Der Mord (Brunswick 3)

„Einst ging die junge Iva durch den Berg, man sah sie vorn und hinten mit Haube, mit Bluse, mit Mieder, mit Rock und Schürze, mit Halsband, ohne Schuhe und Krug. Wo sie nicht war, sah man sie freilich nie.“

Die Trauben sprachen von einer kalten Nacht mit Glitzerfrost auf Gräsern und Gesträuch. Der Mond warf jenes Silber, das er zu viel hatte, gönnerhaft nach unten. Möge sich jemand am Licht gütlich tun, möge sich jemand weniger verirren.

„Sie war dem Bacchus angetraut und hielt’s wohl für einen Spaß, den man macht, um das Dasein unterm Strich erträglicher zu halten. da ist sie eingestellt wie wir, die wir kugelrund aus den Reben drängeln, um nachher schön auszusehen, wenn der ganze Strauch im Abendgolde glänzt.“

Brunswick konnte in seinem Zustand keine Fragen stellen, er konnte weder einhaken, noch sich das Erzählte von vorn beginnen lassen. In der Traubenwelt fühlte er sich wie in Arkadien und schaute die fabelhafte Welt der Trunkenheit bizarrer Gestalten, die nichts anderes im Sinne hatten, als nach Abenteuern und Schäferstunden zu spechten. Er musste auf den richtigen Zeitpunkt warten und die Informationen so ordnen, dass er die gesuchte Stelle wieder fand, wenn er im Diesseits danach suchte. Die Unendlichkeit hinterließ Symbole an ihrer statt, so wie ein Ei den Vogel vermisst, und wenn es ein Vogel ist – das Ei.

Die Weinkönigin spazierte ziellos umher, als suche sie sich bereits ihr Grab, doch einer musste sie schließlich hineinstoßen, sonst wär‘ das ganze Spiel ungültig, nichts wert.

Hätte er seine Albträume zur Verfügung gehabt, hätte er das grauselige Schauspiel verfolgen müssen, aber dadurch auch gewusst, wie sich die Tragödie zugetragen. Doch in Arkadien scherten ihn bald nur noch die Knochen Ivas, die zu finden alles war, was er sich wünschen konnte. Fleischlose Stecken. Wer würde ihm glauben, sobald er den Mund auftäte, um zu verkünden, der große Gott Pan selbst sei etwas zu grob zur Weinkönigin gewesen? Ihre Knochen hatten hingegen eifersüchtige Mänaden verschleppt, schick wie Rehlein, aber mörderisch wie Harpyen.

Tatsächlich fand er lediglich ihr Jochbein, es lag abgenagt in einem verlassenen Fuchsbau. Brunswick grübelte noch ein Weilchen, während Frank, die Forelle ihm beim Grübeln zusah, indem er seine Rasur auf der linken Wange fokussierte. Von Pan kam Brunswick sehr schnell ab, denn er erinnerte sich an das Säuseln einer ganz besonderen Traube und stufte den Mord dadurch als eine Tat aus Eifersucht ein.

„Ich mochte die zerronnenen Vetteln sehr gerne, auch wenn sie die Jugend ihrer Zofen zogen, um zumindest einen Teil des aufziehenden Gewitters von ihren Abgründen fern zu halten. Ihre Haut bestand aus kostbarsten Stoffen, die unter der Hand gehandelt wurden, aber zusammengerollt ein eigenes Schloss ergaben. In den Mund nahmen sie nichts weiter als fremden Lebenshauch. Wer sie „Hexen“ nannte, bedurfte einer Tracht Prügel im Schnee vor dem Haus, denn die Erde, aus der sie bestanden, wurde von Vulkanen gereinigt. Der Stein ihrer Augen hielt ihre Sippe geschlossen. Sie stifteten die Vogelscheuchen den großen Parks der Stadt; und niemand soll sagen, dass je ein Vogel sich am Saatgut der Weinberge verging. Der es aber doch tat, sah die Fehler im teuflischen Licht.“

Der Weinkeller (Brunswick 2)

So viele Räume, die er sich noch nicht angesehen hatte, weil er keine Zeit dafür erübrigen konnte, in fremnde Vergangenheiten einzudringen, die er nicht selbst zu wählen imstande war. Manchmal war er neugierig auf das, was ihm dort begegnen könnte, meistens kannte er die dunklen und schlammbespritzten Seelenhaine jedoch schon längst und er wollte nicht entdeckt werden. Je länger die Geister nichts von seinem Aufenthalt in diesem gebäude wussten, desto weniger bestand die Gefahr, sich ein neues Versteck suchen zu müssen.

