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Lou Reed

Ein perfekter Tag: Transformer von LOU REED

1972 befand sich Lou Reed an einem Scheideweg. Zwei Jahre zuvor hatte er mit The Velvet Underground eine der bahnbrechendsten Rock-Bands aller Zeiten verlassen und musste nun heftige öffentliche und kommerzielle Kritik einstecken, weil sein erstes Soloalbum ein Flop war – einer Sammlung von älteren Outtakes seiner ehemaligen Band, dem es an der thematischen Brillanz seiner besten Arbeiten mangelte.

In Großbritannien hatte jedoch ein neues Phänomen die Oberhand gewonnen: Glam Rock. Eine Bewegung, die Elemente des rebellischen Charakters des Punk aufnahm, aber mit Pailletten und Androgynität versah. Eine Bewegung, die sich außerdem stark auf den Einfluss von Velvet Underground stützte.

Neben Marc Bolan von T-Rex war David Bowie, der gerade The Rise And Fall of Ziggy Stardust veröffentlicht hatte, vielleicht derjenige, der seine Liebe zu Reed am deutlichsten zum Ausdruck brachte. Bowie hatte sogar den aus Reeds Feder stammenden VU-Song White Light/White Heat in die Ziggy-Stardust-Tour einbezogen. Als Reed sich an Bowie wandte, um ihm bei der Gestaltung seiner neuen Richtung zu helfen, übernahm Bowie – zusammen mit seinem Gitarristen Mick Ronson – die Produktion des vielleicht erfolgreichsten Albums von Reeds gesamter Karriere, Transformer. In vielerlei Hinsicht war dies ein mutiger Schritt von Reed, wenn man bedenkt, dass es noch einmal mehr als fünf Jahre dauern würde, bis Bowie die Produktion des kommerziell erfolgreichen Lust For Life-Projekts von Iggy Pop übernehmen konnte, und dass er zu diesem Zeitpunkt noch keine Produktionserfolge vorzuweisen hatte, die über die Co-Produktion seiner eigenen Platten hinausgingen.

Obwohl das Album in jeder Hinsicht mit New York verbunden ist, mit seiner unglaublichen Kultur und der Vielfalt an Menschen aus allen Gesellschaftsschichten, wurde es ironischerweise in den Trident Studios in London aufgenommen, und zwar auf Wunsch von Bowie, nachdem dort auch die Aufnahmen zu seinen eigenen Alben Hunky Dory und Ziggy Stardust stattgefunden hatten.

Noch bevor man sich das Album anhört, erkennt man, dass das Cover von Mick Rock zu den ikonischen Plattenhüllen überhaupt gehört – es zeigt Reed als Dämon oder, wie der Rolling Stone es formulierte, als “verweichlichtes Frankenstein-Monster” und deutet die wesentliche Musik des Albums an. Doch im Gegensatz zu dem Schwarz-Weiß-Bild von Reed, das die Hülle ziert, sind die Figuren, die Reed beschreibt, in lebhaften Farben gehalten. Das gilt insbesondere für den Opener des Albums namens Vicious, der mit einem kämpferischen Riff aus messerscharfen Gitarren eingeleitet wird, das die traditionell unscharfen Rückkopplungen durchbricht, die in vielen der größten Werke von Velvet Underground ihren eigentlichen  Reiz ausmachten. Der Song ist auch der erste einer ganzen Reihe  auf der Platte, die den spielerischen bisexuellen Lebensstil ansprechen, mit dem Reed zu dieser Zeit flirtete – “When I see you come, baby I just wanna run… You must think that I’m some kind of gay blade”. Reed erzählte dem Rolling Stone auch, dass der Song aus seiner Zeit bei Velvet Underground stammt und dass Reed durch sein Umfeld beeinflusst wurde – und er nannte Andy Warhol, eine der anderen kreativen Kräfte in New York zu dieser Zeit (und Produzent des Debüts von Velvet Underground mit Nico). Reed erklärte, Warhol habe ihn in seiner typischen Manier gefragt: “Warum schreibst du nicht einen Song mit dem Titel vicious, also darüber, wie ich dich bösartig mit einer Blume schlage!”

Es ist ein phantastisches Stück, das den Hörer von Anfang an mit seinen nebeneinander stehenden Bildern in den Bann zieht.

Andy’s Chest beginnt mit einer fast leisen Stimme: “Wenn ich irgendetwas auf der Welt sein könnte, das fliegt, wäre ich eine Fledermaus und würde dir hinterherfliegen”, und setzt damit den wunderbar gefühlvollen, aber dennoch verschlungenen Text von Vicious fort, der uns auf einen Acid-Trip mitnimmt. Wenn der Song sein Crescendo erreicht, ist Reeds Stimme vom Feinsten, mit einer Kraft, die sich mit der Musik zusammen mit dem immer wieder unergründlichen Text verflechtet. Wenn der Song seinen Höhepunkt erreicht, bricht er in einen absoluten Glam-Pop-Groove aus.

Das vielleicht berühmteste Stück von Transformer ist drei Minuten und 47 Sekunden lang Musik vom Allerfeinsten. Perfect Day ist ein schmerzhaft verletzliches Meisterwerk. Der Song fühlt sich für jeden, der ihn hört, äußerst persönlich an, trifft die rohesten, intensivsten menschlichen Emotionen und unterlegt sie mit musikalischer Perfektion.

“It’s such a perfect day – I’m glad I spent it with you”, trällert Reed im Refrain, doch es gibt eine ziemliche Debatte darüber, ob sich der Text auf seinen damaligen Kampf mit Heroin bezieht oder auf eine Beziehung und die Emotionen, die von jemandem hervorgerufen werden, den man liebt. Und ob die Besessenheit nun von Heroin oder einem Menschen ausgeht, die Figur des Songs erfährt unvergleichliche Freude durch ihre Liebe, bleibt aber ohne sie leer und verletzlich zurück, und die Zweideutigkeit trägt zur Großartigkeit und Erhabenheit des Songs und des Textes bei – “Du hast mich mich selbst vergessen lassen, du dachtest, ich wäre jemand anderes, jemand Gutes”.

Nach der eindringlichen Ballade Perfect Day erzählt das gitarrenlastige Hangin’ Round mit rauen, wilden Gitarren eine Geschichte über die Charaktere, die sich an Reeds neu gefundenen Ruhm klammern. “Du hängst weiter an mir, aber ich bin nicht ganz so froh, dass du mich gefunden hast. Du tust immer noch Dinge, die ich vor Jahren aufgegeben habe”, womit er anscheinend auf die Mischung aus Drogen und außerschulischen Aktivitäten anspielt, denen Reed und seine Kumpane seit den späten 60er Jahren ausgesetzt waren.

Und wenn Perfect Day der berühmteste Song des Albums ist, so ist Walk on the Wild Side der Song mit dem höchsten Wiedererkennungswert auf Transformer und mit Sicherheit einer der größten kommerziellen Hits in Reeds Karriere, denn er beginnt mit der wahrscheinlich kultigsten Basslinie der Rockgeschichte. Auch hier nimmt uns Reed mit in die Nacht, um den vielen einzigartig kuriosen Charakteren Tribut zu zollen, denen er in der New Yorker Sexszene begegnet war und mit denen er sich eingelassen hatte: “Holly kam aus Miami, trampte durch die USA, zupfte sich unterwegs die Augenbrauen, rasierte sich die Beine, und dann war er eine Sie. Sie sagte: “Hey Babe, take a walk on the Wild Side”. Es ist ganz klar eine Hommage an diejenigen, die auf der Schattenseite und im Schmelztiegel der New Yorker Gegenkultur der 1970er Jahre gediehen – die Junkies, Drag Queens und Stricher -, aber es unterstreicht auch Reeds Ideale, dass man so sein sollte, wie man sein möchte, egal, was andere darüber denken.

Wie bereits erwähnt, ist der Beitrag von Bowie und Ronson als Produzentenduo nicht zu unterschätzen. Ihre Fingerabdrücke sind subtil und die Schlüsselelemente der Songs erhalten Raum zum Atmen, wobei die musikalischen Schnörkel perfekt nuanciert sind. Das zeigt sich vor allem beim Herzstück des Albums, Satellite of Love, wo Bowies harmonische Backing Vocals den Song zum Leben erwecken. In diesem Song bricht Reed auch mit dem gesprochenen oder oft rauen, aber großartigen Gesang und erinnert den Hörer an sein unglaubliches Talent für ergreifende Melodien. In seinem Kommentar zum Kommerz, der seine Stadt überrollt, scherzt Reed, dass es kein Entrinnen gibt: “Bald wird auch der Mars mit parkenden Autos gefüllt sein.”

Homosexualität wurde in den 1970er Jahren in den Medien immer noch negativ dargestellt (sie war erst fünf Jahre zuvor im Vereinigten Königreich legalisiert worden und war noch immer ein Tabuthema), war aber Teil des Lebensstils von Reed. Um die Darstellungen in der Presse zu bekämpfen, schrieb Reed das Buch Make Up, in dem er die Geschichte einer Drag Queen schildert, die sich in ein “glattes kleines Mädchen” verwandelt. Kunst hat die Macht, unser Denken zu verändern, und Reed war bereit, für seine Überzeugungen einzustehen, wie der Refrain des Liedes zeigt: “Wir kommen aus unseren Schränken!”  Ein weiteres Beispiel dafür, warum er ein so einzigartig mutiger, respektierter und kraftvoller Künstler ist.

Transformer läuft weiter mit dem glam-lastigen Wagon Wheel, bevor Reed in der Mitte des Songs in ein fast stummes Gebet verfällt, als er flüstert: “Oh himmlischer Vater, was kann ich tun? Was sie mir angetan hat, macht mich verrückt”. I’m so Free ist musikalisch am ehesten mit Bowies eigenem Schaffen vergleichbar, wobei die Gitarren an Hunky Dorys Queen Bitch erinnern, und das seltsam Big-Band-beeinflusste Goodnight Ladies ruft Bilder einer verrauchten Bar im New York der 1940er Jahre hervor. Während New York Telephone Conversation einmal mehr die Stadt, die Reed inspiriert hat, in den Mittelpunkt seiner Gedanken stellt, indem Bowie und Reed den müßigen Tratsch nachahmen, der die Einwohner der Stadt umgibt – vielleicht etwas, das sie beide seit dem Beginn ihrer Karrieren zu hören bekamen.

New York ist in Lou Reed tief verwurzelt, und es ist ein Thema, auf das er im Laufe seiner Karriere immer wieder zurückkam – nicht zuletzt auf seiner hervorragenden LP New York von 1989. Transformer ist das Lou Reed-Album schlechthin, und trotz anderer Highlights seiner Solokarriere, darunter das makabre Meisterwerk Berlin, ist es eine unverzichtbare Sammlung fantastischer lyrischer Bilder, die eine passende Ode an eine der unglaublichsten Städte der Welt sind.

Doom Metal: Die Anti-Hipster-Mucke

Es gibt zwei entscheidende Formeln, über die niemand spricht: Erstens; Metal unterscheidet sich von Hard Rock in erster Linie durch das Ausbeinen des Blues. Das heißt: je mehr Blues enthalten ist, desto weniger Metal ist es. Stattdessen spielen die klassischen Skalen die Hauptrolle. Metal ist also der klassischen Musik verwandt, Hard Rock dem Blues.

Die zweite Formel betrifft das “heavy” im Metal, das ja ohnehin kaum mehr genannt wird, und das aus gutem Grund. Je schneller ein Song ist, desto weniger heavy kann er sein. Und die meisten mögen ihren Metal schnell. So wie im Punk, der die Rotzigkeit und Einfachheit geliefert hat, um eben auch ein Wörtchen mitzureden. Dass der Punk aus dem Rock ‘n’ Roll kommt und der dann auch wieder aus dem Blues … geschenkt. Und zwar schon allein deshalb, weil der Rock ‘n’ Roll eine erste Rebellion gegen den Blues war. So wie Punk gegen den bluesbasierten Stadionrock wetterte. Nur um den Kreis zu schließen.

Probleme des Doom Metal

Die Probleme des Doom Metal beginnen mit seinem Tempo. So etwas wie einen Speed Doom Metal gibt es nicht, auch wenn es gar nicht selten vorkommt, dass wir einen swingenden Uptempo-Headbanger vor uns haben, der dennoch tief im Doom verankert ist. Aber abgesehen von einer gewissen Atmosphäre, die fast noch wichtiger ist als die eigentliche Geschwindigkeit, ist der Doom Metal vor allem eins: schleichender, kriechender, langsamer Metal.

Als wolle er der Metal-Überwelt und den populären Konnotationen trotzen, treibt der Doom Metal die Tempi konsequent bis an ihre untersten Grenzen, so wie Grindcore-Devies und Beebop-Jazzer die Musik ebenfalls bis an die Grenzen des Möglichen getrieben haben (lustig, denn die Jazz-Dudes aus den 50er Jahren sind nach wie vor die unbestrittenen Geschwindigkeitskönige). Das liegt nicht nur am Sound, sondern auch an den Texten: Doom Metal soll deprimierend sein. Doom Metal hat das Etikett “depressiv-suizidal” schon lange vor dem depressiv-suizidalen Black Metal für sich beansprucht und leistet mit Leichtigkeit bessere Arbeit, wenn es darum geht, die anämischen und schwarz denkenden Leute davon zu überzeugen, ein Fass aufzumachen. Doom wird dich auf den schwärzesten Sand eines Billionen Jahre alten, toten Planeten werfen, damit du dort auf ewig verrottest, von Gott gehasst und von allen vergessen, um für immer zu leiden, aber niemals zu sterben.

Die Wahrheit ist, dass solche Bilder so weit vom wirklichen Elend des Lebens entfernt sind, dass es gar nicht wenige gibt, die den Doom als Emo des Metal etikettieren, obwohl es vielmehr zutrifft, ihn als Blues des Metal – eben als den Doom des Metal – zu bezeichnen.

Vor den ganzen poppigen Klängen der 40er und 50er Jahre war der Blues das Mittel der Wahl, wenn es darum ging, sich eine Grube in den Schädel zu bohren. Der Doom Metal steigerte das Ganze dann mindestens mal auf 13 und bietet bis heute ein Ausmaß an Elend, wie es die Menschheit noch nie erlebt hat, nun, abgesehen von der Wirklichkeit.

Das heißt, wenn sich Doom-Acts dazu entschließen, es tatsächlich so weit zu treiben: Pentagram haben sich sicherlich nie in Richtung Funeral Doom bewegt, und es scheint, dass viele moderne Bands des Genres vergessen haben, dass die ursprünglichen Doomster – Sabbath, Lucifer’s Friend, Pentagram, False Prophet usw. – klanglich sehr vielfältig waren (Sabbath haben einst eine Mundharmonika benutz, und: ist “Fairies Wear Boots” nicht eher ein rockig-souliger Jazz-Song?). Trotzdem schafften sie es, absolut düster zu klingen.

Und Buffalo hat allen in den Arsch getreten.

Die Ursprünge liegen im Jazz

Das bringt mich zu einem weiteren Teilproblem: Stoner- und Doom-Bands scheinen zu vergessen, dass die angeblichen Bluesrock-Wurzeln von Sabbath eigentlich näher am Jazz lagen und dass der größte Teil des “psychedelischen Blues”, an den sie sich erinnern, von Zeitgenossen wie Led Zeppelin, aber auch Buffalo, Cactus, Coven, Blue Cheer und Randy Holden, Captain Beyond, Lord Sir Baltimore, Head Machine, Mountain und ähnlichen gespielt wurde. Und Buffalo hat allen in den Arsch getreten. Buffalo? Oh Mann, ich könnte den ganzen Tag darüber schreiben, dass Buffalo der Inbegriff der psychedelischen Bluesrock-Band der 70er Jahre war.

Black Sabbath; 1970

Aber es waren Sabbath mit ihren bluesigen, jazzigen Riffs, die alles in Gang brachten. Bill Ward kannte sich mit Jazz ziemlich gut aus, und Iommis Hände waren zweifelsohne Jazzhände. Jeder Doomster, der etwas auf sich hält, muss sich mit Jazzbands vertraut machen, wenn er jemals Sabbathian Doom Metal “richtig” spielen will. Selbst die allmächtigen Buffalo und der Rest der psychedelischen 70er Jahre waren nicht annähernd genug mit dieser Tatsache vertraut.

Und das ist eines der Probleme in der Beziehung zwischen Doom und dem Rest des Metals. Doomster sind so sehr im psychedelischen Blues verwurzelt (und die echten Sabbath-Worshipper sollten es im Jazz sein), dass man nicht umhin kommt, sich daran zu erinnern, was die moderne Metalszene überhaupt erst auf den Plan gebracht hat: Punk. Punk hat Ärsche getreten. Punk tritt überhaupt in den Arsch. Punk wird auch weiterhin Arsch treten. Seine Grundlage waren ein paar Rocker-Kids, die den Rock’n’Roll der 50er Jahre spielen wollten, es aber nicht konnten, weil sie zu schlecht an ihren Instrumenten waren. Also vereinfachten sie ihn auf seine nackten Wurzeln: Drei Akkorde und die Wahrheit*. Dann haben sie ihn beschleunigt (so wie es bereits der Jazz vorgemacht hatte). Es war diese Geschwindigkeitskorrektur, die den Metal wohl vor seiner eigenen Verdammnis in den 70ern bewahrte (da viele der so genannten “Mod-Metal”-Bands in den 70ern wenig bis gar keine Publicity bekamen und der Begriff “Heavy Metal” keiner war, zu dem man sich bekannte, wenn man es darauf abgesehen hatte, eines Tages im Radio gespielt zu werden), und so begann die NWOBHM.

