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Wie klang Buddy Bolden?

Die Wurzeln des amerikanischen Jazz reichen bis zur Jahrhundertwende zurück… nicht in dieses, sondern ins letzte Jahrhundert.

Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hörte man in New Orleans häufig ein Kornett (das einer Trompete ähnelt) laut von den Parkbänken und aus den Fenstern der Tanzsäle schmettern. Ohne formale Ausbildung entwickelte Charles “Buddy” Bolden einen einzigartigen Improvisationsstil auf seinem Horn. Im Wesentlichen ebnete er dem Jazz den Weg, indem er ländlichen Blues, Spirituals und Ragtime-Musik für Blechblasinstrumente arrangierte. Die Legende besagt, dass er traditionelle Lieder mit seinen eigenen Improvisationen neu arrangierte und so einen kraftvollen neuen Sound schuf.

Buddy Bolden begann seine Karriere mit Auftritten in der Jack Laines Reliance Brass Band. Jack Laines wird oft als der “Patriarch des Jazz” bezeichnet. Mitte der 1890er Jahre gründete Bolden eine Reihe eigener Bands auf der Suche nach einer perfekten Klangmischung. Gegen Ende des Jahrhunderts fand er sie. Die Buddy Bolden Band bestand aus Kornett, Gitarre, Posaune, Bass, zwei Klarinetten und Schlagzeug. Seine Band spielte in der Innenstadt von New Orleans in überfüllten Clubs im berüchtigten Rotlichtviertel von Storyville.

Von 1900 bis 1906 war die Buddy Bolden Band die größte Attraktion in New Orleans. Ähnlich wie heutige Rap-Sänger wertete Charles “Buddy” Bolden seinen Status und seine Identität auf, indem er sich zunächst “Kid” und später… “King” Bolden nannte. In dieser Zeit verfolgte er zwei Interessen wie ein Besessener: Alkohol und Frauen.

Angesichts von Ruhm, Verantwortung, neuen Bands, die mit ihm konkurrierten, und dem Kampf, seine Musik frisch, innovativ und lebendig zu halten, geriet Bolden 1906 in eine Sackgasse. Depressionen, Hoffnungslosigkeit und die dunkle Anziehungskraft des Alkohols führten zu starken Kopfschmerzen und Paranoia (eine unberechenbare Angst vor seinem Kornett war seiner Musik wahrscheinlich nicht zuträglich). Er wurde so “hirnkrank”, dass die Ärzte ihn ans Bett fesselten.

1907 hatte Bolden seinen letzten öffentlichen Auftritt mit der Eagle Band bei der Parade zum Tag der Arbeit in New Orleans. Während der Parade begann er offenbar, Damen in seiner Nähe anzuschreien und hatte Schaum vor dem Mund. Sein Zustand verschlimmerte sich und er wurde in die Irrenanstalt eingewiesen. Dort wurden seine Halluzinationen und Gewalttätigkeiten immer schlimmer, bis er am 5. Juni 1907 endgültig in das State Insane Asylum in Jackson, Lousiana, eingewiesen wurde. Die Anstalt blieb mehr als 25 Jahre lang sein Zuhause, bevor er in einem Zustand völliger Niedergeschlagenheit und Unzurechnungsfähigkeit verstarb. Sein Leichnam wurde auf dem Holte Cemetery, einem Armenfriedhof in New Orleans, beigesetzt.

Leider gibt es keine erhaltenen Aufnahmen von Buddy Bolden, auf denen er spielt, obwohl er einige Wachszylinderaufnahmen gemacht haben soll. Diese Aufnahmen wurden wahrscheinlich von Oskar Zahn, einem Lebensmittelhändler und Fan der Band, aufgenommen, der einen Edison-Phonographen mit aufsteckbarem Aufnahmekopf besaß. Leider wurden der oder die Zylinder nie gefunden, und mindestens zwei Exemplare sind vermutlich entweder durch schlechte Lagerung oder durch einen Scheunenbrand zerstört worden, so dass die einzige bekannte Aufnahme eines der prominentesten Gründerväter des Jazz als verloren gelten muss.

Aber viele Leute, die mit Bolden gespielt haben und vielleicht sogar auf diesen Walzen waren, haben später Platten aufgenommen. Darüber hinaus fanden zahlreiche New Orleans-Musiker der nächsten Generation den Weg ins Studio.

Diejenigen, die seine Musik kannten, sagten, er habe einen “lauten, bluesigen Ton gespielt und einen Großteil seiner Musik improvisiert”. Bolden gilt als der erste “König” des New Orleans Jazz und war die Inspiration für spätere Jazzgrößen wie King Oliver, Kid Ory und Louis Armstrong.

Auch wenn wir vielleicht nie erfahren werden, wie Bolden geklungen hat, so können wir doch eine Art Venn-Mengendiagramm erstellen, indem wir die Attribute von Boldens Stil anhand von Augenzeugenberichten, Aufnahmen von Boldens Bandkollegen und Zeitgenossen sowie Aufnahmen von Melodien, die mit seiner Band in Verbindung stehen, eingrenzen und so zumindest ein Verständnis für den Kontext schaffen, in dem Bolden existierte und einen solchen Einfluss ausübte.

Das erste, was man über Boldens Band wissen sollte, ist, dass sie keine Band war, die vom Blatt ablas und dass sie in vielen Fällen improvisierte. Während von Boldens Rivalen, dem kreolischen Bandleader Joe Robichaux aus New Orleans, fast die gesamte musikalische Bibliothek erhalten ist, benutzte die Bolden-Band keine Noten, die wir studieren können. Die fehlende Fähigkeit, Noten zu lesen, wurde jedoch durch den Elan und die frischen Ideen Boldens wettgemacht, die Teil der DNA des Jazz selbst wurden.

Bolden spielte mit viel Seele. Aus realen Berichten und dem, was wir über die sozialen Auswirkungen der damaligen Zeit wissen, können wir verstehen, dass er und seine Band einen weniger raffinierten, bodenständigeren und schmutzigeren Ansatz verfolgten.

Obwohl die Bolden-Band keine Gruppe war, die Noten las, spielte sie die Hits der Zeit und hielt sich an die populären Musiktrends, um den Tänzern in der Funky Butt Hall und im Lincoln Park zu gefallen.

Der prominenteste Kornettist, der einem in den Sinn kommt, wenn man über diesen Sound nachdenkt, ist Freddy ‘King’ Keppard (er wurde nach Boldens Einweisung in das Louisiana State Asylum nach ihm zum ‘King’ gekrönt), der mit einem gut definierten ‘in-your-face’-Sound spielte, wie seine vielen großartigen Aufnahmen mit Doc Cookes Band in Chicago zeigen.

Apropos Könige: Buddy Bolden war auch dafür bekannt, dass er Dämpfer benutzte. Wenn man also den Dämpferstil im frühen New Orleans Jazz bestimmen will, braucht man nicht weiter zu suchen als nach einigen der frühesten und besten Aufnahmen der New Orleans Dämpfertechnik, die der legendäre Joe ‘King’ Oliver mit seiner Creole Jazz Band spielte.

Die seltsamen Geschichten des Robert Aickman

Robert Aickman ist selbst in seinem Heimatland England ein vergessener Autor. Der 1914 geborene und 1981 an Krebs gestorbene Schriftsteller ist für Peter Straub der “tiefgründigste Verfasser” von Horrorstories des 20. Jahrhunderts. Eine Leserschaft, die ihn über den Kultstatus hinaus brachte, fand er zu seinen Lebzeiten nicht. Der  renommierte britische Verlag Faber & Faber hat das zu Aickmans Hundertsten Geburtstag 2014 geändert und veröffentlichte eine Sammlung seiner lang nicht mehr in Druck befindlichen Erzählungen.

Bei uns brachte der DuMont-Verlag zu Beginn der 1990er Jahre zwei schmale Büchlein mit willkürlich zusammengestellten Geschichten heraus und bis zum heutigen Tag galt es als ziemlich unwahrscheinlich, dass wir mehr von diesem brillanten Autor bekommen. Doch manchmal geschehen tatsächlich Wunder, und so hat sich der Festa-Verlag der Sache angenommen und bringt in 6 Bänden die Werke des englischen Genies heraus.

48 strange stories, wie er seine Geschichten selbst nannte, sind von Robert Aickman bekannt. Für seine “Pages from a Young Girl’s Journal” bekam er 1975 den World Fantasy Award.

Um Aickman zu verstehen, muss man viel Aickman lesen. Laird Barron sagte, dass dies Arbeit bedeute. Man kehrt zu seinen Geschichten zurück, sucht nach einem Zugang, einer Nahtstelle oder dem versteckten Haken. Und sobald man ihn glaubt, gefunden zu haben, wird man später, wenn man wieder zu diesen Geschichten zurückkehrt, bemerken, dass sich alles verändert und verschoben hat. Aickman ist einer jener raren Autoren, die einen Virus im Gehirn hinterlassen. Mit diesem Autor zu interagieren, bedeutet, eine Art der Quantenverschränkung zu erleben. Seine Geschichten nehmen das Unterbewusstsein und mutieren es in einer Weise wie es die Aufgabe transgressiver Literatur ist.

Aickman assistierte seinem Vater in dessen Architekturbüro, bevor er 1944 seine eigene Firma gründete. 1951 veröffentlichte er ein Buch mit Kurzgeschichten zusammen mit seiner Sekretärin Elizabeth Howard, zu dem er drei Erzählungen beitrug.

Dark Entries

1964 wurde seine erste eigene Sammlung veröffentlicht, “Dark Entries”. Zu seinen Lebzeiten erblickten weitere fünf Bände das Licht der Welt, sowie ein Roman und eine Autobiographie. Zwischen 1964 und 1972 war er als Herausgeber der ersten acht Bände der Serie “Fontana Book of Great Ghost Stories” tätig.  Posthum wurde eine letzte Sammlung, ein Roman und der zweite Teil seiner Autobiographie veröffentlicht. Seine besten strange stories wurden in dem Band “The Wine Dark Sea” (1988) und “The Unsettled Dust” (1990) veröffentlicht.

Robert Aickman; (c) R. B. Russel

Aickmans Großvater war der viktorianische Schriftsteller Richard Marsh, der 1897 seinen Besteller mit “The Beetle” hatte (dt. “Der Skarabäus”), der sogar Bram Stokers Dracula auf die Plätze verwies.

