Das war gestern, Helen

Geschrieben von A. Anders

Das war gestern, Helen, als sie die Kirche betraten. Kachektisch, bis zur Kanzel reichend waren sie, die sich inmitten der Messe von der Kuppel aus hernieder ließen, ohne dass sie Flügel gehabt hätten. Stattdessen wuchsen ihnen schmale blutsteinerne, sich zu den Enden hin tubisch aufweitende Röhren aus den Rücken, die in alle Himmelsrichtungen ausgerichtet waren. Ihre Augen, nichts als tiefschwarze Brunnen, in denen man, sah man genauer hin und kniff die eigenen zusammen, Sterne zittern sah. Ihre Köpfe waren von enormer Größe und erinnerten an die von Feten. Sie glichen einer dem anderen. Nur in ihren Häuten unterschieden sie sich, die zunächst von blässlich flimmernden Filamenten überzogen waren, als schwömmen sie in einer Art liquidem Äther, der sie umgab. Jedoch hoben die Filamente sich, sobald man sie, die nun unter uns waren, näher ansah. Es kamen weiche, opak schimmernde Hautflächen zum Vorschein. Sie waren tief und wie offene Fenster zum Himmel, in denen ein jeder wohl sah, was er sah. Denn jeder, obgleich es Mann, Frau oder Kind war, beschrieb etwas anderes, als man sich, als sie wieder fort waren, aufgeregt unterhielt. Kein einziges Wort hatten sie gesprochen, nur zu uns herabgesehen. Dann verließen sie die Kirche, duckten sich einer nach dem anderen unter dem großen Torbogen hindurch und traten hinaus. Fast erwarteten wir, dass sie in der Morgenhelle, die hier und da bereits zwischen den Wolken durchbrach, zu Staub zerfallen müssten. Doch das taten sie nicht. Sie stellten sich gleichmäßig verteilt auf dem Kirchenvorplatz wie ein Heer nach Osten hin auf. Sie verharrten. Manche von uns liefen, all ihren Mut zusammennehmend, unter sie, und erschraken sehr, als sie dort, wo eigentlich hätten Münder sitzen müssen, zuvor jedoch nichts war, weit klaffende Wunden erblickten, mit denen sie die Wolken am Himmel aufzehrten, bis nichts mehr war außer Licht, Helen. Das war gestern.

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Das Kleid

Geschrieben und gesprochen von A. Anders

Ich verdünnte Familienengel und andere Haushaltsgegenstände,
trug das elegante alte Kleid aus Mousseline-Pfannkuchen,
Schleier, Baumwolle, und Spitze aus den 1910er Jahren
mit ein paar Flecken aus dem Mittelalter.

Wie sie sehen können, ist es sehr auffällig!

Das Kleid wird mit einem seitlichen Reißverschluss befestigt,
der Gürtel ist aus schwarzem Seidensamt
mit schönen warmen Blumen.

Hier habe ich das Kleid mit den Mägen zusammengenäht.
Es kann rückgängig gemacht werden: mit einer Prise
LIVE-Moosschlösser aus Neuengland.

Dieses Kleid wird Köpfe drehen!

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Wohlan, ihr Dronkardes!

Im Egertal ziemte sich die dem Buche ›A delicate Diet for daintie mouthed Dronkardes, wherin the fowle Abuse of common carowsing and quaffing with hartie Draughtes is honestile admonished‹ (erschienen 1576) entnommene Klassifizierung der unterschiedlichen Räusche und deren Träger. Da gab es Menschen, die soviel soffen, dass sie dann affentrunken waren und hin und her tanzten. Andere waren löwentrunken, schmissen mit Porzellan und Zinnkrügen um sich, nannten ihre Wirtin eine verdammte Hure und zerschmetterten die Fensterscheiben mit dem Dolch. Es würde geben einen Sturm in dieser Nacht. Wieder andere waren schweinetrunken. Sie wälzten sich auf dem Boden, lallten, dass sie noch mehr zu trinken wünschten und besudelten ihre Kleider. Dann gab es solche, die schlaftrunken waren. Sie 1verzapften den größten Blödsinn als der Weisheit letzter Schluss, obwohl sie kaum noch ein vernünftiges Wort hervorbringen konnten. Besonders übel waren jene, die der Autor des Kompendiums bockstrunken nannte. Wenn diese richtig vollgesoffen waren, hatten sie nur Bocksgelüste und mochten auf jede Frau springen, die das Pech hatte, in der Nähe ihrer Hosenknöpfe zu sein. Andere wieder waren fuchstrunken. Nur in diesem Zustand waren sie bereit und fähig, Geschäfte abzuschließen, wobei sie ihren – natürlich auch besoffenen – Partner listig übers Ohr hauten. Im Egertal waren all diese Typen zu beobachten. Bliebe noch die Rede vom Scharfen Eck, das sich am anderen Ende der langgezogenen Straße, kurz vor der Auffahrt zur Bundesstraße Richtung Selb oder Marktredwitz befand, wo es einen abschüssigen Fußballplatz gab, der ein Lieblingsplatz der Maulwürfe war, etwas stiefmütterlich und für unsere Geschichte nicht relevant.

