Sitwell nicht zu übersetzen

Von einigem Interesse scheint mir zu sein, dass jene, die sich gegenwärtig ins Nichts zurückgezogen haben, auch in der Vergangenheit tot sind. Es wäre leicht zu beweisen, uns aber fehlt die Finesse, die Vergangenheit durch unser Schattenauge losgelöst anzusehen, weshalb wir sie überhaupt erst erfinden. In der Erfindung sind wir lebensklug, wenn nicht gerade akribisch darin, jedes Teilchen dorthin zu legen, wo es zwar nie gewesen sich für unsere heutigen Augen gut ausmacht.

Kurz zog ich in Erwägung, einige Gedichte von Edith Sitwell zu übersetzen, aber von derartigen Vorhaben muss ich Abstand nehmen, das wurde mir bereits bei Eric Basso klar, dem ich dasselbe Vorhaben zukommen lassen wollte. Sitwell und Basso sind nun nicht miteinander zu vergleichen. Ich erwähne sie nur in einem gemeinsamen Satz, weil sie mich persönlich vor die gleichen Probleme des Mikrokosmos stellen, dem ich selbst genug schon zuarbeite, als dass ich durch Übersetzung eine neue Position einnehmen könnte.

Edith Sitwell war das ultimative Schaustück der Exzentrikerin in einer Zeit, die überdurchschnittlich viele davon hervorbrachte. Das mag daran liegen, dass sie aus einer notorisch exzentrischen Familie stammte – einer Familie, zu der eine Mutter gehörte, die wegen Betrugs im Holloway-Gefängnis saß, und ein Vater, der eine kurze Geschichte der Gabel und eine Geschichte der Kälte publizierte und eine Pistole zum Erschießen von Wespen erfand. Sie ging weit über das Bild der schrulligen, aber liebenswürdigen Landedelfrau hinaus.

In erster Linie war Sitwell natürlich eine Dichterin, eine Säule des künstlerischen Lebens in London und verkörperte eine heute allgemein unterrepräsentierte Seite der Moderne. „Guter Geschmack ist das schlimmste Laster, das je erfunden wurde“, sagte sie, stets im Widerspruch zu den herrschenden Geschmacksvorbildern, ob diese nun dem Establishment oder der Avantgarde angehörten.

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Das forschende Licht blinder Augen

In das vor den Stadttoren beginnende wallende Brachland einen Fuß zu setzen, ist nicht unmöglich, aber unbesonnen, denn dort nistet das Unheil, das von den Ausscheidungen der Steppengeister angesteckt in den Disteln laicht, die gelernt haben, ihre Dornen harmlos aussehen zu lassen, um dann mit irrwitziger Geschwindigkeit sich in das ungeschützte Etwas zu haken. Hier liegt das letzte Lästerland, und seine Kreaturen mutieren in den Köpfen der Reisenden und der hinter den Felsbrocken Verschanzten. Wohin die Reise geht, entscheidet sich in Träumen.

Das forschende Licht blinder Augen. Was derart wirklich über uns hingeistert sind Puppen-Tätigkeiten, das ganze Gewirr der Welt ein falsches Tun und Stümpern, keine Fakultät ohne niederste Saukunde, alles ringsum aufgemästet mit der widerwärtigsten Tortur des Lebendig-Losen, so dass ich mich frage: Wann starb der letzte Mensch und lebt vielleicht noch einer?

Warmer Wind fährt auf den Mauern, von oben herab glotzen Kälber auf den Zuritt und wissen nicht genau, wann sie zu lauten haben, denn auch sie erblicken nur den gestaltlosen Morast, der am Horizont nach hinten kippt, wo gleich einer auftaucht, der die Brunnen mit sich selbst vergiftet.

Es käme uns sicherer vor, in den Taschen zu forschen, in ihnen zu wühlen wie in einem Fleischkoben, ausgenommen von goldenen Forken aus dem Archiv der Schmuckschatullen des Schlosses. Was auf dem Tisch ausgebreitet werden wird, sollte nur mit dem Kinn über der Schulter besehen werden, mit dem Rücken zum daliegenden Torso, den Fußspitzen zur Tür (geöffnet ist sie eine Wucht gegen ritterliche Gebaren). Neid ungeschmeichelt die Flanken der übrigen Pferde, das Gift nähert sich auch durch die Luft.