In deutscher Übersetzung ist es natürlich noch schwieriger, etwas von Aickman zu finden, aber nicht aussichtslos. So sollte man nach “Glockengeläut” sowie “Schlaflos” aus DuMonts Bibliothek des Phantastischen suchen.

Aickmann war ein kultivierter Ästhet und befasste sich mit Ängsten, die auch jene Kafkas gewesen sein könnten, in einem präzisen, etwas erhöhten Stil, als ob er hinter einem Schleier der Gelehrsamkeit stünde, von wo aus er den Leser anspricht. Aber Aickman gehörte zu einer späteren Generation und war freier, so dass er die wirbelnden Ströme der Sexualität tiefer in seine eindringliche Geschichten einarbeiten konnte. So behält auch der Titel seines Buches “Dark Entries” etwas von der finsteren Doppeldeutigkeit des Nachtaktiven und Obszönen.

In Aickmans Geschichten wird niemals die vorrangige Natur des Merkwürdigen enttarnt, das seine Figuren belauert. Zur Hälfte sind diese an ihrem eigenen Untergang mitbeteiligt, wenn sie mit schlafwandlerischer Sicherheit ins Unbekannte gezogen werden wie in einen Traum.

Aickmans ‘seltsame Geschichten’ sind Geheimnisse ohne Lösung, jede endet mit einer wehmütigen Note über unsere zweifelhaften, unzulänglichen Kenntnisse, über die Mehrdeutigkeit der Wirklichkeit.

Marvin Keye schrieb in seinem Vorwort zur Anthologie “Masterpieces of Terror and the Supernatural”, die er herausgab, dass er zunächst zögerte, die Geschichte “The Hospice” (dt. “Das Hospiz”) in die Sammlung aufzunehmen, weil er nicht herauszufinden im Stande war, was sie aussagen wolle.

Die exemplarische Geschichte

“Glockengeläut” beginnt dann auch mit dieser exemplarischen Geschichte. Die beiden Bände der Bibliothek des Phantastischen, die einst bei DuMont erschienen, haben wir Frank Rainer Scheck zu verdanken, und auch wenn es zu Beginn der 90er üblich war, eine Mischung aus mehreren Originalveröffentlichungen zu präsentieren – was aus heutiger Sicht ein Ärgernis ist – können wir uns glücklich schätzen, überhaupt zwei schmale Bände in Übersetzung vorliegen zu haben, zumindest bis jetzt.

“Das Hospiz” ist wohl eine von Aickmans wichtigsten Geschichten. Auf relativ wenigen Seiten legt er Fragen des Übergangs, der Identität und des Handelns auf den Tisch. Die Veränderlichkeit der Wahrnehmung, das dünne Furnier von Loyalität und Sicherheit. Aickmans Arbeit stellt oft eine wichtige These der ganzen unheimlichen Literatur vor: Das Leben ist viel seltsamer, als wir annehmen. Er fragt oft, was wissen wir eigentlich? Die Antwort kann nur immer die gleiche sein: Nichts, und möglicherweise noch weniger. Man liest diese Geschichte sechs oder sieben Mal (vielleicht auch öfter), und kommt immer noch nicht dahinter. Das aber ist genau das, was sie beabsichtigt. Die besten Geschichten sind jene, die ins Unterbewusstsein kriechen und flüstern und rätselhaft bleiben. Sie führen uns in die Dunkelheit und lassen uns dort allein. Vielleicht finden wir wieder heraus, vielleicht auch nicht. Viele Geschichten von Kafka funktionieren so, viele von Cortàzar tun es ebenfalls – und natürlich die meisten von Aickman.

Aber Aickman ist keineswegs ein Avantgardist, der krude Rätsel für seine Leser zusammenspinnt. Das Hospiz ist in einer einfachen Sprache gehalten, fast flach, mit einem Minimum an Erschütterung und Bewegung: Ein Reisender verirrt sich auf einer Straße irgendwo in den West Midlands, kommt durch eine Siedlung, die aussieht wie im 19. Jahrhundert, mit hohen Bäumen und einsamen Häusern, sieht das Hinweisschild, das gutes Essen und andere Annehmlichkeiten verspricht, außerdem hat er fast kein Benzin mehr. Zu allem Überfluss wird er auch noch von etwas, das eine Katze gewesen sein könnte, ins Bein gebissen, als er kurz aussteigt, um sich grob zu orientieren. Dieser Biss, der sich vielleicht entzünden könnte, spielt im weiteren Verlauf nur die Rolle, dass er da ist und schmerzt. Das ist die erste Irreführung der Erwartungshaltung.

Im Hospiz wird er freundlich aufgenommen und kommt gerade richtig, um am Abendessen teilzunehmen. Die Schilderungen und Geschehnisse sind immer nur knapp neben einer gewohnten und erwarteten Reaktion, einer bekannten und nachvollziehbaren Szenerie, aber sie treffen niemals das Bekannte, das jemals Erlebte. Ihm wird also das Essen in mehren Gängen serviert, die exorbitant sind, gewaltig und unbezwingbar – und damit beginnt ein merkwürdiger Reigen, der sich zwar niemals ins Groteske zieht, aber einiges aus der Atmosphäre des Theater des Absurden schöpft.

Sexualisierte Metafiktion

Ein weiteres Beispiel einer Geschichte, die ihre Kraft durch das Wiederlesen erst entfaltet, ist “Ravissante” (französisch für bezaubernd oder hinreißend). Gleichzeitig ist diese faszinierende Erzählung eine von Aickmans Ungewöhnlichsten, die durchaus ins Perverse abdriftet. Der für Aickman typische introvertierte Erzähler macht auf einer Cocktailparty die Bekanntschaft eines Malers. Ein spröder und unnahbarer Mann, in seinem Auftreten eher enttäuschend, aber ein Maler mit einer gewissen Ausdruckskraft. Seine Frau ist noch kühler und uninteressanter, nur die Karikatur einer Frau, die fast nie etwas sagt. Der Maler stirbt und hinterlässt dem Erzähler sein gesamtes künstlerisches Schaffen, von dem er nur ein Gemälde und einen Stapel Briefe und Schriften behält. Was er nicht nimmt, wird von der Witwe verbrannt. Die eigentliche Erzählung beginnt, als der Erzähler eines dieser Papiere liest, das den Aufenthalt des Malers in Belgien dokumentiert. Der Inhalt bezeugt den Besuch bei der steinalten Witwe eines symbolistischen Malers.

Es ist offensichtlich, dass dieses Haus, in dem Madame A. lebt, auf einer anderen Realitätsebene existiert. Die Witwe selbst ist herrisch, das Haus schwach beleuchtet, und die Realität scheint einen unangenehmen, fließenden oder verschwommenen Aspekt anzunehmen. Madames Ausführungen sind merkwürdig und beklemmend, und als auch noch ein geisterhafter Pudel mit Spinnenbeinen durch den Raum streift, zieht Aickman die Schrauben des Unheimlichen an. Der Aufenthalt des Malers wird von Mal zu Mal bizarrer und erreicht seinen befremdlichen Höhepunkt, als Madame ihn einlädt, die Kleidung von Crysothème, der abwesenden Stieftochter, zu berühren und zu untersuchen, indem sie ihm Befehle gibt, darauf zu knien, darauf zu treten und die Wäsche zu küssen.

Der Maler gehorcht jedem dieser unmöglichen Schritte. Diese psychosexuelle, fetischistische  Auseinandersetzung mit Chrysothèmes Kleidung gipfelt in der Einladung, eine Truhe voller Unterwäsche zu öffnen. Wiederum, sowohl von Madames Befehlen als auch von seinem eigenen Drang getrieben, gehorcht er und erklärt, dass der Duft berauschend war. Verloren in dieser Träumerei, vergisst er die Zeit, bis er bemerkt, dass ihm kalt ist und er seinen Geruchssinn verloren hat. Als er auch noch ein Bild an der Wand entdeckt, das er selbst gemalt hat, hat er genug und flieht aus dem Haus. Auf dem Weg nach draußen folgt ihm die Madame mit einer Schere und fleht ihn an, ihr eine Haarlocke als Souvenir zu geben.

Die Geschichte endet mit der Erosion des Glaubens an eine materielle Realität. Aickman listet diffuse Symbole und Manifestationen auf, die er auch in der Erzählung verwendet. Der Maler zweifelt an allem, was er bei Madame erlebt hat und ruft damit auch die Zweifel des Lesers hervor. Die mögliche Erklärung für all dies ist die klassische Freudsche Trinität von Ich, Über-Ich und Es; mehr oder weniger tritt der Maler in die Substanz seines eigenen Bewusstseins ein, wörtlich und bildlich. Das entspricht Aickmans Vorstellung von einer gelungenen Gespenstergeschichte, nämlich dass der Autor das Unterbewusstsein für poetische Zwecke nutzen sollte. Dennoch befriedigt diese Erklärung – wie bei vielen Aickman-Geschichten – nicht, oder genauer: Aickmans Geschichten gehen über dieses vereinfachte System hinaus.

Der umgekehrte Succubus

Das Thema, das sich durch “Ravissante” zieht, ist das des Künstlers, der sich von seinen eigenen kreativen Prozessen entfremdet fühlt. Der fragliche Maler glaubt, dass sein Werk von “jemand anderem” stammt. Das wäre dann ein Beispiel für Inspiration als Besitz. Betrachtet man die Geschichte unter diesem Aspekt, wird sie metafiktional. Unser Maler kommt durch einen schattigen und fleischigen ontologischen Tunnel zu einem Haus, der seinen eigenen Geist repräsentiert. Dort wird er an die Quelle seiner eigenen Inspiration herangeführt. Der Muse selbst kann er allerdings nicht persönlich begegnen. An diesem Punkt ist er von dieser Quelle auf eine ziemlich unheimliche, onanistische Weise besessen. Obwohl es sich um einen Besitz handelt, der durch gebrauchte Gegenstände vermittelt wird – nämlich durch Kleidung, die auf seltsame Art und Weise als Substitut benutzt wird – handelt es sich nach wie vor um einen fruchtbaren Besitz. Chrysothème ist nicht so sehr ein Sukkubus, der Energie entzieht, sondern – paradoxerweise – ein weiblicher Inkubus, der Energie liefert. Sie ist ein abwesender Inkubus, aber dennoch ein Inkubus.