Und erst als diese New Wave Of British Heavy Metal auf den Plan trat, wurde auch Doom Metal zu einer eigentlichen Sache. In den 70er Jahren war praktisch der gesamte Heavy Metal Doom Metal oder Proto-Doom (eine noch frühere Bezeichnung für Metal war “Downer Rock”), und als die NWOBHM den ganzen Blues/Jazz-Unsinn abschaffte, der alten Metal-Welle den Rücken kehrte und sie auf ein Motorrad packte, dachten viele junge Leute, wie komisch es doch eigentlich war, dass so schwere Musik bisher so langsam gewesen ist.

Wir brauchten zu dieser Zeit Geschwindigkeit, Kraft, Aggression, Wut! Damals, ’78, war langsame Musik die lahmarschige Norm und das schnellste, das es gab, war sowas wie Judas Priests “Exciter”. Vielleicht hatte den Kids einst gerade noch “Symptom of the Universe” gefallen, aber jetzt brauchten die Leute zur Abwechslung mal etwas Schnelles. Die Punks hatten mit dem Hardcore schließlich auch bekommen, was sie wollten. Warum also nicht etwas mit diesem Metal anfangen?

Der Wandel

Allerdings stellten schon ’82, als alles auf der Kippe stand, einige Metalbands fest, dass sie Sabbath so sehr mochten, dass sie wie sie klingen wollten und Hörer nach Bands suchten, die so klangen wie sie. Und zwar genau wie sie. Nicht der Sabbath mit Dio an der Spitze, sondern der Sabbath, der zwischen ’69 und ’73 gefeiert wurde. Das Problem war nur, dass man ’82 die Geburt des Speed, des Thrash, des Black, des Death, des Extreme Metal erlebte. Nicht nur extremen Metal, sondern auch Glam Metal. Nicht nur Glam Metal, sondern auch Power Metal. Als Venom “Welcome to Hell” herausbrachten, hat niemand gesagt:

“Scheiß drauf, das ist viel, viel zu schnell.”

Jeder wollte fortan Venom in ihrem eigenen Spiel übertreffen. Bis 1986 war Heavy Metal ein Synonym für männliche Aggression.

Doom Metal aber ist nicht aggressiv. Schwer vielleicht, aber nicht aggressiv, zumindest nicht, so lange sich der Sludge noch nicht eingemischt hatte. Wenn du nicht flennst, high bist oder grübelst, schläfst du, wenn du eine Doom-Platte hörst. Headbanging kommt nur selten vor. Du lebst frei und brennst, Kumpel.

Epicus Doomicus Metallicus; 1986

Das hat Candlemass nicht davon abgehalten, satte hunderttausend Alben zu verkaufen. Ich glaube, dass “Epicus Doomicus Metallicus” unter den Top 3 der meistverkauften Doom-Alben aller Zeiten ist, wenn man die Diskografie von Black Sabbath außer Acht lässt. Ich würde sagen, es ist auf Platz 2, aber ich habe keine Zahlen für “Dopethrone”, und “Manic Frustration” könnte auch ein Kandidat sein. Zusammengenommen erfüllen Candlemass, der Wizard und Trouble vielleicht die Hälfte der Verkaufsanforderungen für eine Goldauszeichnung. Vielleicht auch ein bisschen mehr. Das sind drei verschiedene Doom-Bands, die es alle seit einem Vierteljahrhundert gibt. Und nicht nur das, es sind auch die größten Bands des Doom Metal. Man kann noch Sleep und Type O Negative dazuzählen, aber Stoner Metal und Goth-Doom sollten wir ein anderes mal besprechen. Ja, ich weiß, dass der Wizard und Trouble (zu dieser Zeit) Psychestoner sind/waren, aber ich bitte um Nachsicht.

Was sagt euch das? Doom Metal, eines der 8 Haupt-Subgenres des Heavy Metal (d.h. 1 – Heavy; 2 – Speed; 3 – Thrash; 4 – Power; 5 – Death; 6 – Black; 7 – Glam; 8 – Doom) hat nie so etwas wie kommerziellen Erfolg gehabt. Während der Erfolg anderer Subgenres in Millionenhöhe gemessen werden kann, kann die erfolgreichste Nicht-Sab-Doom-Band nur in Zehntausenden gemessen werden. Meine Güte, es gibt noch immer Metalheads, die gar nicht wissen, dass es Doom überhaupt gibt. Dem ein oder anderen dämmert es dann allerdings:

“Ist es nicht komisch, dass Heavy Metal mit einem so langsamen Song wie “Black Sabbath” begann, obwohl Metal doch angeblich schnell sein soll?”

Natürlich kann man sagen, dass Black Sabbath eine Doom-Metal-Band sind; dann hat man den ersten (und bisher einzigen) Hundert-Millionen-Seller des Doom Metal. Und Alice in Chains waren entweder schon immer der Inbegriff des grungigen Doom Metal oder ist es heute (“Black Gives Way to Blue” ist eine Doom Metal-Platte, Ende der Diskussion). Da kann man noch ein paar Dutzend Millionen Platten drauflegen. Type O Negative? Der gesamte Gothic Metal? Auch Sludge Metal. Kyuss hatten auch einigen Erfolg. Melvins auch ein bisschen.

Doch trotz alledem hat sich der Doom Metal selbst dem Erfolg entzogen. Beim Black Metal ist das nicht anders, aber der Leitspruch des Black Metal lautet von jeher “Fuck the Masses” (und er hat die mächtige Kontroverse, die ihn vorantreibt); Doom-Metaller haben nie erklärt, dass sie nicht erfolgreich sein wollen, und wenn man es genau nimmt, gibt es absolut nichts, was ein Stoner- oder Doom-Metal-Album daran hindert, auf Platz 1 der Charts zu landen. Es gibt ein paar Rock ‘n’ Metal-Hipster, die das lieber nicht sehen wollen (und sich gleichzeitig darüber beschweren, dass heutige Musik eigentlich zum Kotzen ist), aber abgesehen von ihnen kann ich keine wirkliche Feindseligkeit gegenüber einem großen Erfolg erkennen (abgesehen von den unvermeidlichen Sell Outs).

Befragt man einen gewöhnlichen Metalhead über Musik, dann wird man kaum zu hören bekommen, dass Metal langsam sein kann. In der Hauptsache geht es darum, schnell, schneller, am schnellsten zu sein. Am besten so schnell, dass das Licht dagegen langsam ist. Die Vorstellung von langsamen Metal ist wie die Vorstellung von flammendem Eis, dass es in der Wüste schneien kann, oder dass die Beatles beschissene Songs haben!

Und hier hast du die Grundlage dafür, warum Doom Metal als der geistig zurückgebliebene jüngere Bruder des Heavy Metal gilt, der ’70 auf der Türschwelle eines Kindergartens ausgesetzt wurde.

Erinnert ihr euch noch an ’82, als der Metal so richtig rasant wurde? Es war nicht nur der Speed Metal, der den Untergang brachte, auch der Glam spielte eine Rolle. Eine Metal-Band war entweder aggressiv und schneller als ein Meteor, oder sie war überdreht, hatte dicke Föhnfrisuren sang den Ficksong deiner Mutter. Die weniger ausgefeilten Genres des extremen Metal, wie der frühe Death- und Black Metal, wurden zum Teil wegen ihrer grauenhaften Klangqualität, vor allem aber wegen ihres rauen, unnahbaren Sounds übersehen. Aber es war dieser Sound, der ihnen Fans bescherte. Womit sollte Doom hier noch prahlen?

In den 80ern konnte Doom keine Preise gewinnen. Aber in den 90er Jahren sah es kurz so aus, als könnte er sich durchsetzen. Grunge war wohl der erste Schrei des Doom in der Szene. Die Melvins, die frühen Nirvana und andere waren die besten Vertreter des Sludge der späten 80er Jahre. Natürlich waren sie das, sie waren fast die einzigen Nicht-Punk-Sludge-Bands. Aber auf die Melvins kommen wir ein andermal zurück, und ich habe keine Lust, über Nirvana zu reden; stattdessen sind Soundgarden und Alice in Chains zwei Bands, die würdiger sind.

“Badmotorfinger” und “Superunknown” waren im Grunde bereits damals das, was wir heute als Stoner bzw. Stoner Doom bezeichnen würden. Niemand kann mir erzählen, dass “Mailman”, “4th of July” und “Superunknown” rifftechnisch gesehen einfach absolute Überflieger sind. Oder nehmen wir Alice in Chains. Niemand wird behaupten können, dass “Dirt” kein mörderisch guter Stoner-Doom-Song ist.

Satan kommt (oder er kommt nicht)

Ein Running Gag in Metal-Kreisen ist, dass sich eher der leibhaftige Satan blicken lassen wird, bevor Doom Metal populär wird. Doch genau in den Jahren ’92, ’93, ’94 sahen wir, wie Stoner Doom unter dem Label ‘Grunge’ in die Charts aufstieg. Das geschah praktisch neben der Explosion von Stoner Rock und Stoner Metal und der Diversifizierung des Doom Metal in die extremeren Genres (mit der Entstehung von Gothic Doom, Death-Doom usw.). Vielleicht ist das der Grund, warum wir dieses Zeitalter nicht als goldene Zeit für Doom betrachten: 1993 wurde der Heavy Metal schließlich für tot erklärt, doch zu dieser Zeit war der Doom Metal ironischerweise wohl auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung. Und da Satan schließlich kommen soll, bevor Doom Metal populär wird, ist es nur logisch, dass die großen Labels aus Soundgarden oder Alice in Chains kein Kapital schlagen wollten, nicht wahr? Mal im Ernst: Wie viele Post-Grunge-Bands ahmen Soundgarden nach? Alice in Chains (deren härteres Material; ignorieren wir “Days of the New”, und hüllen wir auch über Bands wie Godsmack den Mantel des Schweigens).

Der Okkult-Rock-Boom

Mit die größten Doom-Veröffentlichungen stammen aus den 00er Jahren, von Warning über Celtic Frost bis zu Electric Wizard und… und… und…

Aber das war auch die Zeit des Okkult-Rock-Boom. Für einige war es eine große Überraschung, dass zumindest eine Form von doomigem Metal tatsächlich zu einem “Trend” werden kann. Andererseits weiß ich nicht, wie viele Leute behaupten werden, dass einige dieser okkulten Rocker eigentlich Doom Metal in Reinkultur sind.

Abgesehen davon war der Okkult-Rock-Boom eigentlich gar kein richtiger Boom. Man hörte Witchcraft oder Royal Thunder nicht im Rockradio. Sie erreichten kein Platin oder gar Gold und waren so im Untergrund wie eh und je, wurden aber meist von Hipstern hochgehalten, die damit beweisen wollen, dass sie klüger sind als du.

Da beschließen also ein paar Kiffer, die sich auf YouTube darüber beschweren, dass echte Musik tot ist, dass Rock tot ist und Pop scheiße ist (so wie in den letzten 150 Jahren), sich die Haare wachsen zu lassen (am besten einen langen Bob, Rockerwellen, Zottelhaar oder Wafro), ein paar Schlaghosen und Jeanswesten zu kaufen, ein paar Gitarren aufzumotzen, eine weibliche Sängerin zu finden und eine Psycho-Horror-Okkult-Doom-Rock-Metal-Retroszene zu gründen. Nicht schlecht, aber kein Doom. Es ist das gleiche Zeug im Stil von Sabbath, das wir schon so oft gesehen haben. Und das ist der Nachteil von Doom, nämlich dass er nicht den Spielraum hat, den einige andere Genres haben: Man muss wie Sabbath klingen, um Doom zu sein. Zumindest sagen das die Kritiker.

Einerseits ist es wahr, dass die besten Doom-Platten diejenigen sind, die Sabbath am besten nachahmen. Andererseits ist die Behauptung, dass Doom keinen Spielraum hat, an sich schon sehr weit hergeholt – wie nennt man denn Death Doom, Funeral Doom, Drone, Stoner, Sludge, Goth, Grunge, all diese doomorientierten Genres? Wie viel Spielraum haben denn Thrash Metal, Power Metal, Death Metal? Für sich allein genommen nicht viel. Irgendwann könnte man jedes Thrash-Metal-Album mit einem der Big 4 vergleichen, jeden Power Metal mit Iron Maiden, jeden Death Metal mit Possessed oder Morbid Angel.

Der Doom Metal hat weitgehend das getan, was diese Genres getan haben, musikalisch und textlich, und sich so weit ausgedehnt, wie es innerhalb der traditionellen/epischen Kerngenres möglich ist. Und doch hat er nicht einen Bruchteil des Erfolges oder der Bekanntheit erlangt.

Das ist interessant, weil wir dort im vergangenen Jahrzehnt ein Psychedelic/Blues-Revival erlebt haben. Man konnte feststellen, dass immer mehr Menschen zu den Psych-Rock-Shows strömten. Das war nicht immer so; es gab eine Zeit, da galt man als Rock ‘n’ Roll-Dinosaurier, wenn man es wagte, mit irgendeinem Flansch in der Musik zu spielen und auch nur annähernd so etwas wie zotteliges Haar auf dem Kopf hatte. Damals, in den Achtzigern, waren die Musikhörer bereit für die übergroße Verzweiflung, die der Doom mit sich bringen konnte, aber viele mochten die Art und Weise nicht, wie er verpackt war.

Damit kommen wir zurück zur vorletzten Frage: Warum wird der Doom Metal so übersehen?

Doom Metal wird übersehen, weil er nicht den gängigen Vorstellungen und Erwartungen entspricht, was Heavy Metal sein soll. Er hat seine Wurzeln in einem Jahrzehnt, das eher für Discokugeln und die Bee Gees als für Heavy Blues und Deep Purple bekannt ist. Er ist nicht modern genug, um ernst genommen zu werden, aber er ist zu retro für Fans des traditionellen 80er-Metal, um ihn zu verstehen. Er war die vergessene Geburtsstunde des Metals in den 70ern, schaffte in den 80ern nie den Durchbruch, wurde in den 90ern verleugnet und galt bis zum Ende der 00er Jahre als nicht mehr zeitgemäß. Er ist zu deprimierend für Pop und zu übertrieben für alles andere. Die populäre Konnotation von Doom ist… nichts, weil es keine populäre Konnotation von Doom Metal gibt, weil er nicht populär ist.

Das Einzige, was einem Erfolg nächsten kommt, ist, dass Black Sabbath in aller Mund bleibt, was normalerweise zu einer großen Fangemeinde führen würde, wenn es doch so viele Leute gibt, die zu “gutem Heavy Rock and Roll” zurückkehren wollen, wie Foren, YouTube-Kommentare und Blogs vermuten lassen. Aber der Begriff wird immer wieder unterlaufen und durch “doom and gloom”, “Sabbath-inspirierte Musik”, “schwerfälliger Metal”, “langsame und schwere Musik”, “düstere Musik” und mehr ersetzt, wobei er selten beim Namen genannt wird. Wenn jemand auf einen Doom-Metal-Song stößt, ist seine erste Reaktion meist “zu langsam” oder “ich bevorzuge schnellere Musik, aber das hier ist auch gut”. Sie wissen nicht recht, wie sie es nennen sollen. Die frühen Doom-Platten der 80er Jahre hatten keinen Erfolg, weil sie unter den heutigen Bedingungen nicht vermarktbar waren und weil sie roh, unbearbeitet und unabgemischt klangen; außerdem klangen einige eher wie experimentelle Nebenprojekte als wie echte Bands.

Verdammt, die deprimierende Geschichte des Doom könnte einen soliden Doom-Metal-Song ergeben.

Wird Doom Metal jemals populär werden? Die Sache ist die, dass wir nur einen kleinen Paradigmenwechsel bräuchten. Irgendwann muss man die aktuelle Psyche der Musikindustrie in die richtige Bahn lenken, sie einfach an der richtigen Stelle einschnappen lassen.  Die Hipster-Indie-Rock-Welle von 2013 hat versehentlich Folk und Psychedelic Rock wieder populär gemacht, da sollte der Metal doch nicht allzu weit zurückliegen.

Der extreme Metal ist so schnell, wütend und aggressiv wie möglich geworden. Heutzutage ist schnelle Musik aber nicht mehr ganz so rebellisch wie früher, vor allem seit Rebellion zum Mainstream geworden ist. Das bedeutet, dass sich die Jugend an Doom Metal, dieser langweiligen, matschigen Art von ultraschwerer Musik, festklammern könnte, nur um ihren Eltern eins auszuwischen. Die Aussichten scheinen sogar ziemlich gut zu sein.

* Der Songwriter Harlan Howard prägte diesen Ausdruck in den 50ern (Three Chords and the Truth), der seitdem gerne zitiert wird.

