Tote Stunden

Ich will – und wenn man nur lange genug still ist, kann man es hören – sprechen von Dingen, denen man mit Sprache kaum näher kommt. Aber das Schweigen ist so schwer. Die Welt würde sich im Schweigen auflösen, unförmig werden (und Form ist keineswegs als Ordnung zu verstehen), sie dringt durchaus dort hin, wo es zu schweigen lohnt. Aber man kommt stets wieder hervor, heraus und will sich versichern. Habe ich das sicher so erlebt? So sprachlos nämlich. Wie wenig das alles nützt, wenn man immer nur an Nutzen denkt. Ich finde indes mein nutzloses Leben ganz hervorragend; der Prototyp eines Lebens sollte als nutzlos zu bezeichnen sein.

Wenn man solitär ist, bringt man finstere Zeiten hinter sich und hat finstere Zeiten vor sich. Manchmal allerdings bemerkt man das nicht. Stellt man sich dann morgens (man muss vorher herausfinden, wann die Stadt ihre tote Stunde nimmt) um halb drei in einen weiß gekachelten Tunnel, der zum Bahnhof führt (Bahnhöfe sind die sehnsüchtigsten Gebäude, die es gibt), unter eine Neonröhre, so dass man auf die gegenüberliegende Kachelwand starren kann, wird man sich der ganzen Hässlichkeit des Augenblicks bewusst. Anschließend schlendere man noch etwas durch stille, finstere Häuserschluchten. Mitten auf der Straße ist gut, oder man sucht jene verrammelten Orte auf, die tagsüber äußerst belebt sind. Das sind Übungen, die dazu eignen, die eigene Fremdheit auf die Spitze zu treiben, die Sinne werden scharf wie Rasierklingen.

Unverständlichkeit

Versteht man sich als Dichter, als jemand, der sich in die Poesie versenkt, dann sollte es einem nicht zur Erzählung drängen. Die aber wird es vielleicht, nämlich dann, wenn sich die Bilderflut nicht mehr an Ort und Stelle halten lässt, wenn sie sich also Raum schaffen will, um den zeitlichen Nullpunkt zu überwinden. Vom Aspekt der Verdichtung gesehen, bedeutet dies aber gleichzeitig eine Verwässerung; es sei denn, man handhabt seine Texte wie Jean Paul. Das Verständliche ist in einer Erzählung oberstes Gebot. Was aber, wenn man etwas Unbegreifliches einfangen möchte? Ich selbst bin ebenso wenig verständlich wie die Welt, die ich vor langer Zeit vorgefunden habe.

Hexenkiel

Noch einmal wiederhole ich: Schwärzer als die Textur der Nacht schält sich ein Symbol aus der dunklen Leere.

Die Gesichter der Vergangenheit sind am besten dort aufgehoben, aber ich sehe sie manchmal auf den Straßen. Es könnte sein, dass sie mich gar nicht bemerken, wie ich zusammenfahre. Es könnte aber auch sein, dass ihre Blicke, die in eine völlig andere Richtung gehen, genau so platziert sind, dass ich denken könnte, eine Wahl zu haben, mich also nicht zu erkennen gebe. Der Vergangenheit kann man sich nicht offenbaren, eine gefährliche Begegnung ist das, die Zeit lässt nicht zu, dass man sich versöhnt.

Bilder sind nicht wirklich, sie sind nur eine Erscheinungsvariante. Das Szenario wird beherrscht von der Traumsubstanz. Ob ein Ding fest erscheint oder durchlässig ist, ist ganz und gar unerheblich.

Ein altes Cabaret

Die Veranda. Eine alte Kammer. Eine sinnlose auch. Aber ist es nicht so, dass man Dinge aus Gewohnheit ins Absurde fächert? So oft. Sie hatte viele Gesichter, diese Kammer, war aber stets nur Kladde. Nie ein Kontinuum, um mir zu entsprechen. Es ist die beste Weise, ins Nichts zu schreiben: nämlich überhaupt ins Nichts zu schreiben.