Diese beiden Beispiele sind unvollständig in ihrer kurzen Analyse, die im Grunde nur dazu dienlich ist, sich der Faszination von Aickmans strange stories auszuliefern, die so rar auf uns gekommen sind und die mehr Aufmerksamkeit verdienen, weil sie zur Basis jeden Verständnisses über die moderne Weird Fiction gehören, ohne deren Kenntnis ein schrecklich großer Teil für immer fehlen würde.

Timeline

Der Unsinn der Buchpreisbindung

Meiner Ansicht nach gibt es kein Argument für das Beibehalten der Buchpreisbindung, das nicht leicht zu widerlegen wäre. Wie es oft bei uns so üblich ist, geht es mehr um Leidenschaft als um Fakten.

Über den Sinn und Unsinn der Buchpreisbindung kann man sich lange und herzhaft streiten, vor allem deshalb, weil die Idee aus einem Jahrhundert stammt, in dem das Buch tatsächlich noch ein Kulturgut war, das es zu schützen galt. Die Zeiten (und vor allem die Kultur – ein heute schwammiger Begriff) haben sich selbstredend geändert. Im Grunde soll diese Preisbindung die Vielfalt und Qualität stärken; ob sie das wirklich tut, ist wieder einmal Ansichtssache. Man darf dabei nämlich nicht vergessen, dass ein Verlag die Preisbindung ohnehin schon nach achtzehn Monaten aufheben darf. Eine weitere Ausnahme betrifft das Mängelexemplar, und man erkennt leicht – und weiß als Buchkäufer sogar – dass hier der Hase im Pfeffer liegt. Ich habe zum Beispiel völlig einwandfreie Exemplare in meiner Bibliothek, die künstlich remittiert wurden. Das bedeutet, sie tragen den allseits bekannten Stempel am Buchblock. Wen das nicht stört, der kann tatsächlich nagelneue Bücher zu einem günstigeren Preis finden. Das ist zwar illegal, aber seien wir ehrlich: wer kann das je prüfen? Man könnte jetzt so tun, als wären das Ausnahmen, aber das sind sie nicht.

Es wird immer wieder damit argumentiert, dass das Ende der Buchpreisbindung vor allem den großen Ketten nutzen würde und kleine Verlage verschwinden würden, aber warum sollte das so sein? Ich sehe eher das Gegenteil: Die Buchpreisbindung schützt Thalia und Co. vor der Konkurrenz, die Bücher günstiger anbieten könnte. Es wird oft vergessen, dass die Einführung der Buchpreisbindung nichts mit dem Kunden zu tun hatte, sondern damit, die Läden gegen den aggressiven Versandhandel zu schützen.

Blicken wir in Länder, die keine Preisbindung mehr haben, können wir leicht erkennen, dass die Argumente gegen eine Aufhebung schlicht nicht eintreten. Weder gibt es weniger Verlage, noch lässt die Vielfalt nach. Es ist doch eher so, dass hier ein völlig unsinniges Gesetzt die dicken Verlage davor schützt, sich in irgendeiner Form bewegen zu müssen. Ein gutes Beispiel hier ist der Sektor des eBooks (das ist zwar wieder ein anderes Kapitel, aber hier zeigt sich, wie träge und unverschämt deutsche Verlage eigentlich sind, in dem sie entweder kaum auf diesen Service setzen oder aber völlig überzogene Preise dafür aufrufen), der garantiert ebenfalls vom Verschwinden eines albernen Gesetzes profitieren dürfte.

Aber ich muss gestehen: Ich bin kein Krämer und habe für den Buchhandel gar nicht so viel übrig, vor allem deshalb, weil sich Modelle ändern. Klagt man über das Verschwinden des einen, ergibt es keinen Sinn, nicht auch das Verschwinden des anderen zu beklagen. Das genau aber passiert. Hier wird ein Modell besonders geschützt, das eigentlich schon längst ausgelaufen ist. Bücher werden immer teurer und sind im Vergleich zu früher bereits nahe am Luxusgut. Das gilt auch für das Taschenbuch, das gegen das Hardcover ordentlich aufgeholt hat. Außerdem bekomme ich seit Jahrzehnten in keinem Buchladen das, was ich lesen möchte.

Kurz: Buchpreisbindung ist Lobbyismus in Reinkultur. Weg damit, erst dann geht es wieder um den Leser und nicht um die Platzhirschen in der Verlagsbranche.

Vampir

Die 20 besten Vampir-Bücher aller Zeiten

Dieser Artikel ist Teil 6 von 17 der Reihe Fantasy-Literatur

Der Vampir – Herkunft, Mythos und Geschichte

Es gibt eine wahre Schwemme an Vampirbüchern da draußen. Um ehrlich zu sein, taugen die meisten nicht viel, auch wenn sie zu Bestsellern wurden. Doch wenn man an das richtige Buch gerät, macht der Vampirmythos wieder Spaß. Wir haben 20 nennenswerte Bücher über  Blutsauger (die manchmal auch Teil einer Serie sind) herausgesucht, die unserer Meinung nach zur Spitze der Vampirliteratur gehören. Auf eine Platzierung wird verzichtet, weil die Zeitspanne der Entstehungsgeschichten zu weit auseinander liegt, um sie sinnvoll gegeneinander abzuwägen. In diesem Sinne ist diese Liste als Aufzählung zu verstehen.

1. George R. R. Martin – Fiebertraum (Heyne)

Martin ist nicht nur der Schöpfer von “Ein Lied aus Eis und Feuer”, sondern unter anderem auch der Autor dieser blutigen wie faszinierenden Geschichte, die sich um Abner Marsh dreht, einen Bootskapitän auf dem mächtigen Mississippi, der im Jahre 1857 ein ungewöhnliches Angebot von einem Fremden erhält. Wenn es auf einem völlig gesättigten Markt  ein “Vampir”-Buch gibt, das man unbedingt lesen sollte, dann ist es dieses hier. Das Setting ist völlig exotisch, die Charaktere herausragend und komplex gezeichnet. Wer immer auf der Suche nach einem exzellenten Vampir-Roman ist, hat ihn hiermit gefunden.

2. Stephen King – Brennen muss Salem (Heyne)

Viele würden, wenn es um Stephen Kings Meisterwerk geht, auf “Shining” verweisen, aber sein zweiter Roman ist nicht weniger unterhaltsam, emotional und erschreckend. Der Schriftsteller Ben Mears kehrt in seine Heimatstadt zurück, um über das Marsten-Haus zu schreiben, wo er als Kind etwas Schreckliches erlebte. Aber seine Ankunft fällt mit der des neuen Bewohners des Hauses zusammen, und die Dunkelheit breitet sich schnell aus. “Brennen muss Salem” ist von der gotischen Tradition durchdrungen, aber King zeigt hier seine Gabe und sein Geschick, über Kleinstädte zu schreiben, die auseinander gerissen wurden. Das Böse, das aus dem Marsten-Haus sickert, wendet Nachbarn und Familienmitglieder gegeneinander und führt zu einem fantastisch eisigen Roman, der einer der besten Vampirbücher bleibt, die  je geschrieben wurden.

3. Anne Rice – Interview mit einem Vampir (Goldmann)

Dieses Buch enthält alle Bekenntnisse eines Vampirs, angefangen von dem Moment, in dem Louis gebissen wird, schildert seinen Überlebenskampf in New Orleans bis hin zu dem Tag, an dem er beschließt, die junge Claudia zu verwandeln. Mehr noch, es ist ein Buch, das die öffentliche Wahrnehmung über Vampire für immer verändert hat, als es 1976 erschien. Innovativ und dunkel-sinnlich ist das hier das Buch, das ein ganzes Genre wiederbelebt hat und die einflussreichste Post-Stoker-Interpretation über Vampire. Zum größten Teil sind heutige Ergüsse nur Nachahmungen dieser grandiosen Reihe.

4. Bram Stoker – Dracula (Fischer)

Der Königs-Vampir regiert noch immer, auch wenn Draculas Bedeutung über ein Jahrhundert ständiger Anpassungen und Neuinterpretationen vernebelt wurde. Der Roman ist wunderbar überdeterminiert, vollgepackt mit konkurrierenden Ängsten – und gleichzeitig steht im Mittelpunkt der Geschichte ein leerer Raum. Dracula nämlich schreibt, im Gegensatz zu den anderen Charakteren, seine eigene Geschichte nicht auf. Der Leser wird dazu eingeladen, eine eigene Interpretation zu finden.

 

5. John Ajvide Lindqvist – So finster die Nacht (Lübbe)

Es ist Herbst 1981 in Blackeberg, Schweden. Oskar ist ein zwölfjähriger Junge. Eli ist das Mädchen, das gerade nebenan eingezogen ist. Aber das ist nicht der Anfang deiner alltäglichen YA-Romanze, denn Eli ist vielleicht nicht so sehr Jemand wie ein Etwas. Der nachfolgende Film (eigentlich sind es zwei) mag eine breitere Zustimmung erhalten haben, aber Lindqvists Roman ist eine atmosphärisch wiedergegebene Geschichte der Isolation im Kindesalter und der Notwendigkeit von Gesellschaft. Oskar wird in der Schule routinemäßig schikaniert und seine Mutter hat keine Zeit, sich um ihn zu kümmern. Als er sich mit Eli anfreundet, entdeckt er die Vorteile und die Gefahr, sich auf jemand anderen zu verlassen. Der Roman ist in seiner Darstellung des Horrors viel expliziter als der Film, ein grausames Märchen, das den Schmerz der einsamen Jugend hervorragend darstellt. Viel gelobt, und das zu Recht.

6. Elizabeth Kostova – Der Historiker (Bloomsbury Berlin)

Der Historiker” ist ein funkelnder Debütroman von Elisabeth Kostova und erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die in der Bibliothek ihres Vaters etwas Seltsames entdeckt: Die Überreste vergilbter Briefe einer jahrhundertealten Jagd nach einem legendären Herrscher. Jetzt muss sie entscheiden, ob sie die Herausforderung annimmt oder nicht, auch wenn sie sich dann der furchterregenden Frage gegenüber sieht, die jedem Historiker, der versucht hat, sie zu beantworten, den Ruin gebracht hat: Wer ist Vlad der Pfähler wirklich? “Der Historiker” spielt mit der Struktur und den Details von Stokers Dracula, aber Kostova verwendet den Hintergrund, um eine rasante Abenteuergeschichte abzuspulen. Das Buch ist eine äußerst unterhaltsame Tour-de-Force mit Witz und Intelligenz.