Robert W. Chambers: Der König in Gelb

Die Sammlung seltsamer Jugendstil-Geschichten des amerikanischen Autors Robert W. Chambers blieb nahezu für ein ganzes Jahrhundert ein ungelesenes Buch. Die erste Hälfte des Buches besteht aus vier unheimlichen Geschichten, die, außer der losen Verbindung des Königs in Gelb, nichts miteinander zu tun haben.

Der König in Gelb ist ein Buch, das jeden, der es liest, in den Wahnsinn treibt. Chambers’ Sammlung war für damalige Verhältnisse seiner Zeit weit voraus. Sie ist einer der ersten literarischen Metatexte, einer Form, die bei so verschiedenen Autoren wie Franz Kafka, H. P. Lovecraft und Vladimir Nabokov Verwendung fand. Das Spiel mit Andeutungen, der literarische Isis-Schleier wurde hier geboren. Im letzten Jahr (2014), wurde dieses Buch, das zum Zentrum der HBO-Serie “True Detective” avancierte, an die Spitze der Amazon-Bestsellerlisten katapultiert. Aber auch in dieser ersten Staffel bleibt der König in Gelb ebenso ungesehen wie im Buch. Aufreizend angedeutet zwar, aber nie aufgedeckt.

“True Detective” ist ein düsterer, existentieller Neo-Noir-Stoff, der zahlreiche Hinweise auf den König in Gelb ausstreut. Angesiedelt ist der Mehrteiler im Louisiana Bayou. Die Detectives Rust Cohle und Martin Hart jagen einen Serienmörder, bekannt als der Gelbe König. Die Referenzen an Chambers Werk sind mannigfaltig, ob es sich nun um Symbole handelt, die auf den Leichen hinterlassen werden oder um direkte Zitate, die in den Dialogen vorkommen (Rust Cohle werden dabei jedoch hauptsächlich Sätze aus Thomas Ligottis “The Conspiracy Against The Human Race” in den Mund verfrachtet). Auch finden die beiden Detectives ein Notizbuch, in dem Texte aus Der König in Gelb stehen. Selbst das Wall Street Journal hat einige Artikel veröffentlicht, die sich auf die Verbindung zwischen Buch und Serie beziehen. So blieb das literarische Phänomen nicht aus: ein Buch, hundert Jahre nach seiner Veröffentlichung, wird zum Bestseller und greift um sich wie ein Virus. (Ich spreche hier vornehmlich vom angelsächsischen Raum, in Deutschland hinkt man traditionell allem hinterher.)

Dennoch bleibt die grundsätzliche Frage nach dem Warum dieses merkwürdigen Erfolges. Die Antwort dürfte in dem liegen, was Lovecraft sagte. Es geht um die Kraft, mit der ein Mythos gezeichnet wird: Geschichten, die ein literarisches Universum miteinander teilen, definiert von der unerklärlichen Furcht vor äußeren, unbekannten Kräften des unauslotbaren Raums.

In Brooklyn 1865 geboren, war Robert W. Chambers ein in Paris ausgebildeter Schriftsteller, der dutzende Romane und Sammlungen in den unterschiedlichsten Genres veröffentlichte. Seine größten Erfolge aber hatte er mit Romanzen und seinen Erzählungen im Bereich des Übernatürlichen. Obwohl Chambers den Leser nie mehr sehen lässt als ein Bruchstück, deuten seine Geschichten doch an, dass sie sich einer ähnlichen Handlung bedienen wie Poes “Maske des roten Todes”. Wie in Poes Erzählung scheint der König in Gelb eine Larve zu sein, die sich unter den dekadenten Adel mischt, eine schreckliche Gestalt, von der man nicht sicher sein kann, ob sie nun eine Maske trägt oder nicht. Noch bizarrer hingegen wirkt Carcosa, eine verfluchte Stadt in einer fremden Welt.

Aus heutiger Sicht ist das Bemerkenswerteste an Der König in Gelb nicht der literarische Wert der Geschichten. H. P. Lovecraft, der stark beeinflusst war von Chambers’ Arbeit, nannte ihn einen “gefallenen Titanen”, der mit guter Bildung und Herkunft ausgestattet, dennoch unfähig blieb, diese zu nutzen. Die beste Geschichte im König in Gelb ist “Der Wiederhersteller des guten Rufes”, eines der großen Beispiele eines unzuverlässigen Erzählers. Der Rest ist bestenfalls Durchschnittskost. Dennoch war Der König in Gelb in einer weiteren Sache bahnbrechend: 27 Jahre bevor H. P. Lovecraft sein Necronomicon ersann, enthüllte Chambers’ “Zauberbuch” unwiderstehliche Wahrheiten über den Kosmos all jenen, die mutig genug waren, es zu lesen. Es hat zu allen Zeiten Autoren gegeben, die fiktive Bücher erfanden, aber keiner ist dabei so weit gegangen, um deren Existenz glaubhaft zu machen. Nach S.T. Joshi, einem Literaturkritiker und führender akademischen Figur, der eine Studie über phantastische Geschichten schrieb, baut True Detective auf die Kraft einer Idee, die seit mehr als einem Jahrhundert gewachsen ist.

“Mit Der König in Gelb stellt Chambers eine flüchtige Verbindung zwischen Geschichten her, die ansonsten nichts miteinander zu tun haben. Er tut das auf eine sehr indirekte Weise, tröpfchenweise, und hat somit viele spätere Schriftsteller mit dem fasziniert, was er nicht schrieb.”

Das macht den Mythos als literarische Form so gewaltig. Es gilt, damit einen fruchtbaren Boden für künftige Autoren zu schaffen.

“Schriftsteller wie Chambers waren sehr zurückhaltend, wenn es darum ging, jedes Detail des Universums, das sie entworfen hatten, auszuarbeiten, während sie gleichzeitig darum bemüht waren, zu erklären, dass da noch so viel mehr unter der Oberfläche lauert,”

sagt Joshi.

“Es ist dieser Mangel an Definition, das anderen Autoren erlaubt, die Lücken zu füllen, die Themen und Ideen für eine neue Zielgruppe neu zu interpretieren.”

Das ist es, was True Detective mit dem König in Gelb so faszinierend macht. Während Chambers mit nur ein paar Dutzend Sätzen seinen Mythos skizzierte, nutzt die Idee des gelben Königs unsere existentiellen Ängste, unsere Zurechnungsfähigkeit, unsere Handlungsfähigkeit und unseren Platz in einem Universum, dass sich nicht im mindesten um uns schert. Mehr als die spezifischen Handlungsdetails der Geschichte selbst, ist es der Abgrund, den die Protagonisten von True Detective untersuchen. Blickt man in Cohles Augen, sieht man die unausgesprochene nihilistische Verzweiflung. Man sieht dort gespiegelt die Seele eines Mannes, der den König in Gelb gelesen hat – nicht als billiges Taschenbuch, sondern geschrieben auf den Seiten unseres modernen Lebens. Ob es da unten im Abgrund wirklich einen Gelben König gibt, ist dabei völlig nebensächlich.

Charlie Lovett: Das Buch der Fälscher

»Wales konnte kalt sein im Februar …« Das spürt auch Peter Byerly, Buchhändler und Antiquar, der sich nach dem tragischen Tod seiner geliebten Frau in ein Cottage in einem verschlafenen walisischen Dorf zurückgezogen hat. Als ihm durch Zufall ein Manuskript mit handschriftlichen Randnotizen von William Shakespeare in die Hände fällt, scheint ein Traum wahr zu werden, etwas Aufregenderes kann es für einen begeisterten Bibliophilen kaum geben. Aber ist es wirklich echt? Oder doch nur eine geschickte Fälschung? Gemeinsam mit der lebenslustigen Liz, die den schüchternen Peter aus seinem Schneckenhaus locken will, versucht er, die Wahrheit herauszufinden. Als sich die Ereignisse überschlagen und ein brutaler Mord geschieht, wird den beiden klar, dass es nicht bloß um eine literarische Sensation geht, sondern tatsächlich um Leben und Tod.

In seinem mitreißenden Roman erzählt Charlie Lovett die atemberaubende Geschichte eines Manuskripts, das ein jahrhundertealtes Geheimnis birgt, und zugleich eine bewegende Liebesgeschichte.

Das Buch der Fälscher bei Suhrkamp

Das Leben eines Antiquars

Charlie Lovetts Roman “Das Buch der Fälscher” erzählt eine Geschichte, die Buchliebhaber direkt ansprechen wird. Die fesselnde Handlung ist eine Art geisterhafte Liebesgeschichte, die nicht nur durch die schmerzhaften Neurosen ihres Protagonisten Peter Byerly bereichert wird, eines Mannes, der – als wir ihm begegnen – tief in der Trauer über den Tod seiner Frau Amanda etwa neun Monate zuvor steckt.

Der Protagonist ist ein Antiquar und fühlt sich mit Büchern wohler als mit Menschen. Wenn er mit den Sondersammlungen der Ridgefield University arbeitet, befindet er sich in dieser Welt der seltenen Bücher in allerbester Gesellschaft. Dort lernt er das knifflige Handwerk der Buchrestauration und auch einiges über das Fälschen von Büchern. Nach dem Tod seiner geliebten Frau führt er noch mehr das Leben eines Einsiedlers in England. Beim Versuch, sein Leben zurückzugewinnen, stößt er auf ein jahrhundertealtes Aquarell-Porträt in einem Buch über Shakespeare-Fälschungen, das seiner Frau Amanda verblüffend ähnlich sieht. Als Byerly nach dem Künstler des Gemäldes sucht, stolpert er über ein Buch, das – wenn es echt wäre – nicht weniger als ein literarisches Erdbeben auslösen könnte – den “Pandosto”, jenem Buch von Robert Greene, in dem sich eine der wenigen Zeugnisse, die wir von William Shakespeare haben, finden und das dem großen Dramatiker als Vorlage seines “Wintermärchens” diente. Dieser Fund könnte den ewigen Streit zwischen Stratfordianern (jene, die glauben, der ungebildete Shakespeare habe diese Werke wirklich alle selbst geschrieben) und Oxfordianern (jene, die glauben, ein anderer hätte diese Werke geschrieben und Shakespeare wäre nur ein “Strohmann” gewesen) für immer begraben, so es denn echt wäre, denn Shakespeare hat es mit unzähligen Randnotizen versehen, als er sein eigenes Stück daraus machte. Byerly versucht also zwanghaft, die Authetizität des Buches zu klären. Wie es aber bei einer Rätselgeschichte so ist, ist nichts wie es zunächst scheint.

Der Hauch des Übernatürlichen

Peter ist als Charakter durchaus sympathisch, ebenso wie Amanda, die wir in Rückblenden kennen lernen, während sich die Geschichte in Zeit und Raum vor und zurück bewegt. Natürlich ist dies ein Roman über Liebe und Verlust, aber vielleicht noch mehr als das dreht sich der Roman um Peters tiefe Liebe zu Büchern, die er durch seinen Job als Antiquar und Buchrestaurator entwickelt hat. Es ist diese Liebe, die den Roman zu einem Mysterium macht, nicht nur über Amandas Bildnis, sondern über eines der dauerhaftesten und interessantesten literarischen Mysterien aller Zeiten: ob Shakespeare wirklich der Autor jener Werke war, die ihm zugeschrieben werden.

Der Hauch des Übernatürlichen, der durch die Seiten weht, wird sehr geschickt gehandhabt, ebenso wie die Struktur, die sich zwischen dem Schauplatz des 17. Jahrhunderts zur Zeit Shakespeares, zwischen Peters erstem Treffen mit Amanda und seiner “Gegenwart” im Jahre 1995 bewegt. Im Laufe der Geschichte treffen wir auf eine Reihe berühmter historischer Figuren, darunter der große Mann selbst, aber auch Christopher Marlowe und William Henry Smith, die allesamt farbenfroh gezeichnet sind. Es gibt allerlei schöne Parallelen zwischen den Zeitebenen, insbesondere zwischen den drei verschiedenen Buchhändlern, deren Verhalten letztlich die Handlung beeinflusst und entwickelt. Lovetts offensichtliche Liebe zu Büchern und sein tiefes Verständnis für die Welt des antiquarischen Buchhandels und der Restaurierung bereichern nicht nur Peters Charakter, sondern sind auch für jeden interessant, der sich für den Aufbau und die Reparatur von Büchern interessiert.

Unterschiedliche Genres

“Das Buch der Fälscher” ist tief in der Literaturwissenschaft verwurzelt, voll von lustigem Klatsch und historischem Spiel, die die kurzen Kapitel sehr schnell und leicht lesbar machen.

Peters Aufrichtigkeit, mit der er versucht, das Richtige zu tun, selbst wenn er von seinem Kummer oder dem Hunger seiner Besessenheit geplagt wird, treibt die Geschichte voran und bietet einen ausgezeichneten Kontrast zu den weniger ehrlichen Machenschaften derjenigen, die ihn umgeben, insbesondere derjenigen, die eine Rolle im Geheimnis des “Pandosto” gespielt haben. Peters Heilung entwickelt sich im Laufe der Kapitel auf natürliche Weise und macht den Roman letztlich zu einer ungemein befriedigenden und vergnüglichen Lektüre, die eine Reihe von Genres miteinander verbindet und vor allem die Schönheit und das Wunder des literarischen Wortes zelebriert.

Lovett führt hier mehr als geschickt drei Handlungsstränge zu einem perfekten Ende. Tatsächlich werden hier alle Fragen beantwortet (einschließlich die nach dem mysteriösen Gemälde), was bei den vielen Wendungen, den überraschenden Enthüllungen und den Geschichten innerhalb der Geschichte nicht einfach ist. Man hat schon größere Männer daran scheitern sehen. Und tatsächlich finden wir hier auf engstem Raum alles vor: Das Abenteuer der Suche, eine von Hass geschürte Familiengeschichte, eine komplexe Fälschung, Mord und dramatische Entdeckungen.

Der Anfang des Romans aber wendet sich an Sentimentalisten mit einem Hang zur Nostalgie, an Menschen, die die Restaurierung von Büchern faszinierend finden und die wissen wollen, wie der “Pandosto” jahrhundertelang versteckt überleben konnten. Der letzte Teil des Romans ist dann für die Abenteuerlustigen, die eine gute Spannungsgeschichte lieben.

Da Lovett selbst ein ehemaliger Antiquar ist, sind die Abschnitte, in denen Peter Byerlys Arbeit behandelt wird, ausgefeilt und maßgebend.

Der dritte Strang erzählt die tragische Liebesgeschichte zwischen Peter und Amanda, die sich hervorragend mit den anderen Erzählfeldern verträgt und das ganze zu einem vollmundigen Lesererlebnis macht. Natürlich richtet sich das Buch nicht an die gewöhnliche Thriller-Fraktion, das muss von vorneherein klar sein. Jemand, der in Büchern nur den Text sucht und der sich nicht in eine Existenz der Einsiedelei und Panikattacken einfühlen kann, der von Nostalgie nicht eben viel wissen will und alles, was mit einer romantischen Liebesgeschichte zusammenhängt, verachtet, sollte die Finger davon lassen.

Stephen King Re-Read: Nachtschicht

Zu Beginn seiner Karriere wollte niemand wollte eine Kurzgeschichtensammlung von Stephen King veröffentlichen. Als aber Shining, sein erster Hardcover-Schlager, gleich nach Carrie einschlug wie eine Bombe, begann seine Karriere auf Hochtouren zu laufen. Doubleday hatte King unter Vertrag und verlangte einen weiteren Roman im folgenden Jahr, aber King war mit einem Buch zugange, von dem es schien, als könne er es niemals beenden: Das letzte Gefecht. Ohne vorhersagen zu können, wie lange er noch brauchen würde, schlug er seinem Verlag vor, eine Sammlung mit Kurzgeschichten herauszugeben, die er für verschiedene Magazine wie Cavalier, Penthouse und Cosmopolitian geschrieben hatte, zusammen mit einem Vorwort von King selbst und vier neuen Storys. Zwanzig Geschichten also, die über mehr als ein Jahrzehnt hinweg geschrieben wurden, einige davon bereits als King erst 22 Jahre alt war. Das wurde widerwillig akzeptiert, und so erschien das Buch ohne Cover-Artwork in einer ersten Auflage von 12 000 Exemplaren. Das Buch beginnt und endet mit zwei Geschichten, die den in Brennen muss Salem etablierten Mythos ergänzen. Die erste, “Briefe aus Jerusalem“, kann man durchaus als Vorgeschichte zu Salem’s Lot lesen und ist eine Verneigung vor H.P Lovecrafts Cthulhu-Mythos. Der Schauplatz könnte durchaus auch Innsmouth sein. Angesiedelt im Jahre 1850 erzählt die Geschichte von einem uralten Übel, das in einer kleinen verlassenen Stadt gefunden wird, die der Vorfahre des Erzählers und sein Diener dort entdecken. Der Nachkomme, der uns die Geschichte erzählt, ist dazu verdammt, die Fehler seines Vorfahren zu wiederholen. King hat später oft und gerne “Pastiches” geschrieben, d.h. Erzählungen in Anlehnung an einen bekannten Stil. Ich denke da an Arthur Conan Doyle oder Raymond Chandler. Auch ist die Briefform ein beliebtes stilistisches Manöver des 19ten Jahrhunderts gewesen, um einem Sachverhalt den Anstrich von Realität einzuhauchen.