Schutz vor dem Autor

Es ist, wenn man über Bücher schreibt, nicht anderes,  als ob man über sich selbst schriebe; nur ein Vorwand zwischen sich und dem Gedanken, den man formuliert. Auch sucht man selbstverständlich sich selbst, wenn man nach Büchern sucht, die man zu lesen beabsichtigt. Man wartet auf ein Signal, eine Merkwürdigkeit, die aus einem selbst kommt. Bücher sind natürlich keine Lebewesen, auch wenn das ab und zu behauptet wird, sie können nichts leisten ohne unser Zutun, und was wir tun, ist ein Abgleich unserer Selbst mit dem, was ein anderer stellvertretend für uns gedacht hat. Im günstigsten Fall gibt es keine Distanz zwischen dem Leser und dem, der für ihn, unwissentlich, geschrieben hat. Es ist nie verkehrt, wenn der Autor, den man liest, bereits verstorben ist oder zumindest ganz und gar unerreichbar, weil er etwa auf einem anderen Kontinent lebt. Auf diese Weise kann man sich am besten vor ihm schützen und vor all dem, was er über uns weiß.

Das Unendlichkeitsprinzip

Mallarmé hat das Lesen immer wieder in ganz prägnanter Weise zum Thema gemacht. Er hat für die Poesie demonstrativ ein Geheimnis reklamiert und ihre Rezeption einer Extensivierung und Beschleunigung der Lektüre gegenübergestellt. Mallarmé kämpfte als Dichter auf verlorenem Posten um Resonanz bei einem bürgerlichen Publikum, das er bereits zu einem großen Teil an die Massenpresse und die wohlfeile Feuilletonliteratur verloren hatte. Er wies darauf hin, dass die Zweckorientiertheit eine ganz spezifische Lesehaltung einübe: die Sprache wird nur mehr als Instrument wahrgenommen und die Texte auf ihren Informationsgehalt reduziert. Dadurch würden Lesetechniken und Lesehaltungen verdrängt, die poetische Texte eigentlich fordern: ein Lesen, das den Zeitaufwand der Lektüre und ihren Nutzwert nicht gegeneinander aufrechnet, das das Geschriebene nicht auf einen konkreten Sinn hin festzunageln sucht und das einen gewissen Respekt der Sprache und dem eigenwilligen oder abseitigen sprachlichen Ausdruck gegenüber voraussetzt. Wer die Poesie liebt, könnte man folgern, hat Zeit.

Von hier aus gelängen wir schnell zu Borges, der einmal sagte, dass man sich ein Buch wie die Ilias oder die Komödie hernehmen und allein ein Leben mit der Lektüre dieses Buches zubringen könnte, weil darin alles enthalten sei. Das gilt natürlich insbesondere für die Lyrik Mallarmés.

In diesem kurzen Vorspiel zeigt sich die Romantik von ihrer stärksten Seite. Mallarmés hermetischer Symbolismus als auch Borges‘ „Unendlichkeitsprinzip“ tragen die aufgegangene Saat ins 20te Jahrhundert hinein, ausgehend davon nämlich, dass bereits Schlegel und Novalis einen Entwurf des Lesers einer romantischen, d.h. „unverständlichen“ Literatur durchaus auf Langsamkeit und Wiederholung anlegten. Freilich reagierte man hier mit einer Abgrenzung gegenüber der unüberschaubar gewordenen Buchproduktion mit der Forderung einer statarischen anstelle einer cursorischen Lektüre, in dem man diese zur Voraussetzung der erfolgreichen Entzifferung ihrer Texte erklärte. Bis zum heutigen Tage ist die im 18ten Jahrhundert beginnende Massenschwemme nicht zum Stillstand gekommen. Daher ist es keineswegs verwunderlich, dass diese Abgrenzung heute von einem zwar noch kleineren Kreis, dafür aber vehementer denn je – nicht wieder, sondern immer noch – ihr Recht einfordert.

Aber diese „Abgrenzung“, also der romantische Versuch, die Rationalisierungsschübe des ausgehenden 18ten Jahrhunderts – die Mechanik naturwissenschaftlicher Weltbilder sowie den analytischen Rationalismus der Philosophie – mit ganzheitlichen Vorstellungen zu überwinden, können vor diesem Hintergrund als Kompensationen verstanden werden. Trotz des bis heute nicht verklungenen Beharrens auf einem substantiellen Zusammenhang von Ich und Welt, Mikro- und Makrokosmos, Natur und Geschichte, darf man jedoch nicht vergessen, dass sich diese ästhetische Einheitsvision allenfalls mit der Kunst als Medium verwirklichen lässt. Man muss kaum erwähnen, dass, wenn diese „Einheit“ einer ästhetischen Differenz untersteht, dadurch bereits ein neuer Bruch auf den Fuß folgt – nämlich zwischen literarischer Differenz und erstrebter, aber immer nur momentan zu erreichender Identität.