7. Richard Matheson – Ich bin Legende (Heyne)

Eines der einflussreichsten Bücher in diesem Genre stellt Robert Neville vor, den letzten Überlebenden in einer Welt, die von einem Virus ausgelöscht wurde, der Menschen in Vampire verwandelt. Jetzt muss Neville die infizierten Kreaturen abwehren, die ihn jede Nacht vor seiner Haustür bedrohen. Hier sei gesagt (man muss es leider wieder und wieder betonen): Das Buch ist nicht der Film mit Will Smith, den man schnell vergessen sollte. Mathesons Roman von 1954 ist eine der größten Vampirgeschichten, die je geschrieben wurden. Das starke Gefühl der Isolation ist nach der kraftvollen moralischen Wendung des Finales des Buches zweitrangig, als Robert gezwungen ist, seine Position in der neuen Welt zu bedenken. Pflichtlektüre gibt es an sich kaum, das hier aber ist eine.

8. Octavia Butler – Vom gleichen Blut (Lübbe)

Octavia E. Butlers Roman, der nach seiner Veröffentlichung hochgelobt wurde, ist eine Meistererzählung der Science-Fiction. Dies ist die Geschichte von Shori Matthews, einem 10-jährigen Mädchen, das herausfindet, dass sie in Wirklichkeit eine 53-jährige Vampirin ist. Die eiserne Entschlossenheit, ihre Amnesie zu bekämpfen, führt sie auf eine atemberaubende und traumatische Reise. Aber sie will herausfinden, wer sie ist – und wer sich solche Mühe gibt, sie tot zu sehen.

9. Laurell K. Hamilton – Bittersüße Tode (Lübbe)

Willkommen in St. Louis! Dies ist das Revier von Anita Blake, professionelle Vampirjägerin und Nekromantin. Sie ist immer zur Stelle, um ein paar Untote zu beseitigen, wenn die Dinge außer Kontrolle geraten. Natürlich ist sie die Beste in ihrer Branche, was bedeutet, dass sie mit vielen Kreaturen interagiert – vor allem mit Jean-Claude, dem Meistervampir, den sie konsultieren muss, als sie gebeten wird, eine Reihe von Vampirmorden zu untersuchen. Leider fühlt sie sich auch schrecklich zu ihm hingezogen. Wer seine Vampirgeschichten mit einer Dosis Sex (und harter Detektivarbeit) mag, ist mit dieser sehr erfolgreichen Reihe auf der richtigen Fährte

10. John William Polidori – Der Vampyr (Hoffenberg)

Dieses 1819 veröffentlichte Buch ist wahrscheinlich die Geburt der Vampirliteratur. Sicher aber war Polidori einer der Begründer des romantischen Vampirmythos. Erzählt wird die Freundschaft zwischen einem Herrn namens Aubrey und dem rätselhaften Aristokraten Lord Ruthven. Obwohl es sich um ein kurzes Werk handelt, ebnete John William Polidori damit den Weg für die späteren Giganten des Genres.

11 Joseph Sheridan Le Fanu – Carmilla (Diogenes)

Diese Novelle ist eine der erfolgreichsten Vampirgeschichten, die je geschrieben wurden, und enthält auch einen der sympathischsten Vampire der Literatur. Der Angriff des Vampirs wird hier zu einer langen Verführung, einer romantischen Freundschaft, der Laura, Carmillas vorgesehenes Opfer, nur schwer zu widerstehen vermag. Carmilla ist eine der ersten Vampire, die sich für ihr Existenzrecht einsetzen, genau wie jedes andere Wesen in der Natur. Ihre Gegner sind so stumpfsinnig und selbstgefällig, dass man hofft, sie werden sie nicht aufhalten. Die Geschichte wurde 1872 veröffentlicht und ist ein faszinierendes Fenster in eine Zeit, in der die Vampirmythologie – und alles, was sie umfasst – noch erfunden werden musste.

12. Theodore Sturgeon – Blutige Küsse (Fischer)

Von einem der Paten der modernen Science-Fiction stammt dieser Briefroman über einen Soldaten, der ein wenig … verändert nach Hause kommt. Er hat sich an den Armeepsychiater gewandt, der ihn bat, seine Geschichte aufzuschreiben. Das Ergebnis ist diese schockierende und seltsame Sammlung von Briefen, Transkripten und Fallstudien. Ein kurzer Roman, der dennoch einen grandiosen Biss mitbringt.

13. Kim Newman – Anno Dracula (Heyne)

Fans der Vampirliteratur sollten sich unbedingt ein Exemplar von Kim Newmans alternativer Geschichte besorgen, in der Jonathan Harker und Van Helsing Dracula nicht aufhalten konnten. Der Graf hat Königin Victoria geheiratet und Menschen und Vampire leben jetzt Seite an Seite … bis Jack the Ripper anfängt, Blutsauger mit seinem silbernen Messer auszunehmen. Der Roman ist vollgepackt mit Charakteren aus Film und Literatur (John Merrick, Lestat de Lioncourt und Graf Orlock tauchen auf) und ein absoluter Genuss für Fans des Genres.

14. Dan Simmons – Kinder der Nacht (Heyne)

Als ein Forschungsteam auf medizinischer Mission nach Rumänien reist, sind die Mitglieder ziemlich erschüttert, als sie ein Kind in einem Waisenhaus entdecken, dessen Immunsystem der Schlüssel zur Heilung von Krebs und AIDS sein könnte. Das Kind heißt Josua, und ihm wurde inmitten einer tödlichen Krankheit die falsche Bluttransfusion verabreicht. Aber jetzt ruft seine bloße Existenz auch einen mysteriösen Clan auf den Plan … in satten Farben dargestellt und insgesamt ungeheuer spannend, ist “Kinder der Nacht” ein Roman, der den Vampirmythos auf den Kopf stellt.

15. Robert McCammon – Blutdurstig (Knaur)

Im modernen Los Angeles, das in “Blutdurstig” auf anschauliche Weise dargestellt wird, senkt sich das Böse zunächst langsam herab: eine Leiche hier und eine andere dort. Aber dann sorgt die Anzahl der Toten doch für Aufsehen – und alle Morde scheinen nachts zu geschehen. Die Hinweise deuten alle auf eine dunkle Macht hin, die älter ist als die Zeit, und die eine Legion von Anhänger zu haben scheint. Noch bedrohlicher aber ist deren Durst, denn der kann nie gestillt werden.

16. F. Paul Wilson – Das Kastell (Festa)

Mitten im Zweiten Weltkrieg wird eine Einheit deutscher Truppen zu einem abgelegenen Bergfried in den Siebenbürger Alpen entsandt, um ihr Territorium zu schützen. Zuerst scheint es sich um einen leichten Auftrag zu handeln – bis die Männer von Captain Wörmann am Morgen tot, mit schrecklich zerfetzten Kehlen, aufgefunden werden. Kein Mensch könnte diese Gewaltakte begangen haben, und kein Mensch kann auch nur hoffen, die Situation zu klären …. oder doch? Mit der durch den Krieg verschärften Spannung im Hintergrund verbinden sich die Kräfte von Gut und Böse in diesem Buch zu einem Schauspiel reinen Horrors.

17. Charlaine Harris – Vorübergehend tot (Feder & Schwert)

Hier beginnt die Reihe um Sookie Stackhouse. Sie ist eine ruhige, bescheidene Kellnerin aus der kleinen Stadt Bon Temps, Louisiana und ein ganz normales Mädchen – abgesehen davon, dass sie Gedanken lesen kann. Oh, und sie geht mit einem Vampir aus. Wie man vielleicht erwarten darf, verursacht das ein paar Probleme, besonders als mehrere Leichen auftauchen. Vorübergehend tot ist die perfekte Mischung aus Komödie, Action und Romantik. Der Roman hat HBO zu seiner preisgekrönten Serie True Blood inspiriert.

18. Suzy McKee Charnas – Der Vampir-Baldachin (Knaur)

Tagsüber ist Dr. Edward Lewis Weyland Professor. Aber nachts ist er ein Vampir, und obwohl er seine Kräfte nicht durch übernatürliche Mittel erworben hat – sein Zustand ist biologisch begründet -, hat sich sein Bedürfnis, sich vom menschlichen Blut zu ernähren, deshalb nicht geändert. In vier episodischen Kapiteln sehen wir, wie sich dieser Drang manifestiert und wie der Vampir trotzdem noch versucht, mit der Gesellschaft zu interagieren. Spannende Prosa, straffe Handlung und ein charismatischer Vampir im Mittelpunkt zwingen den Leser in dieses bahnbrechende Buch, das 1980 erstmals veröffentlicht wurde, hinein. (Die deutsche Version erschien 1984 bei Knaur und ist nur noch antiquarisch abrufbar).

19. Seth Grahame-Smith – Abraham Lincoln: Vampirjäger (Heyne)

Dieses Buch eignet sich hervorragend dafür, sich erneut mit Abraham Lincoln vertraut zu machen: Retter der Union, größter Präsident der Vereinigten Staaten und vereidigter Jäger aller Vampire. Als er von der wahren Ursache des Todes seiner Mutter erfährt, schwört Abraham Lincoln, sie zu rächen – und dokumentierte dies alles in seinen Aufzeichnungen, die später von Grahame-Smith entdeckt wurden. Dieses Geheimnis blieb jahrhundertelang verborgen, aber durch dieses Buch ist es möglich, Licht auf Lincolns mutigen Kampf gegen die Untoten zu werfen, und wie dadurch die Geschichte Amerikas geprägt wurde.

20. Scott Snyder / Stephen King / Rafael Albuquerque – American Vampire (Vertigo)

In dieser Graphic Novel, geschrieben von Stephen King und Scott Snyder, treffen die Leser auf zwei Vampire, deren Geschichten sich verflechten: eine junge Frau, die Rache begehrt, und ein gefährlicher Bandit, der ihr hilft, sie zu bekommen. Kings Teilnahme an diesem Werk begründete er damit, dass er den Vampiren “die Zähne zurückgeben” wollte, das heißt, sie nach dem völlig unverständlichen “Twilight”-Wirbel wieder zu blutrünstigen Killern zu machen.