“Spätschicht” 1970, Cavalier

Eine der frühen Top-Geschichten Kings und seine erste verkaufte Geschichte überhaupt. Die atmosphärische Beschreibung der Spinnerei, das Arbeitsklima… bereits das ist Naturalismus pur. Gleichzeitig kann man hinter dem “Short-Shocker von Amerikas aufregendstem Autor” durchaus eine Gesellschaftskritik erkennen, die ja immer wieder mal in seinem Werk zu finden ist: Unachtsamer Umgang mit Natur und Umwelt. Hört sich auf den ersten Blick banal an, entfaltet aber bei King immer wieder eine immense Wirkungskraft. In seinen besten Erzählungen gibt es diesen doppelten Boden zwischen Horror und “Realismus” immer zu finden. Ohne moralischen Zeigefinger, völlig unterhaltsam. Aber das Unterbewusstsein weiß Bescheid.

“Nächtliche Brandung” 1974, Cavalier

Stephen Kings Erzählung Nächtliche Brandung kann man getrost als eine erste Skizze zu Das letzte Gefecht verstehen. Captain Trips, sprich; das Supervirus A6 dreht hier das erste Mal seine Runden. Wir begegnen einer handvoll Jugendlicher am Strand in einer bereits post-apokalyptischen Umgebung, die gerade Alvin Sackheim verbrannt haben, der sich diese Supergrippe eingefangen hat. Das ganze war gedacht als ein Menschenopfer, um die “Bösen Geister” davon abzuhalten, die Gruppe ebenfalls zu infizieren. Keiner glaubt natürlich diesen Humbug, aber alle machen mit, um mal etwas Neues auszuprobieren. Die Symptome zeigen sich trotzdem auch innerhalb der Gruppe.

Das ist dann auch schon die ganze Geschichte; und sie ist, wie sie da steht, lau. Allein dass sie zum Radius von The Stand gehört, macht sie etwas attraktiver, für sich allein genommen, bietet sie zu wenig.

“Ich bin das Tor” 1971, Cavalier

In der Sammlung findet sich auch Kings erster veröffentlichter Ausflug in die Science-Fiction und eine meiner ersten wirklichen Berührungen mit diesem Genre. “Ich bin das Tor” ist die Geschichte eines Astronauten, der mutiert, um einem Außerirdischen die Fähigkeit zu geben, durch seinen Körper zu sehen. Nur ist er ein schlechtes Medium, und die Bilder sind verzerrt; der Außerirdische, der mit den Schrecken der Erde konfrontiert wird, übernimmt seinen Körper und zwingt ihn, in seinem Namen zu morden. Der Tonfall ist fast wie bei Ray Bradbury, aber mit einem ausgeprägten King’schen Horror-Touch und einem echten Knaller am Ende.

Bekanntlich setzen Horror-Kurzgeschichten die höchste Kunstfertigkeit voraus. An ihnen ist vollumfänglich zu erkennen, was der Autor kann. So wie hier. Auch wenn King sich der Science Fiction zuwendet, tut er das, wie es Horror-Autoren tun. Diese Geschichte ist ein perfektes Kleinod, bei der, angefangen von der Grundidee, die gar nicht so spektakulär ist (ein Astronaut fängt sich während einer Venus-Expedition etwas ein, das ihn verwandelt) – bis hin zur Pointe der letzten drei Sätze (auch wenn der so infizierte einen vorübergehenden Sieg erringt, kann er das, was er mitgebracht hat, nicht aufhalten) alles stimmt.

“Der Wäschemangler” 1972, Cavalier

Das Groteske ist eine Urform des Horrors. Nicht zuletzt führt uns die was-wäre-wenn-Frage oder die grenzenlose Übertreibung auf die richtige Fährte. King spielte in seinen frühen Jahren konsequent durch, was geschähe, wenn sich uns vertraute Dinge oder Maschinen, die uns als Helfer dienen, plötzlich gegen uns wenden würden. Ich habe fast ausschließlich gelesen, dass diese Geschichte die lächerlichste sei, die King je schrieb, und ich kann nachvollziehen, woran das liegt. In Wirklichkeit sehe ich in ihr einen boshaften Humor. Eine Sache, die bei King in den letzten Jahrzehnten immer mehr verschwunden ist.

“Das Schreckgespenst” 1973, Cavalier

Es hat den Anschein, als seien in “Nachtschicht” alle grundlegenden Motive des King’schen Kosmos angelegt, zu denen freilich auch gehört, dass sich ‘etwas’ unter dem Bett oder – wie hier – im Schrank verbirgt. Ein Klassiker. Etwa zur gleichen Zeit geschrieben wie The Shining, ist auch dies hier eine Geschichte, in der ein Vater eine Bedrohung für seine Kinder darstellt.

“Graue Materie” 1973, Cavalier

Auch in diesem klassischen Verwandlungsstück über schlechtes Bier finden wir jenen Humor, der Kings Frühphase begleitet. Alkoholiker spielen bei King eine erhebliche Rolle, schließlich weiß er darüber bestens Bescheid. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass er selbst sich manches Mal wie diese Graue Materie fühlte.

Obwohl diese Geschichte sehr einfach gestrickt ist, kann man in ihr den hervorragenden Handwerker erkennen, der King nun eben ist. King beginnt diese Geschichte mit Blind Eddie, dem ‘permanenten Ladendieb’ der Nachteule, einem 24-Stunden-Laden, der das Zentrum der Geschichte ist. King wurde später oft dafür kritisiert, dass er Markennamen inflationär verwenden würde, während man ihn heute als verlässlichen Chronisten amerikanischen Lebens lobt, der es eben fertig bringt, diese für sein Schreiben wichtige Dimension bis heute durchzuhalten.

“Schlachtfeld” 1972, Cavalier

Ein ganz anderes Kapitel in dieser Sammlung sind die vom übernatürlichen Beeinflussten Action-Stories – oder Thriller wie eben “Schlachtfeld”, “Lastwagen”, “Der Mauervorsprung”, und sogar “Quitters Inc.” Sie bedeuten nicht mehr als das, was auf dem Papier steht. Man kann sie schlichtweg genießen wie man einen Marsriegel verschlingt. Die Idee – ein Auftragskiller bekommt eine Kiste von der Mutter des Konzerngründers einer Spielwarenfabrik, den er gerade umgebracht hat. Bei der Kiste handelt es sich um die “Vietnam – Ausgabe” einer Spielzeugsoldateneinheit. Natürlich geht es um Rache. Diese Idee also ist im Grunde so simpel und beweist nur eins: gute Autoren benötigen keine abwegigen Plots, um eine solide Geschichte zu generieren.

“Manchmal kommen sie wieder” 1974, Cavalier

In dieser Geschichte über Zombie-Schukinder, die auf Rache sinnen, treffen zwei von Kings Lieblingscharakteren zusammen. Der Hauptcharakter ist ein High-School-Lehrer, wie man ihn aus Carrie, Brennen muss Salem, Feuerkind, The Shining, Das letzte Gefecht, Christine oder Dead Zone, Es und Die Leiche kennt. Die bösen Jungs sind direkte Nachkommen Billy Nolans aus Carrie: das Haar mit Wachs zurückgekämmt fahren sie ein echtes Stück Detroit-Stahl durch die Gegend, immer höhnisch und bewaffnet mit Springmessern.
Dieses doch sehr auffällig wiederkehrende Szenarium deutet nicht zuletzt auf eine psychologische Verarbeitung Kings hin.

“Erdbeerfrühling” 1975, Cavalier

Diese Geschichte erschien zum erstenmal im literarischen Magazin der University of Maine, und wie alle Geschichten Kings aus dem Umfeld des Ubris Magazine (“Erdbeerfrühling” und “Nächtliche Brandung” aus dieser Sammlung, “Kains Aufbegehren” und “Achtung – Tiger!” aus Blut) ist auch diese mehr im Stil eines Schriftsteller-Workshops geschrieben als dass sie eine persönliche Note abgibt.

Auch hier treffen wir ein Motiv an, von dem King in seiner Anfangszeit besessen schien: ein Mann verwandelt sich in in etwas anderes. Angefangen von “Ich bin das Tor” zu “Graue Materie” oder “Das Schreckgespenst” bis “Shining”, treffen wir dieses Motiv immer wieder an. Aber auch in “Duddits” oder “Tommyknockers”, “The Dark Half” etc. Wer sich den Motivketten Kings öffnet, wird nahezu ein Aha-Erlebnis ernten können. Nehmen wir noch “Feuerkind” und “Dead Zone” dazu; hier sind es Charlie McGee und Johnny Smith, die durch die Ausübung ihrer psychischen Kräfte zu ganz anderen Menschen werden. Und dann wäre ja noch King selbst, der sich sozusagen in Richard Bachmann spaltete. Ein hinreißendes Thema, über das man lange spekulieren könnte.

“Der Mauervorsprung” 1976, Penthouse

Wie auch “Lastwagen” und “Schlachtfeld” gehört diese Story zu den straight-forward-Actionstories. Darin ist nicht mehr oder weniger enthalten als das, was auf dem Papier steht. Aber es sind meist die einfachen Geschichten, die der Technik bedürfen – und Kings Talent macht eine großartig effektive Geschichte aus der Tatsache, dass Stan Norris das 43. Stockwerk auf einem 13 cm breiten Mauervorsprung umrunden muss. Dass das natürlich nicht alles ist, versteht sich von selbst.

“Der Rasenmähermann”1975, Cavalier

Ich habe beim “Wäschemangler” bereits von der Groteske als Grund und Boden für Horror-Vibes gesprochen. Diese Geschichte hier ist allerdings reinrassig mit dem Grotesken verbunden und somit eine der Außergewöhnlichsten, die King je geschrieben hat. Stellen wir uns allein dieses Bild vor: ein dicker nackter Mann kriecht auf allen Vieren hinter einem knallroten Rasenmäher her, um das Gras, das dieser abschneidet, aufzuessen. Das hört sich lustig an und irgendwie bizarr – und das ist es auch, denn das Lachen bleibt einem dann später durchaus im Halse stecken. Wichtig in diesem Zusammenhang sind die Verweise auf die Griechische Mythologie, die man leicht überliest oder mit denen man zunächst vielleicht nichts anfangen kann. Es gibt nicht wenige Stimmen, die diese Geschichte für sinnfrei halten – das sind genau jene, die sie nicht verstanden haben und vielleicht nocheinmal lesen sollten.

“Quitters, Inc.” Bis dahin unveröffentlicht

Hier ist nach “Der Mauervorsprung” die nächste straight-forward-Actionstory. Gäbe es die Quitters wirklich, bin ich mir ziemlich sicher, dass die Tabakindustrie dicht machen könnte. Wie so oft bei Kings unglaublichen Short-Schockern, geht es auch hier um die simpelste Abhandlung psychologischer Fragen. An Effizienz mit Sicherheit nicht zu schlagen.

“Ich weiß, was du brauchst” 1976, Cosmopolitan

Eine Geschichte, wie man sie sich auch sehr gut in einem Frauenmagazin vorstellen könnte. Romantik, ein wenig “thrill” durch den Stephen King-Touch, fertig. Man täte der Geschichte unrecht, wenn man sie als schlecht bezeichnen würde, sie ist nämlich – wie immer – gut geschrieben. King – wie man früher behauptete – würde auch dann gelesen, wenn er das Benutzerhandbuch zu einer Kaffeemaschine schreiben würde. Das sagt viel aus.

“Kinder des Zorns” 1977, Penthouse

Mit seinen dunklen Maisgöttern und verdrehten religiösen Ritualen erinnert auch diese Geschichte an den Einfluss Lovecrafts. Es gibt nicht wenige, die sich diese Story als Roman gewünscht hätten. Das mag der Grund gewesen sein, warum so viele unsägliche Filme sich an diesem Thema abarbeiteten. Keinem davon gelang es auch nur in die Nähe des Geheimnisses zu kommen, das da zwischen den einzelnen Sätzen mitschwingt und die ungeklärt bleiben müssen.

“Die letzte Sprosse” Bis dahin unveröffentlicht

Dies ist keine Horrorstory, aber ohne Zweifel die beste und engagierteste Geschichte der ganzen Sammlung. Hier zeigt King eindrucksvoll, welch herausragender Autor er eigentlich ist. und dass ihn bereits in seiner Frühphase kaum einer das Wasser reichen konnte, was sorgfältig ausgewählte Details, die Beherrschung des Spannungsbogens oder die fesselnde Atmosphäre betrifft. Vertrauen, Einsamkeit, Liebe. Das sind die zentralen Schlagworte – eine Episode aus der Kindheit eines Geschwisterpaars, die mit dem Selbstmord der Schwester als Erwachsene endet. King wird stets aufs neue den Beweis antreten, dass er das Übernatürliche dem Menschlichen unterordnet. Hier hat diese Formel einen ersten Höhepunkt zu verzeichnen.

“Der Mann, der Blumen liebte” 1977, Gallery

Eine simple Geschichte, die wohl mehr einer Fingerübung ähnelt. Eine, in der der Leser bis zum entscheidenden Moment getäuscht wird – oder besser, auf eine falsche Fährte geführt wird, bis der erzählerische Klimax der ganzen Erzählung seinen literarischen Effekt ausspielt.

“Einen auf den Weg” 1977, Maine

“Einen auf den Weg”  spielt – anders wie “Briefe aus Jerusalem” nach den Ereignissen, die in Brennen muss Salem geschildert werden. Es ist eine einfache Geschichte über eine Familie, die sich während eines Schneesturms in die mittlerweile verlassene Stadt verirrt, und wäre ein effektiver und sauberer Abschluss des Romans gewesen, der Hinweise darauf gibt, dass Ben und Mark ihre Mission am Ende von Brennen muss Salem erfüllt haben. Die Familie in dieser Geschichte trägt den Namen Lumley, und wenn wir uns jetzt “Briefe aus Jerusalem” noch einmal ansehen und mit Brian Lumleys Geschichte “Sie lauern in der Tiefe”, vergleichen, die drei Jahre vorher – also 1974 – erschienenen ist, entdecken wir Kings kleine Geste in Richtung des englischen Kollegen. Die Hauptfigur Booth scheint ein Probelauf für Stu Redman aus “The Stand” zu sein. An diesem Roman arbeitete King zeitgleich.

“Die Frau im Zimmer” Bis dahin unveröffentlicht

Den Schluss bildet eine weitere ambitionierte Geschichte über einen Mann, der seine krebskranke Mutter vergiftet. Ob sie es so will, bleibt dabei unentschieden. King sah seine eigene Mutter sterben und fing diese Details perfekt ein. Auch hier ist zu erkennen, dass es King in erster Linie um die Figuren geht und erst in zweiter Instanz um das Übernatürliche.

Mit seinen ganzen Höhen und Tiefen ist diese Sammlung Kings Kurzgeschichten-Klassiker schlechthin. Unter den ganzen epochemachenden Romanen, die er schrieb, ging stets fast ein wenig unter, dass King ein Meister dieser wichtigsten aller literarisch-phantastischen Formen ist. Zwischen echten Höhepunkten finden sich immer wieder einige B-Stories, die aber dennoch von einem erstaunlichen Handwerk zeugen. Und über Kings Fantasie müssen wir uns ohnehin nicht unterhalten.

Samuel Bjørk: Federgrab (Munch & Krüger #2)

Ein ortsansässiger Botaniker stößt auf die Leiche eines Teenagers, der anscheinend Teil eines rituellen Mordes war. Die Leiche des Mädchens liegt auf einem Bett aus Eulenfedern und in einem Pentagramm aus Kerzen. Zusätzlich zu ihrem Mordfall haben Munch und Mia Krüger mit persönlichen Dramen zu kämpfen. Munch muss feststellen, dass seine Ex-Frau im Begriff ist, wieder zu heiraten. Mia wurde kürzlich vom Dienst suspendiert und ist psychisch nicht in der Lage, den Tod ihrer Schwester Sigrid zu verarbeiten und denkt darüber nach, sich das Leben zu nehmen. Munch gelingt es, Mia zurück in sein Team zu holen, um diesen Fall zu lösen, denn er weiß, dass ihre besonderen Fähigkeiten erforderlich sind, um den Mörder zu finden.

Krüger, die über wenig emotionale Reserven und viel Intuition verfügt, gilt als Genie, wenn es darum geht, in die dunklen Tiefen eines Falles vorzudringen. Obwohl sie mit Alkohol und Tabletten und dem unbändigen Wunsch kämpft, ihren Eltern und ihrer Zwillingsschwester ins Grab zu folgen, erklärt sie sich bereit zu helfen. Sie hat eine träumerische Art zu denken, die sich allerdings auf eine Punkt fokusiert, wenn sie sich auf die Detail des Falles konzentriert.

Rückblenden in die Vergangenheit der Hauptfiguren und derjenigen, die wir noch nicht kennen, vermischen sich im Laufe des Romans mit dem aktuellen Fall. Neben diesen Handlungssträngen verfolgen wir auch die Geschichte von Munchs Tochter Miriam. Kürzlich hat Miriam einen Mann namens Ziggy kennengelernt und sich einer Gruppe von militanten Tierschützern angeschlossen – eine Welt, in der sie sich stark engagiert hat, bevor sie Mutter wurde.