Der Schatten nähert sich mit seinem Auslöser; keine Armee, die anrückt; das Wurzelwerk aller Tage und aller Nächte, noch zu weit entfernt, um die Unruhe zu einer Symphonie werden zu lassen. Doch er wird nichts anderes tun, als sich in jeden Bach, in jedes Rinnsal zu legen, zickzackicht, leise. Die grauen Torturen seiner Haut, die lotternden Schritte, das Kapital der Verrücktheit. Jetzt löst sich der Schatten, denn er will allein sein. Unter der Himmelsuppe keimt die Wildnis aufs Neue, rennt an gegen den schmatzenden Untergang. Wie viele Tage passen in einen Stundengang? Jetzt ist die Rache eine Bilderflut leerer Momente. Er würde sich in Bewegung setzen, um den Brunnen zu erreichen, aber er denkt sich ein blasses Kleid, das ihn beherbergt – und es ward, doch der Schatten trägt es. Ihn kleidete all das Verborgene, doch in diesem Gedankenstaat ist er weithin sichtbar, so dass die Kälber beginnen zu lauten. Pech fällt vom Himmel, aber nie hat eine schwarze Melange sich selbst das Fleisch von den Knochen geschält. Die Schritte verdampfen und können auch Jahrhunderte später nicht mehr rekonstruiert werden. Die Mauern verglühen und vor dem Fiebermann liegt der ersehnte Brunnen, die Wände hinunter kriecht er bar jeder Behinderung durch die Schwerkraft.

Schnabelratten krümmen sich in von der Wolle angereicherten Pfützen tiefer Kavernen; ihre tränenden, flitzlichtigen Augen registrieren die Ankunft einer willkommenen Entität und zersetzen die liebkosende Fäulnis unter ihren Bäuchen etwas langsamer als zuvor. Das Inner-Unterste bläht sich zu einer neuen Welt. Besprechen wir das ferne Geistern. Komm, besprechen wir das Wesen der Furcht; komm, wir verändern die Ansicht über die Worte, die Lautverschiebung der Zaubersprüche, die der Schlot, der aus deinem Kopfe ragt, weht durch entsetzlichen Gestank! Setzʼ dich zu uns und entschlüpfe deiner Haut! Wir beschreiben sie aufʼs Neue für dich, Fremdling, Todesbote!

Hirngedanken abgestaubt. Im Biss der Ruin, im Tanz die Wandlung der Fortbewegung. Im Entstehen deiner Sprache, die, aufgesaugt, eine fremde Transzendenz erfährt. Zwischen den Totenbarken wurdest du erschaffen durch Absonderung und Leid. Jetzt schlürfst du aus unserer Pfütze, dein Schatten aber durchdringt warnend die Bauwerke und befielt den Gespenstern, mit ihnen zu kommen. Todesbote! Bringer eines Anderen Todes, krüppelkleines Wehwehchen, verweile! Kälber rotzen von den Scharten und weihen damit die Passion deines abgestellten Herzens. Ich bin mit mir im Reinen, den Ratten, den Schatten, den bösen Wassern der Kavernen.

Deine vorbildliche Wut. Ich kenne deine Knoten. Bleibt ein Abbild von jeder erdenklichen Welt, ein Katarakt der Tragödien, in einem einzigen Brunnen gefangen, der dann die Welt mit seinen Wassern umspülte? Lose hängen die Staubwände von den Simsen, die herrenlosen Kälber tölpeln durch zerbrochene Fluchten, die Zierde ewiger Ausschau. Jetzt greift der Fiebermann absichtsvoll nach den Erzählungen seiner Furcht, sammelt seine Schwäche in den vorgewölbten Händen und lässt sie für immer los. Hinter ihm wiegt sich das Neuland vor den Bergen, die er nie besucht. Unser glückloses Schwärmen, in Bechern gehalten, flieht vor unserem Durst.

