blake beäugte eine finstere Ecke des Raums, wo ein großer Gegenstand mit einem schwarzen Tuch verhüllt war. Da er den Film schon einige Male gesehen hatte, vermutetet er zu wissen, was sich dahinter verbarg. Auch das würde in seinem Roman über Radins verrücktes Leben und seinen geheimnisvollen Tod eine Rolle spielen. Er ging hinüber, packte das Tuch und zog es mit einer dramatischen Geste zu Boden. Vor ihm stand der gerahmte Spiegel in seiner vollen Größe, der, wie er wusste, seit diesem beklagenswerten Abend 1848 hier stand, als der Künstler das eine Ende seiner Henkersschlinge um den Dachbalken gebunden hatte. Blake starrte auf die Figur, die auf die Oberfläche des Spiegels gemalt worden war, und der ohnehin schon kühle Raum wurde noch etwas kälter. Vor sich sah er in gedeckten Farben und diffusen Details das Selbstbildnis, das der verrückte Maler von sich angefertigt hatte. Das Porträt war mit Ausnahme der unteren Hosenbeine und der Schuhe, die fehlten, nahezu komplett. Das vermittelte Blake den merkwürdigen Eindruck, dass die lebensgroße Figur hinter die Oberfläche des silbernen Glases getreten war. Wie unheimlich, vor diesem Abbild zu stehen, das dem Raum ein eigenartiges Gefühl der Präsenz verlieh. Als ob das erstarrte Spiegelbild des Malers mithilfe der Chemie, mit der der Spiegel konstruiert worden war, eingefangen worden wäre.
Der Maler war ein ansehnlicher Kerl gewesen. Der amerikanische Film hatte Radin als Mann in mittleren Jahren gezeigt, aber wenn das Spiegelbild exakt war, konnte der Künstler nicht älter als Blake selbst gewesen sein. Nur seine Augen schienen alt zu sein, wie die eines Menschen, der durch ruchlose Studien eine hohe Stufe seltener Kenntnisse, wenn nicht gar Weisheit erlangt hatte. So wie der junge Mann sein Gesicht gemalt hatte, war es sehr blass, und Blake entdeckte in der Mitte von Radins Stirn, wo die Oberfläche des Spiegels leicht zerkratzt war, eine Art seltsames Symbol in Form von Schwimmhäuten. Blake sah sich die Hände an, die an der Seite des Künstlers herunter hingen, die Handflächen nach außen gedreht, und es überraschte ihn nicht wenig, dass er in der Mitte einer der Handflächen das gleiche Symbol erkannte, das in den Spiegel gekratzt worden war, aber dieses Zeichen auf der Handfläche war Teil des gemalten Bildes. Blake starrte in die schönen Augen des Künstlers. Die Lippen des Porträts waren leicht geöffnet, als ob sie gerade dabei wären, einige seltenen Worte zu flüstern. Von irgendwo im Raum regte sich ein Luftzug, der den Schriftsteller erreichte und in sein Ohr säuselte. Blake kniete sich hin und studierte das Bild auf der Handfläche, als sich Schatten hinter der gemalten Figur bewegten. Ohne zu wissen, was ihn dazu bewog, schloss Blake die Augen und drückte seinen Mund gegen die gemalte Handfläche.
Wind raschelte an seinem Ohr. Er küsste ihn. Die Handfläche bewegte sich von seinem Mund fort und Finger fuhren ihm durchs Haar. Er konnte sich bewegende Schatten durch seine geschlossenen Lider wahrnehmen. Der Griff der Hand in seinem Haar wurde fester und zog ihn nach oben. War es der samtene Wind, der seine Augen so sanft küsste, der so leise kicherte? Blake öffnete seine brennenden Augen und konnte die wirbelnde Leere nicht begreifen, in der er sich augenblicklich wiederfand. Es war ein Ort außerhalb von Zeit und Raum, zwischen Sternen und Chaos. Und er war nicht unbewohnt. Überall um sich herum konnte Blake die allumfassende Aufmerksamkeit einer unkörperlichen Präsenz wahrnehmen. Sie brütete vor ihm, gotteslästerlich und eindringlich in der Dunkelheit. Sie verspottete ihn mit ihrem freudlosen Gelächter, nahm die Form einer unheiligen Silhouette an, die zu ihm schlich wie eine krankhafte Missgestalt, ein Gespenst, verhüllt mit einem Gewand obsidianschwarzer Degeneriertheit.