Die Beziehung zwischen Holger Munch und Mia Krüger ist das Herzstück dieses Romans und treibt den Leser dazu, sich um die Zukunft der beiden Gedanken zu machen. Der Roman bemüht sich, den Schwung der Lösung des Verbrechens aufrechtzuerhalten. Zwar ist man sofort in die Lösung des Falles involviert, aber in der Mitte der Geschichte verliert man sich im Dickicht des ganzen Hintergrundrauschens.

Dies ist nach “Engelskalt” der zweite Roman mit den Osloer Ermittlern Holger Munch und Mia Krüger, dem in diesem Jahr mit “Dunkelschnee” ein Prequel vorangestellt wurde. Die Idee ist klar, es geht um die Arbeitsbeziehung der beiden, die stets Gefahr laufen, selbst auseinanderzubrechen.

Munch, übergewichtig und von seiner gescheiterten Ehe geplagt, leitet ein Team von Ermittlern, die den rituellen Mord an einem Teenager untersuchen. Aus dem Bericht des Pathologen geht hervor, dass sie erdrosselt wurde, und er findet Schürfwunden an Knien und Ellbogen, Blasen an den Händen und hebt ihren ausgemergelten Zustand hervor.

Leider verbringt Mia Krüger fasr die Hälfte des Buches damit, darüber zu jammern, wie sehr sie dem Ganzen ein Ende setzen möchte, aber Munchs Freundlichkeit und seine Sorge um sie hindern sie daran, wirklich ernst zu machen.

Dabei wirkt sie wie eine selbstsüchtige, egoistische Göre und nicht wie eine brillante Detektivin, die, wie man uns glauben machen will, die Gabe hat, abartige Kriminalfälle zu durchschauen. Das Einzige, was Krüger gut zu können scheint, ist Jägermeister trinken.

In der anderen Hälfte des Buches befasst sich Munch mit familiären Problemen, seine Ex-Frau macht mit ihrem Leben weiter, und seine einzige Tochter, eine junge Mutter und vermeintlich verantwortungsbewusst, verliebt sich Hals über Kopf in einen Typen, den sie kaum kennt.

Munch selbst ist ebenfalls keine große Leuchte. Er raucht zu viel und sein Gewicht wird häufig als harte Anklage gegen sein Aussehen verwendet. Weder ist er bemerkenswert oder besonders klug. Ihn durchschnittlich zu nennen ist bereits ein Kompliment.

Sein Team scheint zwar relativ gut zu sein und da Munch ihm als Chef vorsteht, könnte dadurch der Eindruck entstehen, dass er extrem kompetent ist, was er aber nicht ist.

“Federgrab” war sicher kein Komplettausfall, aber die Handlung ist unübersichtlich und unklar, und die Hauptfiguren sind nicht stark oder einprägsam genug, als dass man verstehen könnte, was sie in jüngster Zeit so erfolgreich gemacht hat.

Das größte Manko sind sicher die Dialoge. Niemand scheint seinen Gesprächspartnern zuzuhören oder generell aufmerksam zu sein, denn jeder fragte ständig “warum? was? wer? wo?” und denkt mitten im Gespräch an etwas anderes und wurde dann mit noch mehr “was? wo?” in die Realität zurückgerissen. Der Autor versucht sich auf diese Weise zwar an der Beschreibung, wie müde und desorientiert die jeweilige Figur ist, aber wenn fast jeder Dialog so abläuft, wird es unerträglich.

Die Handlung ist im Grunde ein Aufguss des ersten Romans und die Charaktere entwickeln sich nicht wirklich weiter. Selbst ohne die wiederverwendeten Teile zu erkennen, bleibt die Handlung vorhersehbar, und die meisten Charaktere sind entweder platt oder absolut nutzlos, wie zum Beispiel Mia Krüger, die ein Dutzend willkürlicher Anschuldigungen macht, sich selbst mit Psychopharmaka und Alkohol vollpumpt und objektiv gesehen wirklich schlecht in ihrem Job ist.

Ich werde mir bei Gelegenheit noch den letzten augenblicklich erhältlichen Band anschauen, aber erst nach einem gewissen Abstand.

Jim Butcher: Sturmnacht (Die dunklen Fälle des Harry Dresden #1)

Dieser Artikel ist Teil 1 von 2 der Reihe Dresden-Files

Harry Dresden gehört definitiv zu den besten Detektiven aller Zeiten. Dass er dabei noch ein Magier ist, mag ihm scheinbar hilfreich sein, aber das ist es nicht. Jim Butcher hat Harry ins Leben gerufen, ohne zu ahnen, dass er damit die beste und erfolgreichste Urban Fantasy-Reihe aller Zeiten zu Papier bringt, die mittlerweile zigfach kopiert wurde, ein Ende ist nicht in Sicht. Bei uns hat die Veröffentlichungspolitik dieser über alle Maßen erfolgreichen Bücher leider einen unglücklichen Weg genommen, der allerdings jetzt beendet scheint. Die ersten Bände wurden noch von Knaur herausgegeben, bevor der Verlag das Interesse verlor und Harry zu Feder & Schwert wechselte. Wäre der Verlag nicht bankrott gegangen, hätten er es fast geschafft, alle 17 Bände herauszugeben, aber dem war nicht so.

Die Neuauflage bei Blanvalet

Blanvalet

Ab dem 23. November 2022 wird die Serie nun endlich von Blanvalet neu aufgelegt, und ich bin mir ziemlich sicher, dass wir diesmal in den Genuss des gesamten Werkes kommen werden. Die Cover sind vielleicht nicht ganz so schick wie seinerzeit die von Feder & Schwert, aber sie sind auf keinen Fall so unterirdisch wie es bei uns fast schon Mode zu sein scheint. Den Auftakt machen an diesem Tag die beiden Bände “Sturmnacht” und “Wolfsjagd”. Man hat also auch die alten Titel stehen lassen, was auch nicht immer vorkommt.

Jim Butchers Dresden-Files sind eine perfekte Verbindung aus dem hartgesottenen Detektivgenre und der Urban Fantasy. Als einziger “beratender Zauberer” der Welt tritt Harry Dresden gegen eine Vielzahl von Wesen an – darunter Geister, Vampire, Werwölfe und andere Monster – und nimmt Fälle von menschlichen und nichtmenschlichen Klienten sowie von der Sonderermittlungseinheit der Polizei von Chicago an. Dem Strand-Magazine, jener Zeitschrift, die durch die Veröffentlichung vieler Sherlock Holmes-Geschichten Legendenstatus erreichte, sagte der Autor:

“Mir wurde klar, dass Zauberer und Privatdetektive genau das Gleiche tun. Sie spielen dieselbe Rolle und haben nur unterschiedliche Hüte auf. Ob sie nun in die kriminelle Unterwelt Chicagos oder in die buchstäbliche Unterwelt wie im Herrn der Ringe eintauchen, beide sind Menschen, die sich an dunkle Orte begeben und eine Bedrohung darstellen, nicht unbedingt wegen dem, was sie alles zu tun vermögen, sondern hauptsächlich wegen dem, was sie wissen. Als mir klar wurde, dass Zauberer und Privatdetektive auf demselben Konzept beruhen, wurde es ganz einfach.”

Mittlerweile gibt es viele dieser Dresden-Klones, ob es sich nun um Kevin Hearnes Eisernen Druiden oder Ben Aaronovitchs Peter Grant handelt, aber Harry Dresden ist für die Urban Fantasy das, was der Herr der Ringe für die High Fantasy ist.

Sturmnacht

Sturmnacht beginnt mit einem ganz normalen Tag, an dem die potenzielle Kundin Monica Sells bei Harry vorbei schaut. Sie macht sich Sorgen um ihren Mann Victor und befürchtet, dass er sich zu sehr in die Welt der Magie eingemischt hat. Sie möchte, dass Harry herausfindet, was mit ihm los ist.

Gleichzeitig bittet Leutenant Karrin Murphy von der Polizei in Chicago Harry Dresden wegen eines Mordes, der sich ereignet hat, um Hilfe. Das tut sie regelmäßig, wenn es um einen Fall geht, der mit dem Übernatürlichen zu tun haben könnte. Harry ist als Berater für die Polizei in Chicago tätig und wird für seine Arbeit auch bezahlt.

Als Harry die Fälle untersucht, wird ihm klar, dass sie beiden miteinander zusammenhängen und er sie unter einen Hut bringen muss, aber er muss auch Murphy bei Laune halten, ohne ihr alles zu erzählen, während er versucht, die beiden Fälle aufzuklären. Es gibt einen abtrünnigen Zauberer und einen Dämon, der bekämpft werden muss. Harry möchte Murphy nicht mit hineinziehen, um sie nicht in Gefahr zu bringen.

Im Laufe des Buches lernen wir Figuren kennen, die nicht nur in dieser Geschichte eine Rolle spielen, sondern auch in der weiteren Serie. Wir bekommen mehr von Harry und Karrin Murphys Interaktionen und wie sie zusammenarbeiten. Wie in eine ersten Band üblich, werden wir in dieser Geschichte gewissermaßen mit Murphy bekannt gemacht.

Wir lernen den Gangsterboss und gelegentlichen Gentleman Johnny Marcone kennen, und wie er in diese Geschichte verstrickt ist. Marcone spielt in der gesamten Serie eine Rolle und Harry muss sich immer wieder mit ihm und seiner Bande auseinandersetzen.

Wir erhalten auch bereits Hinweise auf den Weißen Rat der Zauberer, und wir lernen den Aufseher dieses Rates, Donald Morgan, kennen, der Dresden bei seinen Verfehlungen gerne auf frischer Tat ertappen will. Harry wurde aufgrund seiner Vergangenheit, die ebenfalls in die Geschichte einfließt, an die kurze Leine gelegt. Morgan soll dafür sorgen, dass Harry sich an die Regeln und an die strengen Gesetze hält, was ihm nicht leicht fällt. Morgan würde nichts lieber tun, als Harry dabei zu erwischen, wie er eines der Gesetze der Magie bricht, um ihn vor den Weißen Rat zu bringen und ihn daraufhin hinrichten zu lassen.

Susan Rodriguez hat in dieser Geschichte ebenfalls ihren ersten Auftritt. Sie ist Reporterin für die Zeitung Arcane, die über übernatürliche und magische Dinge berichtet. Susan sieht Harry als ihren wichtigsten Kontakt und nervt ihn ständig mit den neuesten Gerüchten. Susans Geschichte beginnt hier, und ihre und Harrys Beziehung entwickelt sich im Laufe der Geschichte von beruflich zu freundschaftlich und dann zu einem Liebesverhältnis. Am Ende hat Susan einen großen Einfluss auf die gesamte Serie und auch auf Harry.

In einem Kellerlabor haust Harrys Assistent Bob, ein alter und intelligenter Geist, der in einem Schädel gefangen ist und ihn ohne Harrys Erlaubnis nicht verlassen kann. Bob hilft Harry bei seinen Zaubersprüchen und der Herstellung von Tränken und bringt ihm neue magische Techniken bei. Natürlich versucht er jede Gelegenheit zu nutzen, den Schädel zu verlassen und ab und zu lässt Harry ihn für 24 Stunden heraus. Die Beziehung zwischen Harry und Bob ist unterhaltsam und entwickelt sich im Laufe der Serie auch weiter.

Wir bekommen auch einen ersten Blick auf Mac und seine Taverne McAnally’s, die ein lokaler Treffpunkt für Harry und andere aus dem magischen Reich ist. Mac ist der starke, schweigsame Typ, der einen neutralen Ort für alle bietet, um sich zu treffen. Er ist ein Teil von Harry und hilft ihm oft, wenn er in Schwierigkeiten steckt.

Eine der magischen Kreaturen, die wir in dieser Geschichte kennen lernen, ist eine Tautropfen-Fee namens Toot Toot. Er ist eine Hilfe für Harry und erledigt oft Aufgaben für ihn im Tausch gegen Pizza. Er taucht von Zeit zu Zeit in der Serie auf und hier sehen wir ihn zum ersten Mal.

Eine groß angelegte Serie wie die Dresden-Files benötigen eine kluge Einführung, und das bekommen wir hier. Trotzdem wird die Geschichte der Sturmnacht abgeschlossen und aufgelöst, so dass auch bei jenen kein Frust entsteht, die nicht weiter in diese fantastische Welt eintauchen möchten. Alle anderen lernen die Protagonisten kennen, die im weiteren Verlauf eine wichtige Rolle spielen werden. Wir lernen Harrys magisches Systhem kennen und lesen ein wenig über seine Vorgeschichte, seinen Mentor und seine Familie, die später in der Serie ebenfalls eine Rolle spielen wird.

Allen, die dabei bleiben, kann ich versprechen, dass sie einen Höllenritt vor sich haben, der seinesgleichen sucht.

Sweeney Todd (Der teuflische Barbier)

Basiert Sweeney Todd auf einer wahren Geschichte oder ist er nur eine Figur, die sich ein Schriftsteller ausgedacht hat? Mit dieser Frage begrüße ich euch zum diesjährigen Halloween-Special, nachdem wir im letzten Jahr bereits die Legende des kopflosen Reiters und die Herkunft des herbstlichen Festes Halloween im Programm hatten.

Ich bin sicher, ihr habt alle schon einmal von ihm gehört. Sweeney Todd, der teuflische Barbier der Fleet Street. Sein Friseurstuhl war auf geniale Weise präpariert, denn nachdem Todd einem Kunden die Kehle durchgeschnitten hatte, bediente er einen Bolzen, der die Leiche rückwärts durch eine Falltür schickte, die in den Keller führte. Dort wurden die Opfer zu Fleischpastete verarbeitet, die in der angrenzenden Konditorei verkauft werden sollte. Geleitet wurde das Geschäft von einer Mrs Lovett, deren Vorname – je nachdem, wer die Geschichte erzählt – variiert.

Seinen ersten Auftritt hatte Sweeney Todd in “The String of Pearls” im Jahre 1846. Autor und Herausgeber: Edward Lloyd, auch wenn man hier und da etwas anderes liest. Etwa zur gleichen Zeit war bereits ein Bühnenstück aufgeführt worden, und das mit großem Erfolg. Die Bühnenversion hatte Dibdin Pitt verfasst und im Britannia Theatre in London aufgeführt. Seit der Konzeption von Sweeney Todd gibt es jedoch Stimmen, die behaupten, dass der Mann auf die ein oder andere Weise tatsächlich gelebt haben könnte. Einige sagen, dass die Figur auf einem historischen Psychokiller basiert, und wieder andere behaupten, dass er genau unter diesem Namen existiert hat. All diese Menschen betrachten Sweeney Todd als die Geschichte wahrer Begebenheiten. Zumindest bis zu einem gewissen Grad. Heute werden wir also versuchen, alle Beweise, die es da draußen gibt, zu präsentieren und so viel wie möglich über die Wahrheit herauszufinden.

Zu Beginn wollen wir Folgendes klarstellen: Es gibt keinen einzigen Beleg dafür, dass es jemals einen Menschen namens Sweeney Todd gab, der Verbrechen in der ihm zugeschriebenen Weise begangen hat. Die urbane Legende von Todd wurde schon in der viktorianischen Ära erzählt und ausgeschmückt. So wie man die Geschichte kennt, ist sie jedoch falsch, zumindest so lange, bis Historiker einen Anhaltspunkt dafür finden. Was sehr unwahrscheinlich ist. Es besteht jedoch immer noch die Möglichkeit, dass Sweeney Todd nach dem Vorbild eines echten Mörders, eines Verbrechers oder einer Legende geschaffen wurde; und genau das werden wir in dieser Folge untersuchen.

Aber bevor wir zu den interessanteren Dingen kommen, lasst uns kurz ein paar einfache Optionen besprechen. Die erste ist sehr prosaisch und wird von Michael Anglo in seinem Buch über Penny Dreadfuls – den viktorianischen Horror-Groschenheften – erwähnt, das heute etwas schwer zu finden ist. Er behauptet, dass ein Forscher nach einer gründlichen Suche in den Londoner Verzeichnissen von 1768 – 1850 entdeckte – es ist bezeichnend, dass der Name des Forschers nicht genannt wird – dass ein gewisser Samuel Todd, dessen Geschäft die Herstellung von Perlenketten war, in den 1830er Jahren in der Nähe der Fleet Street lebte. Anglo kommt zu dem Schluss, dass der Autor, während er über die Handlung einer neuen Penny Dreadful-Geschichte nachdachte, von diesem Namen inspiriert wurde und ihn einfach benutzte.

Die zweite Variante ist noch alltäglicher. Sie bezieht sich auf ein Fragment aus Charles Dickens Roman “Leben und Abenteuer des Martin Chuzzlewit”, der zwischen 1843 und 1844, also kurz bevor “The String Of Pearls” veröffentlicht wurde, in Fortsetzungen erschien. Es lautet so:

“Toms böses Genie führte ihn allerdings nicht in die Buden eines jener Hersteller von Kannibalengebäck, das in vielen gängigen ländlichen Legenden als gutgehendes Einzelhandelsgeschäft in der Großstadt dargestellt wird.”