Über 200 Jahre tobt bereits der Zweck gegen das Ganze. Der Grund, warum der Zweck so stark ist, liegt an seiner Massenorientierung und seiner völlig ausgereizten Effizienz. Dabei spielt es gar keine Rolle, ob dabei alles in die Katastrophe steuert, weil die Lügen- und Manipulationsmaschinerie der Materialisten reibungslos funktioniert, die uns zu Land, Wasser und in der Luft – und mittlerweile auch im Äther „unterhaltsame Durchhalteparolen“ rund um die Uhr liefern.

Der Hexenschuss am Abend

Es ist die dritte Nacht, in der mich die Poltergeister drangsalieren. Heute war es die Hexe mit ihrem Hexenschuss (wahrscheinlich habe ich mir einen Nerv im Steiß eingeklemmt), so dass ich bei jeder Drehung aufwachte. Als ich schließlich den Abort aufsuchen musste – ein Drang, der weißgott nicht zu ignorieren ist, will man überhaupt noch ein Auge zutun – kam ich nicht in die Höhe. Nach einer Viertelstunde hatte ich mich zumindest an der Bettkante aufgesetzt. Es gelang mir, mich in die Küche zu schleppen, um etwas Voltaren aufzutragen und siehe da, es wurde zumindest in der Weise erträglich, dass ich mich Bewegen konnte.

Tagsüber war davon überhaupt nichts zu spüren, das Flanieren über den Flohmarkt an der Allgäuhalle war sogar wieder sehr ertragreich. Drei Plattenstände abgegrast und bei jedem fündig geworden. Selbst Raritäten wie Larry Coryells The Restful Mind waren zu finden. Eine wirklich erstaunliche Entwicklung für Kempten.

Selbst ein kleines Spitzweg-Gemälde fand seinen Umschlag. Der gute alte Biedermeier-Stil – hier der „ewige Hochzeiter“, was ja nun wirklich kein unbekanntes Gemälde ist. Interessant ist die Rahmung, die aus alten österreichischen und schweizer Abbruchhäusern aus dem 16ten bis 19ten Jahrhundert rührt und zusammengesetzt wurde. Leider ist das Gemälde nicht komplett gefasst, sondern nur die Blumengabe an der Treppe. Natürlich ist ein Begriff so gut wie der andere; wenn man bedenkt, dass der Biedermeier vor dem „Realismus“ angesetzt war – eine Epoche, die im Grunde zur Verlogensten überhaupt gehörte (was der Name „Realismus“ ja schon aussagt), ist es kein Wunder, dass in permanenter Unstetigkeit ein Elysium aus Behaglichkeit auch heute noch bei empfänglichen Menschen durchschlägt, vor allem deshalb, weil sich heute mehr das Irrationale und völlig Menschenverachtende des Realismus durchgesetzt hat.

Neu in der Sammlung (2)

Blue-Note-Sammlung-Beginn

Es ist etwas wunderlich, wenn man bedenkt, wie lange ich schon Blue Note Recordings höre, dass erst jetzt die ersten Classic Vinyls eingetrudelt sind. Das liegt aber vor allem daran, dass ich all die Jahre hauptsächlich die Compact Disk bevorzugte. Bei einem HiFi-System gilt es darauf zu achten, es auf ein hauptsächliches Genre auszurichten, denn selbstverständlich kann man nur dann das Optimum erwarten. Bei dem bin ich noch nicht angelangt, aber tatsächlich spielen Raum, generelle Lautstärke eine weitere wesentliche Rolle. Das alles richtet sich jetzt nach dem Jazz der klassischen Blue Note, Verve, Prestige und Impuls-Ära. Vor allem habe ich es auf die legendäre 1500er Serie von Blue Note abgesehen, und die beginnt mit Miles Davis – Volume 1. Cool Struttin‘ von Sonny Clark ist Nummer 88, und Something Else von Cannonball Adderley die Nummer 95. Die Serie endet mit der Katalognummer 1600 im Jahr 1958.

Eric Dolphy mit Out to Lunch gehört bereits zur 4100er Serie und trägt die Nummer 4136. Die Serie startete 1962 mit Donald Byrd und endete mit Jimmy Smith 1965. Dexter Gordons Go gehört ebenfalls dieser Serie an mit der Nummer 4112 von 1962, wie auch Herbie Hancocks Maiden Voyage von 1965 mit der Katalognummer 4195.

Aufgrund der Verfügbarkeit ist es nicht einfach, erst einmal eine Serie komplett zu machen, insofern man das überhaupt beabsichtigt. Eine interessante Reise ist es aber allemal.