Mit seinen Fingern zeichnete er etwas in den wallenden Zigarettenrauch. Die Worte würden einige Tage dort stehen bleiben, dann langsam verblassen und schließlich im Mauerwerk verschwinden. Da sie nur als Gedächtnisstütze dienten, reichte die Zeit aus. natürlich wusste Egon, dass es fahrlässig war, auch nur Teile seiner Gedanken in den Ziegeln archiviert zu wissen, aber so weit er das durchschauen konnte, legten sich seine Worte anonym zu den anderen, die schon seit Jahrhunderten dort verweilten, und niemand fragte je nach ihrer Herkunft.

Er schrieb: „Es gibt noch einen zweiten Keller. Sieh‘ doch bitte mal nach, wohin der führt.“
Vor ihm tanzten die Schwaden, die nicht gebraucht wurden, einen langsamen Walzer, der sich bei genauerem Hinsehen als Ländler entpuppte, er könnte also noch viel mehr schreiben, aber an den Rest konnte er sich auch so erinnern. Den zweiten Keller vergaß er nur deshalb ein jedes Mal, weil er im ersten stets vor dem Weinregal einschlief. Er gestattete sich, die Etiketten auf den unzähligen Flaschen so lange zu studieren, bis ihm die Augen zufielen, denn natürlich wollte er wissen, was er da trank. Was ihn wirklich ermüdete war nicht etwa der Suff, sondern der Werdegang einer jeden Traube, die ihm davon erzählte, was sie aufregendes in den Weinbergen erlebt hatte. das war meist nicht viel, aber einmal hatte ihm gleich eine ganze Flasche von einem heimtückischen Mord an einem geheimnisvollen Mädchen erzählt. Den Wein selbst konnte man nicht mehr trinken, aber er hörte bis zum Morgengrauen zu. Und als er einschlief, blieben seine Albträume aus. Das war der Grund, warum er den Fall, der 25 Jahre zurück lag, nicht lösen konnte.

Am nächsten Tag nahm er die Flasche mit nach oben, rief mit seinem blauen Telefon im Präsidium an und sagte: „Ich habe hier eine Zeugin zu Gast, die vor 25 Jahren einen Mord an einer Iva Kaminski beobachtet hat.“
„Ich notiere mir gerade den Namen. Die Zeugin solltest du allerdings so schnell wie möglich mitbringen; mich wundert, dass du vorher anrufst.“
„Das hat einen Grund“, sagte Brunswick, zögerte aber nicht, Frank, der Forelle auch sogleich besagtes Manko zu schildern: „Das Problem ist, dass es sich bei dieser Zeugin um eine Weinflasche handelt.“

Die Villa (Brunswick 1)

Er stand auf der heruntergekommenen Plattform seiner Veranda und rauchte, während er in die Nacht hinaus blickte. Sein Blick fing keine noch so geringe Bewegung ein, es war windstill. Und es war spät. Hinter ihm tanzten die Rauchwolken durch die geöffnete Glastür und bauten sich hinter ihm auf, bevor sie sich mit der Nacht verbanden und den Anschein erweckten, als wären sie Teile des Nebels, der hinter den Brombeerbüschen den Fluss bedeckte. Egon rauchte gerade in den Nächten zu viel, wenn er gerade aufgeschreckt war, einem neuerlichen Albtraum entkommen und mit einem dünnen Schweißfilm überzogen, den er stets in der kühlen Nachtluft trocknen ließ.

Heute waren es die Mägen im Innern der Erde, die ihm den Schlaf geraubt hatten, grüngelbe Seen voller zersetzender Säure und darin eingetauchtes Fleisch, das sich zappelnd wehrte.

All das musste so bald wie möglich aufhören, auch wenn er mittlerweile einen Umgang mit den nächtlichen surrealen Landschaften seines Unterbewusstseins gefunden hatte. Er brachte ihnen Interesse entgegen. Er bot ihnen an, die Werkstatt ihrer ausufernden Kreativität zu sein, wenn sie ihn nur schlafen ließen, wohlwissend, dass es sich bei seinem Vorschlag um einen Interessenkonflikt handelte. Er durchpflügte die Dunkelheit mit seinen Augen und dachte daran, dass auch dort draußen das Ungewisse lauerte. Er konnte es zwar gerade nicht sehen, aber wenn er hinaus ginge, würde er in einen Mahlstromm stürzen und möglicherwese genau dort landen, wovon er geträumt hatte. Es konnte zu jeder Zeit alles geschehen und sich dann wieder zurückziehen. Träume hinterließen keine sichtbaren Spuren, aber die Welt um ihn herum tat dies um so mehr. Hier gab es so viele Spuren, die sich kreuzten, widersprachen, in ihrer Fülle unbegreiflich waren, dass es jenen, die diese Spuren nicht lesen konnten, so schien, als wären überhaupt keine Spuren vorhanden.