Das soll nicht heißen, dass der Autor von “The String Of Pearls” genau dieses Fragment gelesen und als Grundlage für seine Geschichte verwendet hat, obwohl es eine interessante Hypothese ist, da eine große Anzahl von Dickens Werken sofort nach ihrer Veröffentlichung von Autoren der Groschenromane plagiiert wurde. Vielmehr war es im damaligen London eine ziemlich bekannte urbane Legende.

Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass die Geschichte über Sweeney Todd auf einen echten Mörder zurückzuführen ist, oder zumindest auf einen bestimmten Fall, der in den Zeitungen erwähnt wurde. Besagter Vorfall, der im Jahresregister gefunden wurde, weist einige Ähnlichkeiten mit der Legende auf. Hier der betreffende Ausschnitt vom Dezember 1784, Seite 208:

“Ein bemerkenswerter Mord wurde auf folgende Weise von einem Barbiergesellen begangen, der in der Nähe der Hyde Park Corner lebt. Lange Zeit war er Eifersüchtig auf seine Frau gewesen, aber es gelang ihm doch nie, ihr eine Verfehlung nachzuweisen. Zufällig kam ein junger Herr in den Salon seines Meisters, um sich rasieren und kleiden zu lassen, und als er redselig wurde, erwähnte er, einem feinen Mädchen in der Hamilton Street wiederbegegnet zu sein, von der er in der Nacht zuvor gewisse Gefälligkeiten erhalten hatte, und beschrieb gleichzeitig ihre Person. Der Friseur, der sie als seine Frau erkannte, schnitt dem Herrn, völlig wahnsinnig geworden, die Kehle von einem Ohr zum anderen auf und entwischte.”

Einige Verbinden die Geschichte von Sweeney Todd auch mit dem schrecklichen Fall von Sawney Bean, eines berüchtigten schottischen Kannibalen aus dem 16ten Jahrhundert. Meiner Meinung nach gibt es nichts, was Bean überzeugend mit unserem Barbier verbindet, außer vielleicht einer leichten Ähnlichkeit der Vornamen. Wenn Bean also tatsächlich der Mörder war, auf dem unsere Geschichte basiert, könnten wir Sweeney Todd überhaupt nicht als wahre Geschichte betrachten. Historiker haben die Legende von Sawney Bean längst entlarvt – was wir uns allerdings in einer anderen Folge etwas genauer ansehen werden.

War Sweeney Todd vielleicht ein Franzose?

Dies ist eine der Hypothesen, die aus mehreren Quellen gespeist wird. Es wurde vermutet, dass der Schriftsteller, der die Figur geschaffen hat, die Idee dazu bekam, als er mehrere ältere Ausgaben des Tell-Tale von 1824 durchging, wo er eine Geschichte über mehrere Verbrechen fand, die in der Rue de la Harpe (arp) in Paris begangen wurden. Diese Geschichte basiert auf einem früheren Bericht, der im Archiv der Pariser Polizei abgelegt wurde. Ich recherchierte selbst und ich fand tatsächlich ein Buch mit dem Namen “The Terrific Register: Or, Record of Crimes, Judgments, Providences, and Calamities”, das die gleiche Geschichte enthält wie das Tell-Tale, sozusagen Wort für Wort. Sie wurde 1925 veröffentlicht und enthält eine vollständige Darstellung der Verbrechen in der Rue de la Harpe, die ich im Folgenden zusammenfasse:

Zwei opulente Männer, begleitet von einem Hund, gingen in die Rue de la Harpe und betraten den Laden eines Frisörs, um sich rasieren zu lassen. Sie waren in Eile, also trennten sie sich, nachdem der erste Mann fertig war, der daraufhin einige Geschäfte in der Nachbarschaft erledigte, und danach zurückkommen wollte, bevor der Frisör mit seinem Freund fertig war. Als er jedoch zurückkam, informierte ihn der Frisör, dass sein Freund bereits gegangen sei. Dennoch blieb der Hund vor der Tür sitzen, also dachte der Mann, dass sein Freund nur für einen Moment weggegangen sein musste und bald zurückkehren würde. Das tat er nicht. Dann fing der Hund an zu jaulen und der Frisör bat den Mann, ihn zu entfernen. Er versuchte es, der Hund aber blieb hartnäckig. Mittlerweile hatte sich eine kleine Menge vor dem Laden versammelt und die Leute schlugen vor, hineinzugehen und nach dem verschwundenen Mann zu suchen. Als sie schließlich hineinstürmten, fanden sie niemanden. Der Frisör behauptete, er sei unschuldig, und in diesem Moment sprang ihm der Hund an die Kehle. Der Frisör wurde ohnmächtig, und er wäre gestorben, wenn man den Hund nicht angeleint hätte. Jemand schlug vor, das Tier freizulassen, um zu sehen, ob es seinen Besitzer finden könnte. Der Hund stürmte in den Keller. Bei näherer Untersuchung wurde eine Öffnung zum Nachbarhaus entdeckt, wo eine Konditorei lag. Und dort fanden sie die Leiche des vermissten Mannes. Während des Prozesses, bei dem auch die Besitzerin der Konditorei angeklagt wurde, gab der Barbier zu, dass er seine reichsten Kunden ermordete, um sie auszurauben. Die schreckliche Wahrheit wurde enthüllt.

Die Besitzerin der Konditorei, deren Laden so berühmt für herzhafte Pasteten war, dass die Leute aus den entferntesten Teilen von Paris in die Rue de la Harpe strömten, war die Komplizin dieses Halsabschneiders, und diejenigen, die vom Rasiermesser des einen ermordet wurden, wurden durch das Messer der anderen zu diesen Pasteten verarbeitet, mit denen sie – unabhängig von diesen Raubmorden – ein Vermögen verdient hatte.

Diese Geschichte wurde fast zwanzig Jahre vor der angeblich ersten Version von “The String of Pearls” auf englisch veröffentlicht. Daher müssen wir aufgrund der auffallenden Ähnlichkeit zu dem Schluss kommen, dass die Geschichte des teuflischen Barbiers aus der Fleet Street auf diesem oder einem ähnlichen Bericht basiert. Wenn die Fakten aus diesem Buch korrekt sind, hätten wir eine starke Basis, um Sweeney Todd als eine wahre Geschichte zu betrachten.

Aber – sind die Ereignisse in der Rue de la Harpe wirklich passiert? Ist Sweeney Todd eine wahre Geschichte, die zumindest teilweise auf diesen Verbrechen beruht? Es ist unwahrscheinlich, und ich habe noch keinen endgültigen Beweis dafür gefunden. Manche haben die Wahrhaftigkeit der Geschichte verteidigt, weil sie in den Memoiren aus den Archiven der Pariser Polizei von Fouché erschien, dem ersten Polizeipräsidenten der Stadt. Aber das Problem ist, dass kein anderes Dokument oder Register existiert, was angesichts der Art des Falles verdächtig erscheint.

Einige Quellen behaupten sogar, dass die Darstellung der Rue de la Harpe einer alten französischen Volkserzählung sehr ähnlich ist, die als “Geschichte des Barbiers und der blutigen Pastetenverkäuferin” aus dem Mittelalter bekannt ist. Theoretisch ist die Geschichte in einer alten Ballade nachweisbar, die folgendermaßen lautet:

Gegen Ende des 14. Jahrhunderts, das wissen wir,
da lebte dieser teuflische Barbier,
an einer Ecke in der Rue de Marmosette.
Er führte dieses schreckliche Handwerk fort
und niemand hielt ihn auf bei seinem Mord.
In seinem Keller machte er sie dann
bereit für die Arbeit nebenan.

Chor. Mit einem Kuchen, mit einem Wein, mit einem Gesang,
mit einem Kuchen, Wein, Gesang – Haha!

Die Geschichte erzählt uns auch genau
von seiner Komplizin, einer üblen Frau,
Kaltherziger als der schlimmste Landvogt.
Und all die armen Teufel, die er getötet hat
verwandelte sie in Fleischpasteten.

Und er sagte von seinen Kunden, als sie tot darniederlagen:
“Fort sind nun diese Schweinekreaturen”.

Obwohl viele Artikel im Internet sich auf diese Übersetzung beziehen, konnte ich die originale französische Ballade nirgendwo finden und niemand bietet eine seriöse Quelle dafür. Mir erscheint es auch seltsam, dass der Begriff “teuflischer Barbier” bereits in einer so frühen Version verwendet wird, und auch der Stil der Ballade ist mehr als ungewöhnlich.

In einem der Kapitel von Paul Févals “Le Vampire” wird die Rue de Marmosette vom Schriftsteller kurz erwähnt:

Paris hat schon immer Märchen geliebt, die ihr das köstliche Gefühl von Gänsehaut geben konnten. Als Paris noch sehr jung war, hatte es bereits viele Geschichten zu erzählen; von der schuldhaften Komplizenschaft zwischen dem Frisör in der Rue de Marmosette, vom Blutstrom der feinen Herren bis hin zu der galanten Metzgerei des Hauses in der Sackgasse Saint-Bernard, dessen abgerissene Mauern mehr menschliche Knochen als Steine beinhalten.

Le Vampire stammt jedoch aus dem Jahre 1865, als der Bericht über die Verbrechen in der Rue de la Harpe bereits veröffentlicht war, und hilft uns daher nicht viel.

Einer Quelle am nächsten kommt das, was in einem Buch über Sweeney Todd von Peter Haining enthalten ist. Dort heißt es, dass er ein Lied in einem Buch mit alten französischen Balladen, das 1845 veröffentlicht wurde, gefunden hat. Er nennt sogar den Namen des Herausgebers, einen gewissen M. Lurin, aber ich konnte keine Notiz über ihn oder über sein Werk finden. Angesicht der Kritik, die Hainings Buch – zumindest teilweise – für eine Erfindung ohne historische Fakten hält, ziehe ich es vor, vorsichtig zu bleiben.

Und zusammengefasst kommen wir zu dem Schluss, dass jedes Argument, das für Sweeney Todd als eine wahre Geschichte sprechen könnte, keine Berechtigung hat. Festzustellen ist, dass seit der viktorianischen Ära eine Tradition existiert, die dieses Geheimnis gerne lüften möchte. Ich schätze, dass viele Webseiten, die sich mit diesem Thema befassen, nur auf den Zug aufspringen möchten. Doch wer weiß, ob eines Tages nicht neue Beweise auftauchen werden. In der Zwischenzeit können wir noch das Penny-Dreadful-Original “The String of Pearls” und das Musical über Sweeney Todd von Steven Sondheim genießen, auf dem der Film von Tim Burton basiert. Schließlich ist jede einzelne Geschichte auf eine bestimmte Weise wahr.

Das Geheimnis des Glockenturms

Elizabeth C. Bunce: Das Geheimnis des Glockenturms (Myrtle Hardcastle #3)

Knesebeck

Elizabeth C. Bunce erzählte einmal die Geschichte, wie wie auf den Namen Myrtle kam. Das ist deshalb interessant, weil alle Titel im Original das Wort “Myrtle” anstelle von “Murder” beinhalten, was in der Übersetzung leider verloren gegangen ist. So heißt der erste Band, der bei uns bei Knesebeck erschienen ist “Mord im Gewächshaus”, in Wirklichkeit aber “Premediated Myrtle” anstatt von Premediated Murder, also vorsätzlicher Mord. Der zweite Band – “Mord im Handgepäck” heißt “How to get away with Myrtle” anstelle von “Wie man mit Mord davonkommt” – und der Band, um den es heute hier geht, nennt sich “Cold Blooded Myrtle”, anstelle von Kaltblütiger Mord. Übersetzt wurde der Titel mit “Das Geheimnis des Glockenturms”.

Myrtle war tatsächlich ein simpler Versprecher ihres Ehemanns, der Elizabeth Bunce einen Artikel über einen vorsätzlichen Mord vorlas und das Wort “Murder” so herausbrachte, dass es sich wie der Name unserer Detektivin anhörte. Es dürfte klar sein, dass Myrtle etwas zu sagen hatte und sich auf diesem Wege bemerkbar machen wollte.

Bunce kanalisiert in ihren Romanen geschickt die Energie britischer Detektivgeschichten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Damit ist sie zwar nicht allein, aber während zum Beispiel Robin Stevens in seiner Wells und Wong-Reihe eher den Stil von Agatha Christie als Vorbild nimmt, arbeitet Bunce feministische Themen ein, die häufiger bei Dorothy L. Sayers zu finden sind. Myrtle selbst ist ihrer Zeit weit voraus und kann sich mit Hilfe von Miss Judson, Dr. Munjal und einigen anderen sympathischen Erwachsenen auf eine Weise weiterentwickeln, die vielen Mädchen ihrer Zeit verwehrt blieb – und wir sprechen hier vom viktorianischen Zeitalter.

Szene vom Originalcover; Algonquin Young Readers

In “Das Geheimnis des Glockenturms” stößt unsere Ermittlerin auf ihren ersten ungeklärten Fall aus der Vergangenheit, etwas, das sich als Cold Case in unseren Jargon gearbeitet hat. Vor Jahren verschwand eine Studentin des örtlichen Colleges unter mysteriösen Umständen, und es wurde nie eine Spur von ihr gefunden. Ein Mord zu Beginn des Romans erinnert an dieses alte Geheimnis, und Myrtle, Miss Judson und die Katze Peoney machen sich auf den Weg, um eine verwickelte Geschichte von Geheimgesellschaften, kryptischen Botschaften, lang vergrabenen Geheimnissen und einem auf Rache sinnenden Mörder zu entwirren.

Diese Folge spielt in der Weihnachtszeit in Myrtles kleinem englischen Dorf Swinbourne. Festtagskrimis haben eine lange Tradition in der Kriminalliteratur, und viele unserer modernen Festtagsbräuche haben ihren Ursprung im viktorianischen Zeitalter.

Myrtle ist immer noch so impulsiv, entschlossen und unnachgiebig wie eh und je. Aber nachdem sie nun bereits mit mehreren Morden konfrontiert wurde, hat sich ihre Sicht auf die menschliche Natur definitiv erweitert. In mancher Hinsicht scheint sie verständnisvoller zu sein, aber manchmal ist sie sogar noch misstrauischer gegenüber jedem. Jeder, dem sie begegnet, scheint mörderische Absichten zu haben. In “Das Geheimnis des Glockenturms” wird Myrtle in ihren bisher persönlichsten Fall hineingezogen, in dem es auch um ihre verstorbene Mutter geht. Myrtle ist in einem Alter, in dem sie beginnt, ihre Eltern als Menschen mit Vergangenheit und Geheimnissen zu sehen, und vielleicht auch mit weniger liebenswerten Eigenschaften. Sie lernt ihre verstorbene Mutter hier aus einer anderen Perspektive kennen.

Die Myrtle-Hardcastle-Krimis bringen jungen Lesern nicht nur den Spaß an klassischen Detektivgeschichten nahe, sind aber so hervorragend geschrieben und recherchiert, dass sie auch von erwachsenen Liebhabern der gemütlichen Krimis mit Gewinn gelesen werden können. Zum Beispiel sind den einzelnen Kapiteln wie gewohnt Auszüge aus Myrtle Hardcastles Handbüchern vorangestellt. Das sind in jedem Buch andere und in diesem Roman konsequenterweise jene mit dem Titel “Die moderne Julzeit – Ein historischer und wissenschaftlicher Diskurs über Weihnachten & seine altehrwürdigen Traditionen”. Myrtle gibt auch gleich das Datum an, wann sie dies notiert hat, nämlich 1893.

Ihre Erzählung in der ersten Person zeigt – wie auch besagte Notizen und zahlreiche Fußnoten – ein äußerst aufgewecktes, sehr gebildetes und intelligentes Mädchen, von dem man auch deshalb gerne etwas erfährt, weil sie einen sehr feinen Humor besitzt. Auch dieses Buch ist vollgepackt mit historischen Kuriositäten, neuen Charakteren, neuen Blickwinkeln auf vertraute Mitglieder der bereits bekannten Besetzung und weiteren fabelhaften Schauplätzen des 19. Jahrhunderts, denn englische Dörfer haben viele Geheimnisse, denen es sich lohnt, auf den Grund zu gehen.

Es versteht sich von selbst, dass ich auch den dritten Band der hervorragenden Myrtle-Hardcastle-Reihe nicht nur jüngeren Lesern, sondern allen, die klassische Krimis lieben, ans Herz legen will. Die Bände erscheinen bei Knesebeck.

Gestaltwandler

Dieser Artikel ist Teil 17 von 17 der Reihe Fantasy-Literatur

Jede Kreatur, die in der Lage ist, eine drastische Veränderung des Aussehens herbeizuführen, ist dem Grunde nach ein Gestaltwandler. Obwohl sie manchmal monströse Formen annehmen, sind Gestaltwandler nicht immer böse. Sie können blutrünstig, schelmisch, hilfreich oder irgendetwas dazwischen sein.

Natürlich ist es schwer, das Aussehen eines Gestaltwandlers festzulegen. Als Individuen verändert sich ihre Form ständig, und als Gruppe, die sich über Dutzende von Kulturen erstreckt, halten sie eine größere Vielfalt an Formen bereit, als dass man sie alle aufzählen könnte.