Unübersetzte Meisterwerke: Was auch wieder betont werden muss, ist die immense kulturelle Wüste deutschsprachiger Phantastik, was vor allem daran liegt, dass in unseren Verlagen kaum Experten zu finden sind. Hier eine kleine Auswahl wichtiger Bücher, die es nicht zu uns geschafft haben: Steven Brust – Agyar; Carlos Fuentes – Vlad; Robin McKinley – Sunshine; Brian Wilson Aldiss – Dracula Unbound; E.E. Knight – Vampire Earth (von Heyne mittendrin abgebrochen, was noch schlimmer ist, als die Bücher gar nicht übersetzt zu haben); Andrew Fox – Fat White Vampire Blues; Silvia Moreno-Garcia – Certain Dark Things; Florence Marryat – The Blood of the Vampire; Paul Féval – La Ville-Vampire; Poppy Z. Brite – Lost Souls;

Die magische Bibliothek

Michel Siefener – Die magische Bibliothek

Der Protagonist als Identifikationsfigur für Träumer und etwas verschrobene Gestalten, die nicht immer einsame Gelehrte sein müssen, um ihren Außenseiterstatus darzustellen; das ist es, was Michael Siefener in seiner 2006 bei Medusenblut erschienenen und jetzt bei Atlantis neu aufgelegten Novelle dem Leser zu bieten weiß.

Es kommt nicht von ungefähr, dass sich die besten Autoren phantastischer Erzählungen in ihren Protagonisten spiegeln, der an ihrer statt merkwürdige Ereignisse durchlebt oder untersucht. Und dann sind es wiederum die Leser, die in diesem Fall tatsächlich Idealleser sind, und die sich mit ähnlichen Träumen nicht nur der Hauptfigur, sondern auch dem Autor nahe fühlen. Durch diese Kommunikation entsteht etwas viel größeres, das über das Geschichtenerzählen hinaus geht und nicht selten einer Haltung entspricht. Phantastische Literatur ist ihrem Wesen nach intim, das Brausen der Welt, die Gegenwart sind hier völlig irrelevant.

Wenn Siefener Albert Moll (der eben genau das Gegenteil von Dur ist, wenn man das ganze musikalisch sehen will) seine Lieblingsautoren aufzählen lässt, festigt sich die Bindung zur Leserschaft allein dadurch, dass all diese Namen bei Liebhabern der Phantastik wohlvertraut sind. Sie stehen alle im Regal, weil keine ernstzunehmende Bibliothek ohne sie auch nur halbwegs vollständig wäre. An anderer Stelle spricht Moll davon, dass die phantastische Literatur bei ihm die Funktion der Religion übernommen habe, nachdem er als junger Mensch die Gedankenflucht, die er damit assoziiert, noch in der Kirche suchte, ohne dass er dem Gemurmel dort irgendeine Bedeutung abgewinnen konnte.

Auch wenn es nicht Teil der Geschichte ist, so liegt in dieser lapidaren und kurzen Aussage die ganze Aussage eines romantischen Geistes, der sich nach Unendlichkeit sehnt. Das Buch ist in Teilen eine Verteidigung des Eskapismus als lebensnotwendiges Prinzip sensibler Geister, und es kommt selten vor, dass dies so vehement vorgetragen wird.

Trotzdem hatte ich enorme Schwierigkeiten, das Buch zu lesen, obwohl ich einer naiven Sprachkunst keineswegs abgeneigt bin.

Der Rechtsanwalt Albert Moll reist mit dem Zug zu einem Klienten nach Fangenburg, um mit dem Grafen Roderick von Blankenstein dessen Testament auszuarbeiten. Der Graf hat nicht den besten Ruf im Dorf, denn er ist ein widerwärtiger Zeitgenosse, was Moll dann auch bald mitbekommen wird. Doch zunächst erfreut er sich an der Reise, die er mit der Lektüre von Stokers Dracula – seinem erklärten Lieblingsbuch – verbringt. Hier beginnen dann auch die Parallelen zu greifen, die in der ganzen Geschichte auftauchen, denn das Namedropping bekannter Autoren und ihrer famosen Geschichten ist kein Zufall, sondern das Prinzip, mit dem Siefener hier zu Werke geht. Das könnte bereits eine Erklärung für die folgenden Geschehnisse andeuten, die nicht selten darauf abzielt, dass Moll wahnsinnig sein könnte und zwischen seinen Fantasien und der Wirklichkeit nicht mehr zu unterscheiden weiß. Allerdings bleibt das nur eine der Möglichkeiten, die am Ende übrig sind, schließlich steht fest, dass er – der mit seinem Bruder die Kanzlei von seinem Vater übernommen hat – einer Intrige aufgesessen ist, die sich im Hintergrund von Wahn und Wirklichkeit abspielt und das eine oder das andere begünstigt.

Moll, der seine Geschäfte mit dem Grafen so schnell wie möglich hinter sich bringen will, wird von Sabine, die sich als Antiquarin vorstellt, dazu verleitet, nach einer “magischen Bibliothek” im Schloss zu suchen. Sie hat angeblich Hinweise auf sensationelle okkulte Bücher, die dort irgendwo lagern müssen, vergessen von der Welt. Ein unvorstellbarer Wert für jemanden, der in seinen Lieblingsgeschichten immer wieder solche äußerst raren Stücke genannt bekommt.

Es ist zunächst einmal interessant, wie Siefener dem tollpatschigen und verträumten Moll auch eine unbeholfene Sprache zur Verfügung stellt; das beabsichtigte Traumhafte bleibt dadurch aber auf der Strecke. Vor allem die inflationären Selbstbefragungen, brechen den Fluss der Erzählung: “War es nicht nur ein Traum gewesen? Ein schöner Traum? Ein Albtraum? Was war mit Ilse los?”

Denn plötzlich hat es der bei Frauen wohl nicht gerade angesagte Moll mit zwei Damen zu tun, zwischen denen er emotional hin und her eilt. Gerade hat er Sabine noch auf dem Friedhof geküsst, schon ist er bereit, mit Ilse das Lager zu teilen, der Tochter des Wirts, bei dem er im Dorf ein Zimmer hat. Die Übergänge solcher Szenen, von denen es im Buch wimmelt, sind voller technischer Fehler, die Figurenzeichnungen banal. Das muss nicht immer etwas schlechtes sein, macht den Text aber zu einem, dem man ständig Sätze streichen und Anmerkungen zur Verbesserung an die Seite kritzeln möchte. Eigentlich Aufgabe eines Lektorats, das es heutzutage ohnehin nicht mehr zu geben scheint. Andererseits hätte man auch erwarten können, dass der Autor bei einer Neuveröffentlichung noch einmal Hand anlegt. Mit ein wenig investierter Arbeit hätte sich daraus vielleicht kein hervorragendes, so aber zumindest ein brauchbares Buch machen lassen.

Erschienen bei Atlantis.

Täusche das Auge

Dieser Artikel ist Teil 9 von 31 der Reihe GrammaTau

sagst du denn, ein jeder, der stirbt, der will es auch
oder der soll oder der muss
was ist denn der Tod, gegen den wir kämpfen
in Ermangelung des Herzens Schau
und ist denn der Tod das Ablegen des Körpers
plötzlich oder vorbereitet oder warum weinst du?

oder wissen wir nicht, dass wir das Wasser sind
und meine Hand bald deine Hand sein wird
und mein Gesicht auch dein Gesicht,
haben uns zwischen das Vergehen gemischt
da können wir hindurch gehen
wir müssen schnell sein (die mahlenden
Wände wie Backenzähne)
wir müssen schnell sein in der Zeit (ich
mache dir zum letzten mal den Wein auf)
oder warum weinst du?

dort ist doch nichts, ich schrieb
Vorläufer des Schriftstellers sah ich am Pulte zerhockt
wurzelschlagend Briefe verfassen.
Secretaire á la mode in verschiedenen Gattungen der Malerei
Still=Leben, Trompe-l’œil, Vanitas-Bildchen
wurden allein die Gegenstände der Schriftkultur
ohne die Gegenwart eines Menschen
oft ganze Ensemble von Schreibgeräten- und formen
neben dem Manuskript (Ozean)
Feder Federmesser Brieföffner Tintenfass
Wachsstange Notizbuch Brieftasche versiegelter Umschlag
und versiegeltes Memorandum
neben den Druckschriften ein Kupferstich
und ein Almanach oder warum schreibst du?

unsere Erde wäre nichts als ein düsterer Kerker
wenn wir nichts von der Macht des Geistes wüssten
Geschichte sowieso ist ein Gewebe aus Unsinn
für den höheren Denker, Amru
der muselmanische Eroberer von Alexandria
(mit der umfangreichsten Bibliothek des Altertums)
benutzte die Schriftrollen als Brennstoffvorrat
für die Heizung der viertausend öffentlichen Bäder der Stadt
oder warum schreibst du?