Neu in der Sammlung (1)

Ich hatte einst in den Tagebüchern eine Rubrik, die Neu in der Sammlung hieß. Damals waren es Bücher. Aber um ehrlich zu sein, könnte ich ein Haus mit all den Dingern bauen und denke, dass ich habe, was ich brauche. Im Keller und überall. Zweidrittel habe ich für gute Zwecke gespendet und noch immer weiß ich nicht, wohin mit all dem Zeug. Es ist vieles leichter, seit ich den Kindle bediene. Aber Musik… nun, Musik ist etwas anderes …

Schon im letzten Jahr war Albera herzhaft unterwegs. Da ging es noch vernehmlich um Compact Discs. Jüngst aber kümmern wir uns wieder etwas mehr um die Vinyl-Sparte. Tatsächlich läuft der Fisher wieder, justamente in jenem Augenblick, als er Gefahr lief, gegen einen Pro-Ject ausgetauscht zu werden. So bleibt das Budget also erst einmal in den Tonträgern selbst hängen. Nicht alles ist sammelbar (obwohl es das theoretisch natürlich wäre). Eine Spezialisierung halte ich dennoch für unumgänglich, also bleibt es bei Jazz, Fusion, Prog, Blues und Artverwandtem. Meine Blue-Note-Lieferung trifft erst in ein paar Tagen ein, aber sie, die sie immer das Wetter zwischen den Wasserböen nutzt, konnte es für sich nicht lassen. Es ist die Jagd. Wahrscheinlich ist es immer die Jagd. Wahrscheinlich sind wir alle Großwildjäger.

Cannonball Adderley

Traum vom Zahnarzt-Urinal

Zum Zahnarzt kam ich durch eine dünne, aber hohe Hintertür, die in einer billigen hellen Pappwand eingelassen war. Zunächst sah ich überall nackte Patienten auf Tragen und Tischen liegen, teils mit in die Höhe gereckten Extremitäten. Der Arzt erschien in Schweiß gebadet, mit fettigen Haaren und vollkommen übernächtigt.

Ich musste aufs Klo, betrat die Praxis also zunächst nicht, sondern das Damenklo, wo eine dicke Frau in der linken äußersten Kammer in einem schwarzen Kleid auf dem Boden lag und sich entleerte. Allerdings war nur ihr Arm zu sehen, der aus der Tür lugte. Ich pisste in ein Urinal, was in einem Damenklo merkwürdig fehl am Platze wirkte. Es erhob sich – aus braunem Sandstein – vor einem großen Schaufenster, an dem Leute auf der Straße vorbei gingen, die aber nicht ihren Kopf in meine Richtung wendeten. Später rutsche ich vom Dach, hielt mich fest und erinnerte mich, dass ich schon einmal da war, allerdings mit einem Freund, der mich wieder nach oben zog. Diesmal blieb mir nichts anderes übrig, als hinunterzuklettern. Ich wusste allerdings, dass es mir nicht gelingen und ich fallen würde.

Das Ende eines Plattenspielers

Der Fisher, dessen Direktantrieb seit 1979 rotiert, hat nun Schwierigkeiten bekommen, mitzuhalten. Was sich so belanglos anhört, ist nichts weiter als das Ende eines alten Plattenspielers, der jetzt einem Pro-Ject weichen muss. Sicher könnte ich mir eine alte Maschine zum Ausschlachten besorgen – was ich zunächst auch wollte; aber auch dieser Motor wird 40 Jahre auf dem Buckel haben, das Ende also nur verschleppt. Außerdem wird es ohnehin Zeit für ein Lift-Off. Das war all die Jahre nicht klar, aber es stehen einige Blue Note-Veröffentlichungen an, die ohne eine Verbesserung der ganzen Anlage kaum ihren Preis wert wären. Mehr später.

The Room’s Voice

Justamente als auf dem Flohmarkt einige Platten erstanden wurden (Ted Nugents Debüt, Wishbone Ashs Here’s The Rub, Frank Zappas Studio Tan, Led Zeppelins Houses of the Holy, und Eric Burdons War) trat der Motor meines Spielers beiseite und beschloss, sich der Zunft der Leierkastenmänner anzuschließen. Dafür gab es dann aber auch ein Regal, das fortan für das Jazz-Ensemble der CD-Sammlung einen güldenen Platz fand. Inklusive ob=aufes Froschvermählungs-Gespann.