Hier gab es, Rausch hin, Rausch her, zumindest keine betrügerischen Wirte, die nach ihrem Tod in ihren Kneipen als Poltergeist, Werwolf, Alp und Trude, Zaunreiterin oder Hagazussa (die vom Hag) umgehend mussten, von einem universellen Schicksal dazu aufgefordert, es gab keine Herbaria, die sagt: »Bei den Zauberfrauen sollst du nicht zärtlich schlafen, dass dich eine nicht innig umarmt. Sie wünscht sonst dir an, dass du weder zum Schranne noch zum Königshof kommst, dir mundet kein Mahl nach der Mannesfreude, du gehst schlafen voll Schmerz.«

Aber die verstreuten Spuren wandernder Sippen und Einzelgänger lassen nach und die Zeiten menschlicher Anwesenheit wurden abgelöst von solcher völliger Öde und Wildnis. Einer von vielen rätselhaften Begriffen hat sich jedoch aus vorgermanischer Zeit bis heute erhalten: ›Agara‹, einer der in alle vier Himmelsrichtungen davoneilenden Lebensquellen, die hier entspringen: Die Eger.

1habent sua fata libelli

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Buch Cafè, CH

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Gasthof zum Schwarzen Hammer

Ich habe doch stets alles nur geträumt, im Kinderwagen, ich möchte sagen, da war ich bereits wach wie in einem Traum, und ich lag gebettet in himmelblaues Strickzeug an einem weinroten Dienstag, wie ein Rubin kletterte der Himmel über Köpfe. Von 198 Seelen 21 Schüler, 94 Frauen, ich das achte Kleinkind, die achte Feier, denn die Dämmerung dickwandiger Keller sorgte im Gasthof zum Schwarzen Hammer für ein Gefühl der Sicherheit und hielt die Atmosphäre der nahegelegenen Fässer und deren Tausend guter Trünke zusammen. Es gab genügend Licht, um den Sonnentropfen im Becher schweben zu sehen; nicht zu viel, damit das Auge nicht das Übergewicht erhielt über die Nase, die an der Blume saugt, vorsichtig genähert, tastend, leise gestrafft.

Garnieren wir uns mit der Substanz des Mahles, elefantengrau der Schlamm der Knochen. Augen sind rankend sich selbst überlassen und betrachten Faschingstänze und andere Festivitäten, eine Brücke zur Außenwelt.

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Fress-Flanke

Früh zermürbte uns der Druck, der die Seele der Familie bereits fremd machte. Wir durften nicht einmal in unserem Zimmer in die Hose scheißen und die Kackwürste dann unter das Bett werfen. Darob hab ich mir erneut an der linken Fress-Flanke, die den Kopf meint, einen Zug bei nachtoffenem Fenster geholt. Leicht nur; diesmal wirbelts von der Schläfe herunter. Beete klavierte seine fünfte tags und nachts. Mein Mantel entleimt sich und muss eventuell gegen ein neues Exemplar weichen.

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Mythos eines Gesangs

Fingst immer die Blicke ein und konserviertest sie in deinen leeren Zimmern, das gesehen, was du nicht sehen konntest: Farben, die nicht mehr deine Einrichtung beschämen. Zu deinen Füßen der Schaum aller Herbergen, invertiertes Moos. Die Korona der konservierten Rufe verbleibt im Garten.

»Kommt Hände waschen!«

Aber wozu die Zeit benagen? Bist wie das Haus in New Orleans oder das kalifornische Hotel, der Mythos eines Gesangs.

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