(in Ermangelung des Herzens Schau)
für Ägypter, Mesopotamier und Homer
war das Herz der Sitz der Intelligenz
Demokrit aber sah im Hirn den Wächter der Gedanken
die Leber als Sitz der Begierden
die Lust am Orientierungsverlust
am Gebrochenen, Reflektierten, Raffinierten
und Auflösenden. Plato gliederte die Seele
in drei Teile, Aristoteles fror das Denken ein :
‘Das Gehirn besteht aus Wasser und Erde’ (aus Wasser und Erde ?) –
‘Es ist ein Kühlaggregat, um die Temperatur des Blutes zu senken
und den Schlaf einzuleiten’ (den Schlaf einzuleiten ?)
umgibt man sich (folgerichtig)
mit den klügsten Köpfen, geschieht es
dass man sich mit ihnen im Traumdialoge misst
da tafeln wir des Öfteren (Abstinenz ist unsere Sache nicht)
bis uns recht schlecht von der Völlerei geworden ist
Minne zu erwerben, das ist ja des Dichters Sinn
wir nennen’s heute Liebe, meinen aber Magen

im 17. Jahrhundert führt Descartes
die einzelnen Komponenten wieder zusammen
und brachte sie in der Zirbeldrüse unter
er war der erste, der den Körper als eine Maschine sah
(die mahlenden Wände wie Backenzähne)
verglich ihn mit einer Orgel
in deren Pfeifen die animalischen Instinkte zirkulieren
(‘Three More Quarks for Mister Mark’ / Joyce)

übern Tischrand dieser Erde wölbt der Sonnerich
sich halb, in all Getöpfe fasst die lichte Hand
in Weidenkörben goldets auf – auf Heldenfeldern
trocknets Laub und zischelt beim Verwehen :
‘Oh Serpentina, hier entlang, oh Serpentina, dort!

ich sah sie nicht am Fenster stehn
noch über die Schulter schnurrn
ihr Schritt tickt immer weiter fort
es atmet kaum ihr Schuh, heraus blitzt
neonfarben neuester Tand und Modeschlick
wer’s nicht hat (Acht und Bann)
verwest sind ihre Schritte
halb schon auf dem Asphaltschwarz,
mich geht die Gier fürs Neue an

Diane Setterfield: Die dreizehnte Geschichte

Im Jahre 2006 war Diane Setterfield eine der meistdiskutierten Autorinnen der Welt, da war ihr Debütroman noch nicht einmal erschienen. Der Grund, warum diese englische Akademikerin für so viel Aufregung sorgte lag an einem Bieterwettstreit, den man sich auf beiden Seiten des großen Teiches zehn Tage lang lieferte, denn jeder wollte “Die dreizehnte Geschichte” unbedingt als erster haben, nachdem das Manuskript bei einem Schreibseminar, bei dem es eigentlich um die Frage ging, wie man es schafft, ein Buch zu veröffentlichen, von dem Autor Jim Crace entdeckt wurde. Dadurch wurden einige Verleger aufmerksam. Schließlich ging das Manuskript für unglaubliche 800.000 Pfund in Großbritannien und für 1 Million Dollar in den USA an die jeweiligen Gewinner. Mehrere Übersetzungsverträge wurden gleich mit unterschrieben und von Anfang an standen die Filmemacher Spalier. Das waren Dimensionen, die man bis dahin nur von Stephen King kannte (einige werden an JK Rowling denken, aber die hatte einen ganz anderen Weg zu gehen).

Natürlich war das für Setterfield, Lehrerin für französische Literatur und Sprache ein enormer Erfolg, denn bis dahin hatte sie nur einige Artikel zur Literaturtheorie in Magazinen veröffentlicht. Allerdings wurde es schnell auch wieder still um die Autorin, die erst sieben Jahre später dem an Poe angelehnten Roman “Aufstieg und Fall des William Bellman” von sich hören ließ. Am 1. Oktober (2020) erscheint mit deutlicher Verzögerung nun ihr dritter Roman von 2018 auch in deutscher Sprache – woran sich das verhaltene Interesse durchaus messen lässt. Das aber liegt nicht an Setterfiled sondern an der schnelllebigen Zeit, in der so viel Müll alle Kanäle verstopft und immer schneller dem Neuen nachgejagt wird, das in den meisten Fällen ohnehin von minderer Qualität ist. So viele großartige Veröffentlichungen wie man vielleicht glauben mag, wenn man die Veröffentlichungsfluten sieht, gibt es nämlich gar nicht. Ganz im Gegenteil nimmt die Masse zwar beständig zu, die Qualität aber seit Jahrzehnten beständig ab. Und die meisten Leser sind schlechte Leser – und werden immer schlechter.

Was das Buch anbelangt, das all diese verrückte Aufmerksamkeit erregt hat, so liefert Setterfield mit der Geschichte von Margaret Lea einen der faszinierendsten Romane, die in diesem Jahrzehnt herausgebracht wurden. Die zurückgezogene, schlichte Margaret verbringt ihre Tage damit, in der Buchhandlung ihres Vaters zu arbeiten, wo sie ihre Faszination für berühmte Schriftsteller entfacht. Geprägt von der Entdeckung, dass sie mit einem Zwilling an ihrer Seite geboren wurde, dessen Tod ihr das Überleben ermöglichte, lebt sie ruhig und beschaulich, liest unersättlich und schreibt zum Vergnügen gelegentlich an kleinen Biografien.

Als sie einen Brief von der legendären Vida Winter erhält – einer Romanschriftstellerin, die dafür berüchtigt ist, mit Journalisten zu spielen und ihre eigene Lebensgeschichte immer wieder neu zu erfinden -, steckt darin ein höchst faszinierendes Angebot.

Da Vida altert und kränkelt, möchte sie endlich mit ihrer Vergangenheit ins Reine kommen und Margaret ihre wahre Geschichte erzählen. Was folgt, ist ein labyrinthischer Abstieg in die seltsame und erschreckende Geschichte von Vidas Vergangenheit und ihrer bizarren Familiengeschichte. Kritiker haben “Die dreizehnte Geschichte” an die Seite so großer literarischer Koryphäen wie Charlotte Brontë und Daphne du Maurier gestellt und Setterfields anmutige Erzählstimme herausgestellt. Und natürlich ist dieser Roman eine klug konzipierte Hommage an den klassischen Mystery-Stil und die romantische Gothic Novel. Jane Eyre ist dann auch das Buch, das Setterfield in die Handlungs-Substanz einwebt und dessen gotische Elemente gekonnt in eine eigentümliche Erzählung von Wahnsinn, Mord, Inzest und dunklen Geheimnissen einfließen.

Margaret ist entmutigt, aber Miss Winter, eine bizarre Kombination aus Miss Havisham und Norma Desmond, lockt sie mit einer unwiderstehlichen Geschichte an. “Es war einmal”, sagt sie, “Es war einmal ein Spukhaus… eine Bibliothek… “Es waren einmal Zwillinge.” Margaret ist ist augenblicklich gebannt. Und ein guter Leser ist es ebenfalls.

So beginnt also die unglaubliche Geschichte von Angelfield House, der Ruine, in der der Schriftsteller aufgewachsen ist. Wir begegnen den seltsamen Kindern Charlie und Isabelle, deren sadomasochistische Bindung inmitten von Elend und Verwahrlosung aufblühen darf. Noch merkwürdiger sind Isabelles Nachkommen, die wilden rothaarigen Zwillinge Adeline und Emmeline, die Amok laufen und sich in einer ganz eigenen Zwillingssprache verständigen.

Alle Elemente sind an Ort und Stelle: das fremdartige Haus, der Formschnittgarten, die alte Bibliothek, treue alte Gefolgsleute und die ständige vage Möglichkeit des Übernatürlichen. Dabei ist der Roman nicht gänzlich ohne Schwächen. Am Ende geht es vielleicht ein wenig aufgesetzt darum, all die losen Enden miteinander zu verbinden. Nichtsdestotrotz ist dieser Roman ein Buch über die Freude an Büchern, ein fesselndes, vielschichtiges Mysterium, das sich dreht und wendet und über den größten Teil seinen recht magischen Zauber entfaltet.

Das Buch gibt es bei Random House.

Weiterführend: Die Anfänge der schauerliteratur.

Horror

Schlafparalyse und die Mädchen aus “The Ring”

Dieser Artikel ist Teil 8 von 24 der Reihe Was ist Horror

Ich habe fast jede Nacht Schwierigkeiten beim Einschlafen. Vor zwei Nächten war mein Gehirn überaktiv, und ich wusste, dass die nächste Schlafparalyse in die Poren meiner Haut eindrang. Ich bin es mittlerweile gewohnt. Die Taubheit. Die Hilflosigkeit, wenn es beginnt. Nach jahrelanger Erfahrung weiß ich, wie ich mich daraus befreien kann. Ich weiß, dass die Angst vorübergehend ist. Ich weiß, wie ich die Schattenhände anschreien muss, die meinen Hals packen oder sich in meine Schultern und meinen Bauch krallen. Die Welt ist während der Schlafparalyse in schwarz und weiß getaucht. Die Umgebung ist statisch und ruhig. Ich öffne meine Augen in einer grauen Dimension und weiß, dass etwas mich beobachtet und darauf wartet, meinen Körper zu ergreifen. In diesen Träumen bin ich eine Außenseiterin. Ich kann meinem physischen Körper nicht etwa mitteilen, dass mich etwas beobachtet.

Die Bilder und Stimmungen, die Hideo Nakata in Ringu und Dark Water eingefangen hat, erinnern mich an jene Landschaften, die mein Gehirn während der Schlafparalyse erzeugt. Seine Filme fühlen sich vertraut, fast nostalgisch an. Ich habe mich in diese beiden Filme verliebt, wegen der körnigen blau-gelben Atmosphäre und wegen der jungen Geister (Sadako und Mitsuko), die die Hauptfiguren verfolgen. Auch für mich gibt es in den Filmen ein kathartisches Element. Ich kann die Kinderversion von mir in diesen zwei Charakteren erkennen. Wenn ich im Alter von sieben Jahren in einen Geist verwandelt worden wäre, würde sich ein Fluch als Folge meines Todes manifestieren. Ich sage das im Scherz, aber die Wut, die als Kind in meiner Kehle saß, war erheblich. Da war ein Durcheinander aus Verwirrung und Groll in mir. Diese ganze Verachtung drückte mir Brust und Lunge zusammen. Ich wollte ein Zimmer mit der Asche eines anderen Mannes füllen. Dieser Mann hat mir ein Trauma zugefügt. Er war kein Monster. Er war nur ein einfacher Mann. Ich kann verstehen, warum Sadako einen Fluch auf das Videoband webte. Sie versuchte verzweifelt aus dem Brunnen zu klettern. Niemand kam, um sie zu retten. Ich kann verstehen, warum Mitsuko in diesem Apartmentkomplex umging. Mitsuko wollte gefunden werden. Mitsuko wollte, dass jemand sie pflegt, selbst nach ihrem Tod.