Doch Egon benötigte die Albträume auch. Sie waren seine Verbindung zur Vergangenheit; andere Spuren, die zwar flüchtiger waren als Fußabdrücke, Briefe, Scherben oder andere Hinterlassenschaften, dafür aber die Verbindungen zwischen den Dingen besser demonstrierten.

Und dennoch hatte sein Weg von einer Niederlage zur nächsten geführt. Er stand immer nur da und erfühlte die Atmosphäre, in der sich viele Jahrhunderte kulminierten, wo er doch den Ort untersuchen solte, um durch Beweise einen Ablauf rekonstruieren zu können.

Die Villa hinter ihm ächzte. Dass es sich bei ihr um ein Spukhaus handelte, erleichterte die Sache in vielerlei Hinsicht. Niemand würde ihn freiwillig hier aufsuchen. Die meisten Nachbarn wussten gar nicht, dass sie existierte. Einmal wurde er gefragt, woher er käme und er sagte: „Aus der alten Villa“.

„Ich dachte, die hätte man schon länsgt abgerissen“, war die Antwort, die stellvertretend für andere stand. Und vielleicht hatten sie recht. Es gab keine Villa für sie. Er war der einzige, der sich hier aufhalten konnte, hier in der Vergangenheit, einer ruhigen Zone in den Falten der Zeit. Und die Albträume sagten ihm, wohin er als nächstes gehen musste.

Nur ein Haus kann uns trennen

Ich konnte das Haus nur sehen, wenn ich schlief.
Doch näherkommen konnte ich auch dann nicht.
Ich versuchte es in jedem Tempo und sogar
rückwärts schlug ich aus, aber es war jedes mal vergeblich.
Ich fragte mich, wo das Haus wohl stehen mochte, warum es
mich zu sich zog, wenn es doch nicht zuließ, ihm zu nahe zu kommen,

aber alle Antworten darauf stammten von mir selbst. Es gab
darunter keine Stimme, der ich vertraute,
weil all die Häuserstimmen, die ich in mir trug, für sich sprechen wollten.
Räume schlagen Falten, aber ich habe noch nie jemanden gesehen,
der diese Falten gerade rücken könnte in der Hoffnung,
danach wäre alles wieder ordentlich wie ein Sonnenzimmer,

das man seinen Gästen zumuten kann. Der Staub einer Woche
zum Fenster hinaus gejagt, alles an seinem Platz.
Vielleicht war das Haus nicht für mich bestimmt
und ich konnte es deshalb nur von einer gewissen Entfernung aus betrachten.
Aber ich spürte, dass sich etwas Bedeutendes in seinem Innern abspielte
und hätte viel dafür gegeben, zumindest durch die Fenster sehen zu können.

Bestimmt hätte ich etwas gesehen, das ich nicht verstand.
Im Grunde ist es nicht notwendig, sich vollständig an ein Ereignis zu erinnern.
Herausgelöst aus den großen Kontenten,
kann man es hinter der richtigen Falte im Raum für sich
betrachten und studieren, auch wenn man nur Symbole erkennt:
Haar, das sich wie wildes Heu bewegt, eine Tänzerin,

deren Gesicht nie zu sehen war, schwarze Magie
hat sich ihrer Glieder bedient, dabei war es nur ein Blues,
ein Vorgeschmack auf die gedankliche Ödnis, die auf
ein verlorenes Ereignis folgt. Man spricht, man tollt
und gleitet aus dem Bild, dem man Beobachter war
und für sich ein Dirigent; auch wiederholt man

seine Erwartungen und ist in manchen Dingen der letzte Geist,
der sich an eine Beschreibung wagt. All das würde ich
durch die Fenster des Hauses sehen können, denn es wäre
kein Hineinblicken in verborgene Kammern, auf halbdunkles Mobiliar,
es befände sich ein gestauchtes Theater dahinter und nichts im
Innern könnte den Voyeur vor der Fassade erkennen oder gar identifizieren.

Er wäre gar nicht da.
Diesen Eindruck kann ich nicht von mir wenden,
aber ich freue mich auf jeden neuen Schlaf,
auf dieses Haus, das ich umkreisen, aber nicht betreten kann.

Watt

Es war nicht nötig, diesen Koffern in den Schrank zu stellen, wo er
umgefallen wäre, weil das Möbel nicht im Lot steht. Es konnte niemand
zu uns hinauf gelangen, nicht ohne von den Federn berührt zu werden,
die unablässig aus den Wänden sprossen und sich auch von Gemeinheiten
nicht in ihrem Wachstum gefährdet sahen. Es gab andere, die von den
Wänden troffen als ein Schauspiel natürlicher Präsenz. Die Himmelsrichtung
spielte dabei keine so große Rolle. Am Tag zuvor war das anders gewesen.

Käme es darauf an, könnten wir uns zur Ruhe begeben,
die erwartete Ankunft fände dann jedoch nicht statt.