Schönheit ist vielleicht der größte Trend in ihrem Aussehen. Diese Charaktere erscheinen häufig als strahlende Jungfrauen oder starke junge Männer, deren Schönheit jeden, der ihren Weg kreuzt, betört. Andere beliebte Formen sind wolfähnliche Tiere und Schlangen.

Gestaltwandler sind in ihren Fähigkeiten ebenso vielfältig wie in ihrem Aussehen. Das Gestalwandeln selbst ist manchmal mehr ein Fluch als eine eigentliche magische Fähigkeit.

In der alten Mythologie ist die Formwandlung nur eine der endlosen magischen Fähigkeiten, die von gottähnlichen Charakteren genutzt werden. In der Trickser-Folklore ist die Formwandlung die einzige magische Fähigkeit der Charaktere, aber sie kombinieren sie mit so viel List, dass sie dennoch eine mächtige Kraft darstellt. In romantischen Märchen ist die Formwandlung meist eine Belastung für an sich machtlose Charaktere, die gewöhnlich von einem mächtigeren magischen Wesen betrogen oder verflucht wurden.

In japanischen, chinesischen und koreanischen Legenden finden sich überall Spuren von Gestaltwandlern. Oft sind es Füchse, die sich in schöne Mädchen verwandeln. Diese Charaktere haben meist keine guten Absichten und benutzen ihre Schönheit, um Männer zu verführen und zu töten, aber gelegentlich stellt sich eine der Gestaltwandlerinnen als unschuldige romantische Schönheit heraus. Manchmal nehmen Gestaltwandler auch andere Formen an wie Schlangen, Katzen, Dachse und Waschbären.

Die indische und tatarische Folklore bevorzugt Gestaltwandler, die von Schlangen zu Menschen werden. Auch hier führen diese Charaktere fast nie etwas Gutes im Schilde.

Griechische und römische Mythologie
Anscheinend waren alle griechischen und römischen Götter Gestaltwandler, obwohl einige von ihnen es besonders liebten, ihre Form zu verändern und andere weniger.

Proteus, ein Meeresgott, wurde berühmt für seine Fähigkeit, von einer Form zur anderen zu wechseln, sobald Feinde ihn verfolgten. Zeus, der Anführer der Götter, nutzte sein Talent im Gestaltenwandeln für einen schändlichen Zweck; da er den Ruf hatte, Frauen schlecht zu behandeln, nutze er seine Gabe als eine Möglichkeit, sich einem neuen Opfer in anderer Gestalt zu nähern.

Auch waren die Götter in der Lage, andere Menschen in Tiere und Objekte zu verwandeln. Oft wurde diese Art der Verwandlung als Strafe benutzt; die Göttin Athena verwandelte die sterbliche Arachne in eine Spinne, weil sie Athenas Geschicklichkeit beim Weben herausgefordert hatte, und Zeus verwandelte den sterblichen Lykaon in einen Wolf, weil er versuchte, Zeus dazu zu bringen, Menschenfleisch zu essen. In anderen Fällen nutzten die Götter ihre transformativen Kräfte jedoch auch, um einen Sterblichen zu schützen. Zeus verwandelte Io, eine schöne Nymphe, in eine Kuh, um sie vor seiner eifersüchtigen Frau Hera zu verstecken, und Apollo trauerte um den Verlust seines Geliebten Hyakinthos, indem er ihn in eine wunderschöne Blume verwandelte. Die meisten dieser Sterblichen wurden nicht zu wahren Gestaltwandlern, nachdem sie von den Göttern verändert worden waren, weil sie eben nicht in der Lage waren, sich wieder in eine menschliche Form zurück zu verwandeln. Sie waren für den Rest der Zeit in einer nicht-menschlichen Form gefangen.

Wie die Griechen schrieben auch die Nordländer ihren Göttern die Kraft der Formwandlung zu. Loki, der Gott des Chaos und des Unfuges, mochte die Formwandlung besonders gerne und konnte jede gewünschte Form annehmen, er bemutterte sogar ein paar Monster, während er in weiblicher Gestalt auftrat! Freyja, die Göttin der Liebe und Fruchtbarkeit, hatte einen Umhang aus Falkenfedern, der es ihr erlaubte, sich nach Belieben in einen Falken zu verwandeln. Ebenso liebte es Odin, sich in die Form eines Adlers zu verwandeln.

Manchmal wurden selbst die sterblichen nordischen Menschen dazu inspiriert, die Form zu wechseln. Die Schamanen glaubten, dass sie durch das Erreichen eines rituellen Zustandes ihren Geist aus ihrem Körper in die Form eines Tieres hinein leiten könnten, um so durch die Welt zu wandern, während die als “Beserker” bekannten Krieger glaubten, dass sie die Gestalt eines Wolfes annehmen oder im Kampf tragen könnten, indem sie sich die Haut des Tieres umlegten. Bewusstseinsverändernde Drogen mögen dafür verantwortlich gewesen sein, sowohl Schamanen als auch Berserkern davon zu überzeugen, dass sie tatsächlich Gestaltwandler waren.

Hexen, Barden und Zauberer sind für den Löwenanteil der Formwandlungsprozesse in der keltischen Folklore verantwortlich. Mit ihrer Gabe und Magie konnten diese Charaktere fast jede Form annehmen, die sie wollten, und sie verfluchten häufig auch Helden und Prinzessinnen und gaben ihnen eine hässliche Gestalt, bis der Fluch gebrochen war.

Im alten Schottland spukten zwei besondere Arten von Gestaltwandlern in den Gewässern. Selkies, eine Art Seehund, der sich in einen Menschen verwandeln konnte, hatte seinen Spielplatz im Meer, während Kelpies, ein Wassergeist, der sich in ein Pferd oder eine Frau verwandeln konnte, in den Seen und Flüssen lebte. Beide Kreaturen versuchten, Menschen ins Wasser zu locken, wo sie häufig ertranken.

Das Navajovolk und viele verwandte Stämme nennen die Tradition von “Skinwalkern” ihr eigen, eine Gruppe von Hexen, die sich in Kojoten, Wölfe, Füchse, Eulen oder Krähen verwandeln können. Während die Skinwalker sicherlich nicht menschenfreundlich sind, sind sie aber auch nicht besonders gefährlich. Sie genießen es, Menschen zu erschrecken, aber sie haben noch nie jemandem körperlichen Schaden zugefügt.

Gestaltwandler haben die menschliche Vorstellungskraft schon immer beeinflusst, und sie sind weiterhin zentrale Figuren in unseren Fiktionen.

Spezifische Charaktere finden sich in einigen der beliebtesten Fantasy-Romane dieses Jahrhunderts. In J.R.R. Tolkeins Hobbit verwandelt sich ein Charakter namens Beorn in einen Bären; in C.S. Lewis Chroniken von Narnia verwandelt sich ein Charakter namens Eustace Scrubb in einen Drachen; in T.H. Whites’ Der König auf Camelot nehmen sowohl Merlin als auch der junge König Arthur verschiedene Tierformen an; und in J.K. Rowlings Harry Potter-Serie gibt es eine Gruppe von Hexen und Zauberern, bekannt als Animagi, die sich in verschiedene Tiere verwandeln.

Kindermärchen, die zuerst von den Gebrüdern Grimm und Hans Christian Anderson verbreitet und später von Walt Disney kommerzialisiert wurden, haben ebenfalls Gestaltwandler auf ihren Seiten willkommen geheißen. In vielen Fällen ist ein schöner Prinz oder eine schöne Prinzessin in einer monströsen Form gefangen, und ihre einzige Hoffnung auf Erlösung besteht darin, die wahre Liebe zu finden. Die Erfolgsfilme Die Schöne und das Biest, Die Schwanenprinzessin und Shrek haben alle dieses Thema verwendet.

Aber insgesamt ist der bekannteste Gestaltwandler von heute der Werwolf, ein Mann, der sich meist bei Vollmond in einen Wolf verwandelt. Diese Kreatur inspirierte eine Reihe von frühen Horrorfilmen, und heute hat sie eine gewichtige Rolle in den romantischen übernatürlichen Romanen der Populärkultur übernommen.

Alan Bradley: Mord im Gurkenbeet (Flavia de Luce #1)

Die Streußel schmecken süß, jedoch
viel süßer schmeckt der Boden noch.”

Eines muss ich vorweg schicken: Wir haben es hier nicht definitiv mit einem Jugendroman zu tun, obwohl man sich natürlich glücklich schätzen kann, wenn Jugendliche diesen Roman lesen und auch genießen können. Sicher ist Flavia de Luce ein elfjähriges Mädchen, aber – wie wir gleich sehen werden – unterscheidet sie sich in fast jeder Hinsicht von dem, was man von einem 11-jährigen Mädchen erwarten kann. Tatsächlich ist die ganze Reihe vom Goldenen Zeitalter der Krimis durchtränkt, beeinflusst von der Wertschätzung des Autors für die Arbeit von Chesterton, Agatha Christie, Conan Doyle oder Dorothy L. Sayers. Das heißt, dass es sich um herrlich altmodische Krimis handelt, die mit einigen intellektuellen Seitenhieben aufwarten.

Random House

Die Entstehungsgeschichte des ersten Flavia de Luce-Romans “The Sweetness at the Bottom of the Pie”, der bei uns wieder einmal jeglicher Poesie beraubt wurde und in nichtssagender deutscher Tradition “Mord im Gurkenbeet” lautet, ist bereits ein kleines Phänomen. Der Kanadier Alan Bradley schrieb bis dahin hauptsächlich Drehbücher, bevor er auf die Idee kam, etwas anderes zu machen. Es war seine Frau, die im Radio davon erfuhr, dass die britische Crime Writers’ Association einen Romanwettbewerb veranstaltete. Es sollte – wie das nicht selten üblich ist – das erste Kapitel und ein Exposé eingereicht werden. Tatsächlich arbeitete Bradley 2006 gerade an einem Buch, das in den 1950er Jahren spielt, als sich die Handlung dahingehend entwickelte, dass ein Detektiv an einem Landhaus ankam und in der Einfahrt ein kleines Mädchen vorfand, das “auf einem Hocker saß und irgendetwas mit einem Notizbuch und einem Bleistift machte”. Dieses kleine Mädchen spielte im Roman gar keine wichtige Rolle, aber Bradleys Frau bestand darauf, dass er für den Romanwettberwerb den aktuellen Roman verwerfen und stattdessen das Zeug mit dem Mädchen auf dem Hocker an die Crime Writers’ Association schicken solle.

Bradley selbst erklärt:

“Sie tauchte auf der Seite eines anderen Buches auf, an dem ich gerade schrieb, und übernahm einfach die Geschichte”.

Ein Kanadier in England

Anfang 2007 nahm Bradley am Dagger-Wettbewerb teil und reichte fünfzehn Seiten über die Figur des “Mädchens auf dem Hocker” ein, die nun Flavia de Luce hieß. Diese Seiten, die in wenigen Tagen geschrieben und mehrere Wochen lang poliert wurden, sollten die Grundlage für “The Sweetness at the Bottom of the Pie werden”.

Bradley siedelte das Buch in England an, obwohl er noch nie da war. Das kommt bei Autoren aus Übersee allerdings häufig vor. Denken sie an einen Krimi, denken sie auch sofort an England. Mit diesem ersten Kapitel überzeugte Bradley die Jury sofort und gewann den renommierten Dagger für ein Debüt, das es noch gar nicht gab. Es kam zu einem Bieterkrieg, und am 27. Juni 2007 verkaufte Bradley dem Verlag Orion die Rechte für drei Bücher in Großbritannien. Im Alter von 69 Jahren verließ Bradley zum ersten Mal Nordamerika, reiste nach London und nahm den Dagger Award entgegen. Dann erst schrieb er den Roman fertig, der 2009 erschien und eine Flut von Lobpreisungen einheimste.

Bradley beschreibt das Thema als “jugendlichen Idealismus” und wie weit dieser Idealismus jemanden bringen kann, “wenn er nicht unterdrückt wird, wie es so oft der Fall ist”. Er erklärt:

“Wenn man in diesem Alter ist, hat man manchmal eine große, brennende Begeisterung, die sehr tief und sehr eng ist, und das ist etwas, das mich immer fasziniert hat – diese Welt der 11-Jährigen, die so schnell verloren geht.”

Der Tote im Gurkenbeet

Tatsächlich ist “Mord im Gurkenbeet” mittlerweile ein moderner Klassiker des Krimi-Genres. Vom ersten Absatz an webt Bradley auf brillante Weise ein Netz aus Mord und Privilegien um die Protagonistin und Detektivin Flavia de Luce. Dabei ist Flavia nicht die typische britische Nachkriegs-Teenagerin. Sie hat eine Leidenschaft für Gift – und für alles, was mit Chemie zu tun hat -, die sie im Labor von Buckshaw, ihrem Familiensitz im ländlichen England, kultivieren kann. Ihre neugierige und unabhängige Art scheint sie eher von ihrer verstorbenen Mutter geerbt zu haben als von ihrem distanzierten, philatelistischen Vater.

Cover der portugiesischen Ausgabe

Diese Fähigkeiten erweisen sich als nützlich, als ein Mann im Gemüsegarten der Familie de Luce stirbt, nur wenige Stunden nachdem ein toter Vogel mit einem ungewöhnlichen Gegenstand im Schnabel vor der Küchentür auftaucht: einer Briefmarke. Flavia bleibt nicht untätig, während sie sich Sorgen macht, dass ihr Vater – den sie am Abend zuvor mit dem getöteten Fremden in seinem Arbeitszimmer streiten hörte – oder sein verbissen loyaler Diener und Tausendsassa Dogger etwas damit zu tun haben könnten. Mit ihrem eigenwilligen Verstand und einigen zufällig aufgeschnappten Informationen von der Polizei beginnt Flavia mit ihren privaten Ermittlungen und beginnt, dieses Geheimnis von Weltklasse zu lüften.

Das Rezept für einen fesselnden Krimi

In einer Kleinstadt wie Bishop’s Lacey gibt es nur einen Ort, an dem ein Fremder eine Unterkunft suchen kann. Aber Flavias Nachforschungen verbreiten sich schnell über die ganze Stadt, als klar wird, dass dieser Fremde nicht nur dem Vater bekannt war. Sogar Mrs. Mullet, die klatschsüchtige Köchin, hat Informationen, die ihr helfen können. Auch sie entgeht Flavias Verdacht nicht, denn es könnte ihr Schmandkuchen gewesen sein, der zwar von allen Bewohnern Buckshaws gemieden wird, der aber durchaus dem Opfer das Gift verabreicht haben könnte.

Tatsächlich entgehen nur Flavias beide ältere Schwestern ihrem Verdacht: die siebzehnjährige Ophelia, “Feely” genannt und die dreizehnjährige Daphne, “Daffy” genannt. Es ist nicht die familiäre Loyalität, die sie schützt, eher das Gegenteil. Die Beziehung der Schwestern ist auf amüsante Weise bissig. Flavia ist zahlenmäßig unterlegen, aber in Sachen ausgeklügelter Streiche ziemlich listenreich.

Die meiste Zeit über tragen die älteren Schwestern jedoch einfach nur zur Handlung bei, indem sie die Familiendynamik aufbauen und mit Feelys ständigem Auftrumpfen und Daffys Lesesucht für eine nette Prise Komik sorgen. Die anderen Mitglieder des Haushalts, der Vater und Dogger, leiden beide noch unter den Narben des Zweiten Weltkriegs, der gerade fünf Jahre zurückliegt. Es ist dieses Trauma, das sie mit sich herumtragen, das Flavia am meisten beunruhigt, denn ihr Vater zeigt kurze Augenblicke seines früheren, selbstbewussten Wesens, wenn er gereizt wird, und Dogger ist dafür bekannt, dass er geistige Aussetzer hat … oder sogar Schlimmeres.

In der Zwischenzeit stehen Fremde und Bewohner gleichermaßen unter der Beobachtung von Inspektor Hewitt. Nachdem er Flavia am Tatort zunächst abgewiesen hat, erkennt der Inspektor schnell, wie kompetent Flavia ist… und auch, wie sehr sie sich in Gefahr begibt. Flavia geht dem Inspektor zielstrebig aus dem Weg, während sie der Spur durch staubige Bibliotheken und verfallene Stadthäuser, Süßwarenläden und ländliche Friedhöfe und sogar bis zur Polizeiwache selbst folgt. Hier wird die Besorgnis von Inspektor Hewitt um Flavia sehr deutlich. Überschattet wird dies von der Aufregung über einen Durchbruch in dem Fall, als der Vater, der den Mord gestanden hat, Flavia von seiner Vergangenheit erzählt und sich die Puzzleteile langsam zusammenfügen. Der Vater nimmt Flavia mit in seine Erinnerungen an seine Internatszeit, in der seine Liebe zu Briefmarken begann, und an die verschiedenen Figuren, die seine steinige Karriere an der Greyminster School prägten. Während seiner Schulzeit lernte er auch die Kunst der Zaubertricks kennen. Dort, wo sich diese beiden Interessen treffen, beginnt das eigentliche Geheimnis.