Es ist 1996 in El Paso, Texas, und ich versuche zu schlafen. Jemand beobachtet mich. Ich öffne meine Augen und der verschwommene Körper schießt auf mich zu. Er zieht mich an den Füßen über die Bettkante. Er hätte mich in einen Geist verwandeln können, wenn er es gewollte hätte. Die Art, wie er meine Kehle und meinen Mund festhielt, als ob er keine Bedenken davor hätte, mich ersticken zu lassen. Es war Luis, der Vater meiner jüngeren Geschwister. Er sagte mir, ich solle ruhig bleiben. Er sagte mir, ich solle still bleiben. Ich dachte oft an mich selbst als an einen Geist, der in der Ecke saß und beobachtete, wie alles geschah. Ich zwang mich, den physischen Körper zu vergessen, in dem ich gefangen war. Ich schloss meine Augen fest, bis ich violette Sterne an den Rändern meinen Augenlidern sah. Ich wartete auf die Stille, als er den Raum verließ. Ich saß im Dunkeln und weinte nie, denn es fühlte sich an, als würde meine Stimme aus mir herausgedrängt und in den rissigen Schmutz der Wüste gestoßen. Mir blieb nichts anderes übrig, als mein pochendes Blut gegen die Schläfen meines Kopfes klopfen zu lassen, wütend darüber, so klein und gebrechlich zu sein.

Die Schlafparalyse kam zusammen mit der Pubertät. Es begann, als ich zwölf war: Ich bin in der sechsten Klasse, und ein Lehrer mit leuchtend orangenen Haaren weist uns an, wie man Word am Computer benutzt. Ich hebe meine Hand, um eine Frage zu stellen. Er kommt an meinen Tisch. Er legt seine Hand auf die Computermaus. Ich dachte erst, das sei ein Versehen, ich versuchte, meine Hand wegzuziehen, aber er drückte mit seiner fester zu und versuchte, seine Finger mit meinen zu verschränken. Als schüchternes und nervöses Kind sagte ich nichts. Ich wache mitten in der Nacht in einer schwarzweißen Welt auf, und ich sehe, wie Luis versucht, in mein Zimmer zu kommen. Er ruckelt am Türknauf. Er klopft und das Dröhnen der Tür lässt das Zimmer erzittern. Ein Schatten schwebt über mir, und mehrere Glieder strecken sich über die Decke, bis ich in vollkommene Schwärze gehüllt bin. Ich schreie und ich schreie, aber ich kann nicht aufwachen.

• • • •

Ich fühle mich Sadako verbunden wegen des Zorns, der in ihr wohnt. Die Welt, in die Sadako hineingeboren wurde, war nicht für sie geschaffen. Ich habe mich als Kind körperlich so gefühlt. Die Welt wurde nicht für meinen braunen Körper gemacht, sondern für verächtliche Patriarchen. Sie ist für Männer wie Luis geschaffen, dem es gelang, mich so lange sexuell zu missbrauchen. Ich beobachtete das Machtungleichgewicht zwischen einem misshandelnden Stiefvater und einer verliebten Mutter. Ich spürte das Machtungleichgewicht, als mein Körper penetriert, sondiert und verletzt wurde. In diesen Nächten konnte ich nur vor Schreck erstarren und so tun, als wäre mein Körper nicht mein eigener. Jahre nachdem Luis aus unserem Leben verschwunden war, hatte ich unwillkürliche Panikattacken. Ich sah nachts rot und es war schwierig, einzuschlafen. Ich kochte vor Zorn, den ich auf mich selbst richten wollte.

Die Affinität zu Mitsuko habe ich wegen der Einsamkeit, die sie repräsentiert. Verzicht und die Nachwirkungen von Vernachlässigung wiegen schwer. Ich hatte einmal einen mutigen Moment und erzählte es Luis, aber meine Sicht auf die Dinge wurde abgetan. Er blieb noch ein paar Jahre. Er und meine Mutter hatten ein drittes Kind zusammen. Ich fühlte mich sehr alleine. Ich war ein schrumpfender Punkt. Ich wollte verschwinden. Ich war das Kind, das auf eine Mutter wartete, die nach der Schule nie auftauchte. Ich war das Kind, das so oft die Schule verpasst hat. Die Lehrer haben angefangen, mir Fragen über meine Eltern zu stellen, mich nach Hause zu fahren und dort die Antworten von einer Frau zu verlangen, die kein Auge auf mich hatte. Es dauerte lange, bis ich erkannte, was diese Muster bedeuteten. Man nennt sie „Vernachlässigung“. Mangel an Interesse an der Erziehung eines jungen Mädchens, das Schaden genommen hatte. Mitsuko wurde als Kind vernachlässigt. Sie wurde von ihrer Mutter verlassen. Sie starb, und niemand beachtete sie. Sie wollte nur umsorgt und geliebt werden. Das wollte ich ebenfalls und ich wollte auch keine Angst davor haben müssen, geliebt zu werden.

Eine meiner frühesten Erinnerungen ist die an den Tod. Zwei Zebrafinken in einem Käfig. Ich öffnete die verdrahtete Käfigtür und versuchte, einen von ihnen festzuhalten, um ihn zu streicheln. Ich drückte den Vogel zu fest und tötete ihn damit. Ich erinnere mich daran, wie ich geschrien habe und zu meiner Mutter aufschaute und tief beschämt war, weil ich wusste, was ich getan hatte. Ich war drei oder vier Jahre alt. Ich betete jeden Abend ernsthaft zu Gott. Ich bat ihn, mich nicht sterben zu lassen. Ich hatte Angst vor dem Tod, aber ich war von ihm auch fasziniert. Als ich älter wurde, ging ich jeden Tag in die Bibliothek und las eine neue Ausgabe „Fear Street“ oder „Goosebumps“ oder irgendetwas sonst in der Horror-Abteilung. Geschichten über Leute, die um ihre letzten Momente kämpfen. Ich stellte mir vor, an ihrer Stelle zu sein und fragte mich, ob ich überleben würde? Ich wusste, dass meine Überlebensfähigkeit enorm war. Ich hatte bis zu diesem Punkt so viel überlebt. Ich habe inzwischen meine eigenen Horrorgeschichten geschrieben. Es war eine kathartische Praxis. Die Geister, über die ich schrieb, waren Mädchen und Frauen. Sie spuken durch Wälder und über lange, einsame Straßen. Sie verursachten Blutvergießen ohne Rücksicht auf Konsequenzen. Sie waren stark. Sie waren rachsüchtig. Sie wurden gefürchtet. Ich war hungrig nach Autonomie. Ich war hungrig, den Zorn, der in meinen pulsierenden Adern strömte, auszudrücken. Ich wollte lernen, wie ich meine Wut ausnutzen konnte, ohne Partei zu ergreifen, und Horrorgeschichten brachten mir Trost.

Sadako hinterließ ihre eigene Geschichte auf dem Videoband. Mitsuko kontrollierte das Wasser im Apartmentkomplex, um ihre Einsamkeit, Wut und Verwirrung auszudrücken. Die Gefühle von Zorn und Verlassenheit bleiben in meinen Lungen haften, und manchmal schreie ich sie während der Schlafparalyse aus mir heraus. Andere Male schreibe ich sie aus meinem Körper und nehme das kleine Geistermädchen an, das mir immer folgen wird.

Diese Welt erdulden oder eine andere illuminieren? Über die Bedeutung und den Nutzen des Horrors

In seiner interessanten Abhandlung in Buchform, Danse Macabre (1981), stellte Stephen King die folgende Theorie über die grundlegende und beständige Anziehungskraft des Horrors auf:

Warum soll man sich schreckliche Dinge ausdenken, wenn es doch so viel wirklichen Schrecken in der Welt gibt?

Die Antwort scheint zu sein, dass wir uns Horror ausdenken, um mit dem wirklichen Übel fertig zu werden.

Ganz passend für jemanden mit einem so königlichen Namen gab uns der King in dieser Passage praktisch die Eine Theorie, um sie alle zu knechten, die eine Idee, die zur einfachen Antwort auf die Fragen nach dem inneren und beständigen Reiz des Grauens werden sollte. Unzählige Schöpfer und Konsumenten solcher Unterhaltung haben in den letzten drei Jahrzehnten die Logik des Kings so weit wiederbelebt, dass sie zu einem praktischen Bezugspunkt geworden ist, den jeder Horror-Fan auspacken kann, wenn seine oder ihre krankhaften Vorlieben in Frage gestellt werden. Warum Horror? Weil unsere Seelen ein Überlebenstraining brauchen, um sich für den Ernstfall zu wappnen, sobald der Ernstfall auf uns zukommt, versteht sich!

Ganz einfach? Ja. Einprägsam? Ja, sicher. Nützlich? Auf jeden Fall. Aber ist es korrekt?

Obwohl ich ein Bewunderer vieler Werke von Stephen King bin, gestehe ich, dass ich seine Logik hier zutiefst verdächtig finde. Diese Theorie schlussfolgert im Grunde, dass der Horror ein gesunder, ja sogar sozial verantwortungsvoller Zeitvertreib ist: Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, wenn Ihre Großtante Tilly bei der Auswahl der Filme Ihres Filmabends die Stirn in Falten legt. Informieren Sie sie einfach darüber, dass der kannibalische Rausch, den sie in den nächsten neunzig Minuten in reißerischen, extremen Nahaufnahmen aushalten muss, nur zu ihrem eigenen Wohl ist, denn er stählt ihre Nerven für das morgige Anstehen bei den Vergnügungen im Freizeitpark.

Der Verstand sträubt sich bei einer solch absurden Vorstellung. Und zwar so heftig, dass diese Erfahrung eine grundlegende Frage über die vorliegende Theorie aufwirft: Hilft uns die Horrorkunst in irgendeinem Medium wirklich bei der Bewältigung des Lebens? Und, was noch wichtiger ist, muss sie das? Erfordert sie einen Zweck, der über die köstliche Flut von Schauer und Grauen hinausgeht? Sicherlich können selbst die raffiniertesten Beispiele des Genres nicht wirklich als Lektionen des Lebens betrachtet werden. Oder etwa doch?

Ich habe den größten Teil meines Lebens Horror konsumiert, und doch kann ich keinen einzigen Fall nennen, in dem mich das Genre gegen die Schmerzen der Welt gestärkt hätte. An den Beerdigungen geliebter Menschen teilzunehmen, zu versuchen, sich finanziell über Wasser zu halten, zuzusehen, wie die Wetterverhältnisse in der Welt immer heftigere und schärfere Formen annehmen – nichts davon wurde durch postmoderne Geistergeschichten oder die in Öl gemalten Monstrositäten von Bosch erleichtert oder verständlicher gemacht. Aber wenn der Horror, obwohl er ein wenig vorhersehbarer ist als die meisten anderen Formen der Unterhaltung, doch sehr wenig zur Unterstützung der Lebensstrategien und Situationen seiner Leser und Zuschauer beiträgt, was genau tut er dann? Warum stürmen wir, seine Praktiker und Fans, Jahr für Jahr und Generation für Generation immer wieder seine Friedhofstore?