Sie übten den Katzengesang, aber die Wege waren samt und sonders
verschüttet. Die Kreise veränderten sich und wurden blau.

Was ist das für ein Material? Es hat diese Geräusche schon
vorher gegeben. Daraufhin folgten Schritte.

Ich hätte sie gerne an den Haaren herbeigezogen, aber sie verschwand
noch bevor die Turmuhr zu jaulen begann. Ein ungemütlicher
Teil von mir sank plötzlich ab und verharrte in der Schräge.
Schatullen von unermesslichem Wert standen dort, die Öffnungen
auf ein Ziel fixiert, das gleich aus den Wolken stürzen musste.

Am stillen Klavier

Mir wäre nur eine Richtung gangbar, eine,
die davon führt, worüber wir jüngst sprachen.
Der Ausgangspunkt darf durchaus diese Kreuzung sein
mit ihren Irrtümern, ihrem Wagemut, sich
in ein Zentrum zu setzen, ihren falschen Wegweisern.

Es wird nicht alles von einer vagen Größe bestimmt,
nicht alles in eine dafür vorgesehene Kammer sortiert,
aber sollte es je so weit kommen, dürften die
Kadenzen auch an dieser Stelle messbar sein.
Der Ordnung halber rolle ich die Wege besser zusammen.

„Das nennt man den Ton studieren“, sagst du
und stehst an diesem stillen Klavier, das
stets auf deinen Fingern spielte, wenn nur genügend
Gäste gekommen waren, um mich etwas zu fragen,
das du dann beantworten musstest.

In all den Jahren ist mir die Zeit nicht so sehr
abhanden gekommen wie unter den Fittichen der tauben Frau.
Ihr prächtiges Kleid hatte sie sich nur geliehen,
aber die Reue in ihrem Gesicht gehörte ihr ganz.
Sie zog all ihre Schatten alleine groß.

Vom Nährkorb

Während ich noch sprach, machte sich das Heu davon
und kehrte nicht mehr wieder. Die erste Spinne auf
meinem Leib: von da an war ich immun gegen die
vielen Prüfungen, die oft nicht von Begegnungen
zu unterscheiden waren, die man heimlich zu vergessen
trachtet, während ihr Gewicht die Hosentaschen
täglich aufs Neue gen Boden zieht.

Ich will sogleich ein Beispiel aus meinem Nährkorb nennen:

Da war – mit Stumpf und Stiel – ich
einst gefangen in den Büschen, die hier gar nicht
wuchsen, so dass ein Sucher mich niemals hätte
finden können und auch die Tanten nicht, denen
ich, und ihrem Kaffeekränzchen, ausgehuscht zur
Stunde Sechzehn, mich verlor in den Weiten
nicht der geringsten Ausdehnung.

An diesem Punkte Null blieb Null nicht ein Oval,
durch das ich hätte schlüpfen können,
sondern mein ganzundgares Körbchen.

Zeit löffelt ein anderer

Mit angewinkelten Beinen sitzt das Fräulein in der Luft –
Eine Herkulesaufgabe des erstarrten Seins
Eine filigrane Figur / ein stehendes Massiv
Aber fein wie Uhren nicht im Innern
Wie sonst kein Laut der Gegenwart

So leise also wie kein Vergleich sich finden-beforschen lässt
Von der Halbzeit nur ein Viertel
Im Tran also tranig Zuhörerzuseher
Das Fräulein ganz wie eingefroren
Zeit löffelt ein Anderer der es nötiger hat

Im Suhlbecken zuvielt / so viel wie keiner mehr weiß
Ich nahm noch meinen Rückenstab
Da bauzt schon neuer Zorn heran
Spült von der Decke Obenartiges in all die runden Augen
Das Fräulein noch am Nichtstun

Das Karamellgestrüpp

Die fürchterliche Trauer über ein vergangenes
Tonikum erstrahlt so viele Schritte weit im Westen;
die Fesseln tragen die Schuld an der vorübergehenden
Bewegungslosigkeit, die so gar nicht beabsichtigt war.
Jemand nennt das Spektakel beim Namen, weiß
aber den genauen Wortlaut nicht mehr, so dass sich
ein zufälliger Reim ergibt, der alles geändert hätte,
befänden wir uns auch nur ein Stäubchen weiter links.

Am Kostüm der Felsformation ändert sich nichts. Die
Mineralien treiben nahtlos wie am ersten Tag, und nur die
Höhlen, die wir im Dunst nicht erkennen, haben die
Kommunikation bereits eingestellt. Es wäre zumindest denkbar,
einen weiteren Schritt zu tun, ohne Schirm, ohne Schranken.
Ich sehe den Schlund noch vor mir, aber bäte man mich
um eine zuverlässige Beschreibung, würde ich lügen.
An diese sonderbare Aussicht wird man sich gewöhnen müssen.