Nun tritt die Geschichte in ein neues, spannendes Stadium, da sie den Charakter eines “Cold Cases” annimmt. Und nicht nur ein “Cold Case”, sondern ein historisches, jahrhundertealtes Drama, in dem es um Arme, Könige und Briefmarken geht. Der Vater erzählt all diese Geschichten und auch seine eigene, während er in einer Zelle der örtlichen Polizei sitzt. Ein Teil der Geschichte handelt von den “Ulster Avengers”, Rächer von Ulster” genannt, einem Paar einzigartig eingefärbter schwarzer Penny-Briefmarken, die seit ihrem Druck vor einem Jahrhundert sehr begehrt sind. In Vaters Teil der Geschichte geht es um die mysteriösen Ereignisse eines verpfuschten Schülerstreichs, in den eben eine dieser Rächer von Ulster verwickelt war.

Flavia beginnt sofort mit ihren Nachforschungen in der Greyminster-Schule, wo die Stimmung immer bedrohlicher wird, während sie sich durch die verstaubten und verschimmelten Hinweise auf ein Jahrzehnte altes Verbrechen wühlt. Nach ihrer Rückkehr nach Hause kommt Flavia langsam, aber unaufhaltsam der Lösung des Rätsels auf die Spur, das sich durch die historischen und jüngsten Ereignisse zieht und in dem Mord im Gurkenbeet gipfelt. Wie eine Chemikerin, die eine besonders schwierige Verbindung sorgfältig destilliert, ist Flavia in der Lage, die wesentlichen Elemente von Ablenkungsmanövern zu unterscheiden.

Die Struktur der Erzählung ist tadellos, und Bradley ist ein Meister darin, Stimmung und Charakter zu erzeugen. Es scheint, als ob jeder Satz im Gesamtzusammenhang des Romans entstanden ist. Von den ersten Worten an verwendet er beispielsweise Farb-Metaphern, um die Erzählerin Flavia zu beschreiben.

Flavia selbst ist eine fabelhaft humorvolle und komplexe Figur. Ohne Mutter – oder, in vielerlei Hinsicht auch ohne Vater – ist sie einsam, obwohl sie nicht allein ist. Wenn man ihr dabei zusieht, wie sie ihre Unabhängigkeit behauptet und gleichzeitig Einblicke in ihre Verletzlichkeit erhält, kann man Doggers und Hewitts Beschützerinstinkt noch mehr erfassen. Es gibt eine Reihe von ergreifenden Momenten, in denen man an die Zerbrechlichkeit unter ihrer harten Schale erinnert wird.

Alan Bradleys “Mord im Gurkenbeet” ist ein Juwel von einem Buch, trotz des bescheuerten aber nicht ganz falschen Titels. In dieser raffinierten Geschichte finden sich immer wieder Wendungen, über die man staunen – und oft auch schmunzeln – muss. Mit Flavia de Luce hat Bradley einen neuen Archetypus der kriminalistischen Detektivin geschaffen, von der gerade jetzt, da die Reihe abgeschlossen ist – etwas auf Myrtle Hardcastle übergegangen ist, wenn auch in einer ganz anderen Weise.

Steven Erikson: Das Spiel der Götter. Ein Vorgespräch

Dieser Artikel ist Teil 16 von 17 der Reihe Fantasy-Literatur
Wie einige der legendärsten Fantasy-Welten hat auch die Welt um Malazan ihre Wurzeln im Tabletop-Spiel. Ab 1981 begannen die beiden kanadischen Autoren Ian Cameron Esslemont und Steven Erikson mit Hilfe von Advanced Dungeons and Dragons (später GURPS – Generic Universal Role Playing System), eine Fantasy-Welt zu erschaffen, wie sie noch nie zuvor gesehen worden war. Oftmals ist die Veröffentlichungspolitik deutscher Verlage eine einzige Katastrophe. Da werden Serien begonnen und nie zu Ende geführt, die Übersetzungen sind im besten Fall durchwachsen, die Editionen werden mittendrin ohne Sinn und Verstand gewechselt. Was die Übersetzung betrifft, hat man hier mit Tim Streatmann einen Glücksgriff getan, auch wenn Das Spiel der Götter als Titel von “Malazan Book of the Fallen” leicht daneben liegt, denn er impliziert ein Spiel, das die Götter spielen, was nicht der Fall ist; vielmehr tanzen hier viele Mächte ein Ringelreihen, und Götter können selbst von Sterblichen besiegt werden. Die fast schon übliche Zweiteilung der einzelnen Romane ist hier gar nicht so unsinnig wie es zunächst scheint, denn die massiven Ziegelsteine, die Erikson schreibt, würden zusammengefasst eine Schriftgröße erfordern, die nicht mehr zu genießen ist. Bleibt noch die Kritik am Wechsel des Formats. Anfangs ärgerte ich mich natürlich wahnsinnig darüber, denn die Ausgaben seit 2000 waren gut und sogar die Cover ähnelten jenen der Originalausgabe (manchmal wurde sie zumindest für einen der Teilbände sogar ganz übernommen). Um also eine ordentliche Serie im Regal zu haben, müsste man sich das neue Format mit neuen Covern besorgen und die wirklich guten Bücher, die man bis dahin schon hatte, dem Müll übergeben. Es sei denn, es ist einem wurscht, welches Chaos im Regal herrscht. Den Ärger mal beiseite geschoben (das wird uns immer wieder so ergehen), sieht die neue Ausgabe im Schrank dann aber tatsächlich besser aus. Und da es bei mir ohnehin völlig chaotisch zugeht, ist die komplette Serie ein kleines Schmuckstück, auch wenn ich alles noch einmal kaufen muss (was natürlich ein persönliches Ding ist).

Die Wurzeln im Tabletop-Spiel

Wie einige der legendärsten Fantasy-Welten hat auch die Welt um Malazan ihre Wurzeln im Tabletop-Spiel. Ab 1981 begannen die beiden kanadischen Autoren Ian Cameron Esslemont und Steven Erikson mit Hilfe von Advanced Dungeons and Dragons (später GURPS – Generic Universal Role Playing System), eine Fantasy-Welt zu erschaffen, wie sie noch nie zuvor gesehen worden war. Esslemont schrieb in den späten 1980er Jahren zwei Romane, Night of Knives und Return of the Crimson Guard, aber sie wurden erst fast zwanzig Jahre später (stark überarbeitet) veröffentlicht. Erikson schrieb ein Drehbuch namens Gardens of the Moon, und als niemand Interesse zeigte, überarbeitete er das Skript zu einen Roman. Wieder war niemand interessiert. Erst als Erikson 1998 den Mainstream-Roman This River Awakens veröffentlicht hatte und dann von Kanada nach Großbritannien zog, erregte er endlich Aufmerksamkeit. Die Gärten des Mondes wurden 1999 mit großem Erfolg herausgebracht und die Legende nahm ihren Lauf.

Der glückliche Zufall

Erikson hatte bereits mit der Arbeit an der ersten Fortsetzung, Memories of Ice, begonnen, als die Festplatte seines Computers den Geist aufgab. Da er keine Backups hatte und nicht bereit war, von vorne anzufangen, begann er stattdessen einen ganz anderen Roman zu schreiben, der auf einem anderen Kontinent spielte. Dieser Roman wurde zu Im Reich der Sieben Städte / Im Bann der Wüste (Deadhouse Gates; 2000). Bei diesem doch eher glücklichen Zufall nahm die Serie ihre vertraute Struktur des Wechsels der Protagonisten und Schauplätze mit jedem weiteren Buch an. Erikson arbeitete für das nächste Jahrzehnt fast ohne Unterbrechung an der Serie: Das neu geschriebene Memories of Ice (Die eisige Zeit / Der Tag des Sehers) wurde schließlich 2001 veröffentlicht. Es folgten Der Krieg der Schwestern / Das Haus der Ketten (House of Chains; 2002), Kinder des Schattens / Gezeiten der Nacht (Midnight Tides; 2004), Die Feuer der Rebellion / Die Knochenjäger (The Bonehunters; 2006), Der goldene Herrscher / Im Sturm des Verderbens (Reaper’s Gale; 2007), Die Stadt des blauen Feuers / Tod eines Gottes (Toll the Hounds; 2008), Die Flucht der Kinder / Die Schwingen der Dunkelheit (Dust of Dreams; 2009) und Die gläserne Wüste / Der verkrüppelte Gott (The Crippled God; 2011), die das zentrale Motiv der Malazan Book of the Fallen-Sequenz vervollständigten. Gegenwärtig sind alle Bücher übersetzt (die letzten beiden aus Gründen, die ich nicht kenne, von Simon Weinert) und sind für nächstes Jahr angekündigt. In der Zwischenzeit schrieb Esslemont die komplementäre Sequenz Tales of the Malazan Empire, die sechs Bände umfasst. Esslemonts Romane folgen meist dem, was im Malazanischen Empire passiert, wenn sich Eriksons Kernsequenz von den dortigen Handlungen entfernt und den Ereignissen auf der anderen Seite der Welt folgt. Meine Anfrage an Blanvelet, ob damit zu rechnen sei, eines Tages auch die Esslemont-Sequenz in Übersetzung vorliegen zu haben, wurde vom Verlag nicht beantwortet, was sehr bedauerlich ist, aber nicht zum ersten Mal passiert. Nach Abschluss der Hauptserie begann Erikson mit dem Schreiben der Kharkanas-Trilogie, einer Prequel-Serie, die über 300.000 Jahre vor der Malazan-Hauptserie spielt. Der letzte Band steht noch aus. Und auch Esslemont schreibt gegenwärtig eine Prequel-Serie, die ein Jahrhundert vor der Gründung des Malazanischen Imperiums (und somit der Hauptserie) spielt.

Eine neue Messlatte im Fantasy-Kanon

Ich lehne mich sicher nicht weit aus dem Fenster, wenn ich behaupte, dass wir in Deutschland niemals in den Genuss der ganzen Serie kommen werden. Wer von den Lesern sich hinauswagt, um eine jetzt schon klassisch zu nennende (und gewaltige) Romanserie zu lesen, könnte bereits das erste Buch der Serie völlig überwältigt und verwirrt bei Seite 200 niederlegen, und wäre damit in bester Gesellschaft. Das nämlich wird von den meisten, die vorzeitig aus der Serie ausgestiegen sind, in etwa angegeben. Es gibt aber auch jene, denen beim Lesen sehr schnell klar wird, dass sie der Entstehung eines einzigartigen Meisterwerks beiwohnen. Steven Erikson hat mit der Serie „The Malazan Book of the Fallen“ die Messlatte für die Fantasy-Literatur auf eine neue Stufe gelegt. Die volle Wirkung, die seine Art des Geschichtenerzählens auf die Welt der Literatur hat, wird wohl erst in einigen Jahren spürbar sein, aber es gibt doch bereits einige – Fans des Genres und der Serie – die jetzt schon begreifen, wie sehr diese Saga die Welt verändert hat. Es ist nicht vermessen, zu behaupten, dass dies eine der bedeutendsten Fantasy-Serien ist, die je geschrieben wurden. Zumindest ist es schwer, etwas zu finden, das ihr auch nur nahe kommt. Doch Eriksons Werk geht weit darüber hinaus, das Meisterwerk eines bestimmten Genres zu sein; es ist das Kronjuwel der erzählenden Literatur an sich. Kaum ein noch so gefeierter Autor hat jemals so etwas Gewaltiges geschaffen. Leider wird das außerhalb des Genres nicht wahrgenommen werden. Die Ignoranz ist schließlich nicht weniger gewaltig. Natürlich hat Erikson die Bücher nicht geschrieben, um damit Preise oder Ruhm zu ernten. Wäre es ihm darum gegangen, hätte er seine Arbeit zugänglicher gestaltet, denn Preise gewinnt man nun einmal nur dann, wenn man eine gewisse Tagesaktualität verfolgt und nicht unbedingt Universalität abbildet. Stattdessen hat er eine Reihe von Büchern geschrieben, die man im Grunde nur den fortgeschrittenen Lesern da draußen ans Herz legen kann. Und selbst die müssen mindestens zwei Durchgänge in Kauf nehmen, um die Fülle an Informationen, Handlungen, Schauplätzen und Figuren, die Erikson präsentiert, vollständig zu verstehen. Wer immer sich entscheidet, das „Spiel der Götter“ zu lesen, begeht keinen Fehler und wird vermutlich eine der anspruchsvollsten literarischen Erfahrungen seines Lebens machen. Der Gewinn ist zu groß, um ihn zu ignorieren. Steven Erikson nimmt den Leser nicht an der Hand. Er zwingt ihn, sich Fragen zu stellen und selbständig zu denken, wie es nur wenige Autoren überhaupt wagen würden, aus Angst, kein Publikum zu finden. Aber er hat sein Publikum gefunden, und das ist gar nicht klein.

Ein neuer Begriff für das Epische

Steven Erikson wusste ganz genau, wo er hin wollte, und er wusste auch, dass es einer der längsten Wege der Literaturgeschichte werden würde (gegenwärtig ist nur Robert Jordans “Rad der Zeit” umfangreicher, zu Ende gebracht hat er seine Serie nicht, das wurde von Brandon Sanderson erledigt). In Die Gärten des Mondes findet er gerade erst heraus, wie er das Gleichgewicht zwischen der Komplexität im Weltenbau und der Klarheit des Geschichtenerzählens herstellen kann. Und die Welt, die wir hier geboten bekommen, ist wahrlich atemberaubend. Erikson hat Jahrzehnte seines Lebens damit zugebracht, den Grundstein für diese Serie zu legen. Die Erfahrung, die er als professioneller Anthropologe und Archäologe gesammelt hat, merkt man jeder dieser fabulösen Seiten an. Das Reich der Malazaner, der Kontinent Genabackis und die Freien Städte sind mit einem herausragenden Detailreichtum ausgestattet. Sie fühlen sich echt an. Und dieses erste Buch ist die Hürde, die es grundsätzlich zu nehmen gilt. Das Niveau der schieren Daten kann durchaus beängstigend sein. Dies alles sollte trotzdem niemanden von diesem außerordentlichen Lesevergnügen abbringen. Episch ist ein Wort, das in der Welt der Fantasy und Science Fiction oft verwendet wird, aber Steven Erikson hat den Begriff neu definiert. Die Geduld, die man für manche Passagen des ersten Bandes benötigt, sollte man aufbringen, denn nach den schwierigen „Gärten des Mondes“ bekommen wir mit „Deadhouse Gates“ (Im Reich der Sieben Städte / Im Bann der Wüste) einen der stärksten Teile der Serie, und spätestens im dritten Band will man alles über die Welt von Malazan wissen. Außerdem gibt es auf den fast 9.000 Seiten so viele wunderbare Charaktere, dass die Hälfte von ihnen selbst als Protagonisten eines eigenen Romans taugen würden. Der Weltenbau ist hier in einem beispiellosen Ausmaß angelegt und Erikson hat mit der Welt des Malazanischen Imperiums Romane vorgelegt, denen man sein ganzes Leben widmen könnte. All das wäre aber nicht halb so viel wert, wenn Eriksons Stil nicht voller Witz, Charme, philosophischer Brillanz und so voller Fantasie wäre, dass er damit die kreativsten Autoren durchaus auf die Plätze verweist. Man wird es nicht leicht haben, dem zu widersprechen und jemanden zu benennen – egal aus welchem Genre – der sich mit dieser gewaltigen Arbeit messen lassen kann. Selbstverständlich sind die Geschmäcker verschieden und sie Serie ist nicht etwa fehlerfrei. Ich sage noch nicht einmal, dass es meine Lieblingsserie ist, auch wenn sich das so anhören mag, aber rein technisch gesehen zeigt ist sie mehr als beeindruckend.

Der Humor in den Büchern

Der eine Aspekt, über den bisher nicht annähernd genug gesprochen wurde, ist der Humor in den Büchern. Diese Serie ist weit davon entfernt, eine Komödie zu sein, und doch ist Erikson ein Meister des Dialogs und hält den Leser die ganze Serie über in Atem. Und das ist gar keine leichte Aufgabe, bedenkt man, wie dunkel einige Stellen der Romane sind. Leider dauert es eine Weile, bis sich eine emotionale Verbindung zu Eriksons Figuren einstellt, weil es so viele von ihnen gibt. Aber sobald diese Bindung da ist, werden all diese Charaktere zu alten Freunden werden. Zurecht ist Das Spiel der Götter die Serie, mit der alle anderen bedeutenden Fantasy-Serien gegenwärtig verglichen werden. Erikson hat quasi im Alleingang (auch wenn Esslemont seine eigenen Netze spannt) all das, was wir über Fantasy zu wissen glauben, verändert und neu definiert. Fantasy-Fans auf der ganzen Welt wissen, dass wir ein Werk dieser Größenordnung vermutlich nie wieder zu Gesicht bekommen werden (auch wenn mit Brandon Sanderson jederzeit zu rechnen ist). Es ist die Vision eines ganzen Lebens und Steven Erikson hat sich mit The Malazan Book Of The Fallen an die Spitze seines Genres gesetzt und als einer der visionärsten Autoren etabliert, die es heutzutage gibt.