Seit Carrie, seinem ersten Roman, stellt Stephen King eine Gewissheit auf, die ihn durch sein gesamtes Werk begleiten wird: Wahrer Horror ist in der Realität verankert. Das Übernatürliche – Telekinese, das Monströse, das Unheimliche, das Außerirdische – fungiert oft als eine Art Ruhepol in einer stets klaustrophobischen Handlung. Der wahre Horror erscheint dann in Form von Alkoholismus, häuslicher Gewalt, Ehrgeiz, Obsessionen, Trauer, religiösem Fanatismus.
Von Anfang an hatte es King darauf angelegt, den großen amerikanischen Roman zu schreiben. Das ist der Traum eines jeden Schriftstellers seit dem 19ten Jahrhundert. Daran versuchten sich Autoren wie Philip Roth, Ernest Hemingway oder William Faulkner und natürlich viele mehr. Aber es ist Stephen King, der dieses ehrgeizige Ziel wirklich erreicht hat. Der Grund ist relativ simpel: Der Horror ist das Genre, das alles Tun der Menschheit am besten erklärt.
In Kings Romanen finden wir das Grauen auf die schrecklichste Art und Weise dargestellt. Es sind jene Dinge, die ihn selbst erschrecken. Betrachtet man das von der Basis seiner Autorenschaft her, macht ihn das zum interessantesten Autor überhaupt. Nehmen wir als Vergleich Mary Shelly, die mit ihrem Frankenstein-Roman den eigentlichen Horror-Boom auslöste. Sie spricht da über den Schrecken jener Zeit, über den Fortschritt der Wissenschaft; aber das Erschreckende in diesem Roman ist nicht das grüne Monster, das im Billigkino über die Leinwand flimmerte, sondern das, was mit den Menschen geschieht. Und genau das tut Stephen King in seinem Werk, in dem er selbst auch immer präsent ist. Wenn er über Schriftsteller mit Alkoholproblemen schreibt, erkennt man immer den großen Erzähler aus Maine. In vielen seiner Geschichten. In “Misery” gibt es einen Bestseller-Autor und einen fanatischen Fan, eine ehemalige Krankenschwester, die ihn entführt. Es gibt häufig eine King-ähnliche Figur in seinen Romanen. Er schrieb einen sehr schönen Roman mit dem Titel “Lisey’s Story” (dt. “Love”), in dem wir lesen, was mit der Witwe eines Horrorschriftstellers passieren kann. Diese Witwe ist natürlich Tabitha, seine Frau. Jemand, der in seinem Werk ebenfalls sehr präsent ist.
Merkwürdigerweise wird King nach wie vor von Leuten in die Horror-Schublade gesteckt, die sehr wenig von Literatur verstehen, und wahrscheinlicher noch weniger von King selbst. Bedenkt man, dass César Aira, also jemand, der immer wieder für den Nobelpreis nominiert ist, King ins argentinische Spanisch übersetzt hat, wird diese Kluft erstaunlich offenbar.
King baut mit jedem einzelnen Roman an einem Kanon. Das gelingt ihm, weil er nicht nur ein großer Schriftsteller, sondern auch ein großer Leser ist, ein Kulturkonsument. Er interessiert sich für Serien, Filme und Musik und referiert fleißig auf all diese Dinge. Er macht Musik, spricht über Musik, und bezieht Musik auf sehr interessante Weise in seine Erzählungen ein.
Viele seiner Geschichten drehen sich um das Erwachsenwerden. Es gibt eine Geschichte, die später verfilmt wurde und an die wir uns alle erinnern. “Stand by me” ist ein Initiationsfilm, in dem es um eine Gruppe von Jungen geht, die sich auf ein Abenteuer begeben, um die Leiche eines Toten zu suchen. Die Geschichte heißt natürlich “Die Leiche”, und darin geht es auch um eine andere, introspektive Reise. Erzählt wird sie von einem erwachsenen Schriftsteller, der sich an den Moment des Erwachsenwerdens erinnert. Im Grunde geht es um die Traurigkeit, die Unschuld zu verlieren. Stephen King ist heute 75 Jahre alt geworden und wie jeder große Geist immer noch ein Kind. In vielen seiner Bücher sind Kinder die wahren Protagonisten.
Der Phantastikon-Podcast widmet sich auch in Zukunft dem Gesamtwerk, beginnend bei Carrie, einem Roman, der über Mobbing spricht, lange bevor Mobbing überhaupt auf die Tagesordnung gesetzt wurde, über religiösen Fanatismus in der Figur der Mutter, über Ignoranz und darüber, wie man aus der Norm ausbricht, die Gewalt gegenüber demjenigen erzeugt, der sich outet, der aber später so erzählt wird, als wäre das Opfer die eigentliche Gewalttätige. Alles begann 1974 mit Carrie und es ist ein unglaublicher Roman mit Rekonstruktionen von Zeitungen, Nachrichten, Fragmenten von Gerichtsakten. Das Erschreckende an dem Roman ist nicht das telepathische Mädchen, sondern alles, was sie diesem armen Mädchen antun. Er macht uns mit der Gewissheit vertraut, dass wir alle irgendwann für andere das Monster sind. Darum geht es in Kings Werken.
Ich gratuliere dem King aufs herzlichste und in jahrzehntelanger Verbundenheit