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Das Jenseits im Nebel

Ich könnte singen von den unheilvollen und drohenden Dingen, den toten und vergessenen. Doch werde ich je wieder reisen durch den vom Wahnsinn gelb gefärbten Nebel des Vergessens, zu den Gestaden fremder Wirklichkeit? Fände ich überhaupt den Weg zurück, der mir damals so zufällig erschien wie einst Rip van Winkle sich über das Auftauchen einer flämischen Gesellschaft verwunderte? Mir selbst wurden keine Jahrzehnte durch einen sonderbaren Schnaps gestohlen, noch nicht einmal Jahre, aber von den merkwürdigen Festen wie in den Tiefen des verhängnisvollen Venusbergs könnte auch ich berichten. Doch wüsste ich nie zu sagen, was sich daran mit mit meinen halluzinatorischen Träumen mischte, denn eines ist mir klar geworden: Es gibt unterschiedliche Arten des nächtlichen Gespinstes und mindestens eines davon eröffnet uns das Jenseits mit seiner unendlichen Weite. Es ist für mich gar nicht ausgeschlossen, dass, sobald wir unserer so stabiles Sternensystem verlassen würden, wir auch außerhalb unserer fleißigen Schlaftätigkeiten dorthin gelangen könnten, allein deshalb, weil wir unsere Körper nicht behalten dürften und stürben; d.h., es stürbe das, was wir in unserer Welt so sehr benötigen, und wenn wir es verlieren, geistern wir umher, unfähig, weiter zu träumen, weil wir in einem derartigen Zustand schlicht all unsere Erinnerungen für einen Traum halten. So nötig haben wir den Schutzschild der Materie, dass wir um seinen Verlust so sehr bangen wie um nichts anderes. Es mag sein, dass wir die Geister deshalb fürchten. Sie zeigen uns, dass wir auch im Tode nicht entkommen können und endlos weiterspielen müssen. Sie zeigen uns durch ihre finsteren Auftritte, wie wichtig die Wiederholung ist und wie sich eben alles so lange wiederholt, bis das Wort Ewigkeit seine Berechtigung erlangt.

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Der Leser: Grass an der König Ludwig-Brücke, Kempten

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Merkwürdige Objekte

Eine sonderbare Stimmung hatte ihn bereits seit dem frühen Morgen fest im Griff, einige Stunden, bevor das Tagebuch seines Freundes eintraf. Als der Briefträger dann seine dürren Arme in den Postsack steckte, um in einer aufgenähten Seitentasche zu wühlen, in der die Sendungen für die Straße, in der Adam lebte, schlummerten, war das Gefühl der Unausweichlichkeit derart stark in seiner Magengegend zu spüren, dass er am liebsten davongerannt wäre. Ein gewisses Maß an Etikette ließ ihn hinter dem Gartenzaun die Hand ausstrecken, um zu empfangen, was der Bote für ihn hatte.

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Der Leser: Carlos Onetti auf der Boleite-Treppe, Kempten

(c) A. Anders
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Voluntas

Großer Wille, Du hast Dich verfangen in vieler Worte Schalen.
Und hast Dich, wie ein stürzendes Kind, selbst aufgefangen.
Trotz und Trutz zeugen noch von Deiner Abkunft
es stehen dort die Truhen offen, und in den Räumen der Miniatur
passt kaum der Rest Deines Scheins,
zurückgelassen vor Jahrhunderten,
um Stille zu zeugen und um alle hohen Lichter zu verschwenden.

Es sollten Tage werden, doch es wurden Ställe;
es sollten Tropfen werden, doch es wurde nur
der Keim einer neuen Generation,
eingefasst in die wilden Knochenröhren
der Unausweichlichkeit, der samtenen Stoffe,
die von Deinen Schultern fallen.

Das Orakel spricht mit Nebel in den Lungen:
Die Hochzeit des Gewesenen
in Reim und Seim – ein Laut nur
verändert Dich auf deinen Wegen,
Verkünder einer neuen Liebe, die tief
in dunkle Höhlen führt; verkommen
sind längst die letzten Ruhestätten, dort
siehst Du Dich nicht mehr, du siehst
nur aufgetürmt den Schutt,
den die Erde nicht verspeiste.

Ich stürze von den Klippen und begegne Dir,
doch nichts wird mich daran erinnern,
wie es wirklich war.

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