Er zitterte vor Angst, konnte sich aber nicht abwenden. Das fremdartige Ding lächelte mit einem Zynismus, der alles Sterbliche verachtete; und als es eine Hand hob, erschauerte Blake, als die Leere zerfiel, die Zeit sich zernagte. Nichts entkam dem kriechenden Chaos. Blake beobachtete und verstand plötzlich die Unsterblichkeit. Ein Teil der Seele würde immer, entwurzelt und verdorben, im Verfall aller Dinge verweilen. Der Schriftsteller wollte die Augen schließen, aber es gelang ihm nicht; und so wurde er Zeuge, wie das Phantom vor ihm in die Leere griff und zwei fahle Kugeln daraus hervorbrachte. Blake wusste irgendwie, dass dies die letzten sterbenden Sterne eines zerrissenen Himmels waren, und er beweinte ihr kraftloses Funkeln. Er rang nach Luft, als das fremdartige Wesen die Sterne gegeneinander schlug, so dass ein Blitz aus ihnen herausschoss und auf das Ding aus Lehm, Knochen und Blut niederfuhr. Er spürte das Symbol, das sich auf seine Stirn gebrannt hatte und konnte sich schließlich von diesem Alptraum abwenden und um Gnade flehen. Vor sich entdeckte er eine Glasscheibe. Er gaffte hindurch und sah eine unbewohnte, von Gaslicht beleuchtete Kammer. Undeutlich erkannte er sein Spiegelbild und das Symbol, das lichterloh auf seiner Stirn pulsierte. Mit wahnsinniger Kraft schlug er die Stirn gegen diese Glasscheibe.
Madame Dupin hörte das Krachen aus dem gemiedenen Raum dringen. Vor der Tür hielt sie inne und wunderte sich, warum sie verschlossen war. Endlich gelang es ihr, die Tür aufzustoßen und verzog das Gesicht aufgrund des Geruchs, der sie anwehte, der Geruch eines widerlich brennenden Dings. Sie hielt erneut inne, bevor sie vorsichtig in den Raum schlich. Wie schwach das Gaslicht flackerte, als ob es vor einer scheußlichen Manifestation zurückwich. Sonst befand sich niemand im Raum, dennoch war sich die alte Dame sicher, dass der junge Mann ihn nicht verlassen hatte. Ihren ersten Schock bekam sie, als ihr Blick auf die verderbliche Reproduktion von Honoré Radins Leinwand fiel. Das Bildnis des Sensenmannes war über und über beschmiert mit einem eitrigen Sekret, einer stinkendes Schweinerei, die an blutigen nächtlichen Ausfluss erinnerte. Der Gestank im Zimmer ging von dieser Schmierspur aus. Sich von dieser grässlichen Szenerie abwendend, sah sie dort, wo der Spiegel zerbrochen war, den Boden über und über mit Scherben übersät. Wie konnte das bei einem Relikt geschehen, das so viele Jahrzehnte überdauert hatte? Was hatte der Amerikaner in diesem Raum veranstaltet und wo hatte er sich versteckt? Sie bückte sich, um ein Stück Glas aufzuheben, auf dem das Bild einer Hand gemalt war. Sie hielt es vorsichtig fest, bis sie das Blut bemerkte, das von ihren Finger tropfte. Wie seltsam, ihrem Blut dabei zuzusehen, wie es regelrecht nach unten in den Scherben, den sie hielt, gesogen wurde. Sie warf das Glasstück fort. Sodann bemerkte die alte Dame eine Bewegung auf dem Boden, ein dunkles Profil, das sich auf der größten Scherbe, die unter den Überresten des zerschmetterten Spiegels lag, zu winden schien. Ihre blutverschmierte Hand hob den schweren Splitter hoch und starrte in das Gesicht, das in der Tiefe des Glases erbebte. Sie verstand nicht, weshalb das gemalte Gesicht, von dem sie wusste, dass es dasjenige des selbstmörderischen Künstlers sein sollte, der sich vor so langer Zeit in diesem Raum erhängt hatte, nun dasjenige des letzten Besuchers war, das des Schriftstellers Blake. Als das Antlitz seine zerschundenen Lippen öffnete und ein verwundetes Heulen ausstieß, floh Madame Dupin für immer aus diesen Raum. Die große Scherbe des verwunschenen Spiegels entglitt ihrer zuckenden Hand und zerschellte in tausend kleine Stücke.