In seinem Essay “The Consolations of Horror” (1982; enthalten in The Nightmare Factory) betrachtet Thomas Ligotti die Theorie des Horrors als Vorbereitung auf  Leben und Tod und findet sie nicht nur entschieden unzureichend, sondern grundlegend daneben. Wenn die Menschen tatsächlich behaupten wollen, dass das Genre sie auf das Leben vorbereitet hat, fordert er sie auf:

Versuchen Sie doch einmal, Trost aus Ihrem halben Dutzend Durchläufen von The Texas Chain-Saw Massacre zu schöpfen, wenn man Sie gerade für eine Gehirnoperation vorbereitet.

Und da, Freunde, liegt der Haken. Denn es gibt keinen Trost für eine so schreckliche Erfahrung durch einen so schrecklichen Film. Die Formel bricht zusammen. Die Gleichung ist nicht auf Augenhöhe. Die Daten sind nicht berechenbar. Zwischen realem Horror und fiktionalem/künstlerischem Horror gibt es nicht nur das völlige Fehlen einer vorteilhaften symbiotischen Beziehung, sondern, wenn der Druck auf den Kopf zunimmt und das Skalpell auf Fleisch trifft, das völlige Fehlen jeglicher Art von sinnvoller Zuordnung.

Dies führt uns zu einer Variation unserer ursprünglichen Fragestellung: Wenn der Horror keine erkennbare Relevanz für etwas anderes als sich selbst hat, bedeutet das dann, dass er an sich überhaupt keine Relevanz hat?

Die Frage stellt sich gerade angesichts der Tatsache, dass das Genre weiterhin Themen aufgreift, die im herkömmlichen Sinne relevant erscheinen, wie etwa – um nur ein Beispiel zu nennen – die vielen klugen Angebote verschiedener Filme, Geschichten und Bücher, die scheinbar politische Subtexte hervorbringen. Und tatsächlich haben viele Veröffentlichungen in diesem Genre den Anschein, als ob sie solche Lektionen für ihr klügeres Publikum bereit hielten. Aber ich vermute, dass selbst diese Elemente kaum mehr als Kulissen sind: ein falscher Subtext, den der Autor (vielleicht unwissentlich) eingefügt hat, um sich selbst davon zu überzeugen, dass die ganze Übung mehr ist als nur ein leeres Schwelgen in reichlich Morbidität.

Aber ich denke, eine genaueres Verständnis der Situation erfordert es, den Verfasser als jemanden zu betrachten, der als Platzanweiser fungiert, der uns sanft in eine Welt stupst, die zunächst im Grunde genommen mimetisch ist. Es ist unsere Welt. Wir kennen diesen Ort. Und doch gibt es einen Hauch des Unheimlichen, der von den Dingen ausgeht. Die Szenerie hängt leicht schief. Vielleicht beobachten uns Augen. Dieser Hauch von Unheimlichkeit verändert die Mischung kaum; wenn überhaupt, dann dient er als Leichenduft, der unseren inneren Ghul berauscht. Und wenn solche Spekulationen fragwürdig erscheinen, dann bedenken Sie Folgendes: Wann haben Sie, vermutlich ein Leser von Horrorliteratur, das letzte Mal ein Buch zugeschlagen, weil Ihre Liebe zu dieser Welt zu groß war, als dass Sie das Chaos ertragen konnten, das unweigerlich auf die Figuren zukommt?

In den meisten Fällen ist unsere Reaktion das genaue Gegenteil, nicht wahr? Wir lesen weiter oder sinken noch genussvoller in unsere Kinosessel und folgen dem immer dichter werdenden Faden des Grauens wie Hunde auf der Fuchsjagd. Wir haben den Geruch der Andersartigkeit gleich hinter der Kurve eingefangen, und so warten wir mit angehaltenem Atem darauf, wie der Autor seine Offenbarung vor uns entfaltet. Wie wird diese spezielle Erzählung die blutleere Haut der scheinbaren Realität wieder aufreißen? Wann werden wir in einer Symphonie von Sargdeckeln, die von innen knarren, von Kronleuchtern, die in leeren Villen klirren, vom Heulen eines mondbeschienenen Waldes mitgenommen werden?

Und wenn diese Offenbarung erst einmal beginnt, ist sie dann nicht herrlich? Wir wissen, dass wir für eine gewisse Zeit von dieser Musik des Schreckens mitgerissen werden, und durch dieses Wissen wird eine uranfängliche Ahnung befriedigt: die Ahnung, dass diese Dramen nichts wirklich mit der Welt zu tun haben, die wir für uns selbst geschaffen haben. Stattdessen enthüllt die übernatürliche Geschichte eine größere Welt, eine numinose und verwirrende Welt, eine Welt, die nie dazu bestimmt war, uns zu dienen. Wir sonnen uns in einem Entwurf dieser Welt, der unter oder hinter der Welt, die wir erkennen, verläuft, und wir beobachten in einem Beinahe-Delirium, wie diese größere Welt, die wir zwar erkennen, aber so selten durch etwas anderes als der subtilsten Andeutung erfahren, plötzlich ihr hässliches Haupt erhebt und unsere bequeme, vertraute Welt als Ganzes verschlingt.

Vielleicht könnte dies eine ehrlichere Aussage über die Wechselbeziehung zwischen dem Horror und der Welt sein: nicht, dass der Horror uns etwas darüber sagt, wie die Welt funktioniert, sondern dass er uns die paradoxe Erleichterung und Furcht erleben lässt, wenn wir sehen, wie unsere Zivilisation von der größeren Welt, die sie verdrängen sollte, zerrissen wird. Denn sind wir im Prinzip so anders als die Puritaner, die Zäune errichteten, um die Zivilisation von der ungezügelten, verwirrenden, seelenlosen Wildnis zu trennen, die so wenig Bereitschaft zeigt, unseren Wünschen nachzugeben?

Aber all dies beantwortet noch immer nicht die übergeordnete Frage, die sich daraus ergibt: Warum?

Kehren wir zu Thomas Ligottis Essay zurück, genau zu dem Punkt, an dem er dieses Thema aufgreift:

Aber wozu, wozu?

Nur um es zu tun, das ist alles. Nur um zu sehen, wie viel ungemilderte Verrücktheit, Trauer, Verwüstung und kosmische Angst das menschliche Herz verkraften kann und noch genug Herz übrig bleibt, um diese Qualen in künstlerische Formen zu übersetzen.

[…] Dies ist also der ultimative, das heißt einzige Trost: dass jemand einige Ihrer eigenen Gefühle teilt und daraus ein Kunstwerk gemacht hat, das Sie mit der Einsicht, Sensibilität und – ob Sie es wollen oder nicht – mit einer Reihe von Erfahrungen ausstattet, um es würdigen zu können.

Das ist also der Fall. Kings Theorie mag die erfreulichere sein, aber die von Ligotti ist meiner Meinung nach die solidere. In ihrer reinsten Form ist die Geschichte des übernatürlichen Horrors kein Angebot für Lebenslektionen, die Ihr Gehirn entschlüsseln und dann für eine produktivere und weniger schmerzhafte Existenz nutzen kann. Vielmehr ist sie eine Verstärkung jener privaten, selten geäußerten Eindrücke eines lauernden Albtraums, den Sie selbst irgendwann einmal gehabt haben. Es geht nicht darum, eine Einweihung in die Welt unseres Schaffens zu erfahren. Es ist ein Abstieg oder Übergang in den nichtmenschlichen Bereich der nächtlichen Wildnis, selbst wenn diese Wildnis nur in unseren Schädeln existiert.

Unsere privaten Ängste auf ein schreckliches Ausmaß ausgedehnt zu sehen, unsere privaten Wünsche gegen die fernen Mauern des eisigen Kosmos geschrien zu haben, ist vielleicht so ziemlich der einzige Trost, der einzige “Wert”, den der Horror bieten kann.

Für eine Weile können Bilder von Furcht und Andersartigkeit frei Amok laufen … zumindest bis die Geschichte erzählt wird, und dann schmiegen sich unsere wölfischen Instinkte wieder in die kühlen, dunklen Höhlen unseres Unterbewusstseins. Wir erheben uns von unseren Lesesesseln oder verlassen unser klimatisiertes Nachbarschaftskino und kehren in die Welt zurück, nicht viel klüger, aber ein bisschen zufriedener, denn wir wissen, dass da draußen jemand schreit, jemand weiß, dass, um einen Text von Leonard Cohen zu zitieren, es ein mieses Geschäft ist. Wir sind uns schmerzlich bewusst, dass in der Wildnis, die wir hinter unseren Zäunen und unter unseren Rasenflächen halten, noch etwas anderes vor sich geht. Aber dieses Etwas ist oft unbeschreiblich. Es ist nicht “für” uns da. Wir haben es nicht erschaffen, und es ist nicht dazu da, den Menschen zu dienen, egal wie sehr wir es auch wollen. Alles, was wir haben, ist die Welt, die wir für uns selbst geschaffen haben, die hellgraue Scheinwelt, von der wir wissen, dass sie nur eine Fassade ist.

Und so kehren wir in diese Welt zurück, an den Ort, den wir in unserer jüngsten Horrorparade gerne zerstört, verseucht und vergiftet gesehen haben. Aber keine Sorge, unsere Ängste werden schon bald wieder den Siedepunkt erreichen, und dann können wir nach dem schwarz gebundenen Buch greifen oder die passende DVD aus unserer alphabetisch geordneten Bibliothek des Chaos auswählen.

Genießen wir unseren

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Mäuse im Feld und Blütenbabies

Blüten und Mäuse

Einige Dinge sind in einem kultivierten Haushalt unerlässlich, in dem nicht die Präsentation, sondern das häusliche Glück steht: dazu gehört ein Röhrenradio, ein Plattenspieler, eine Bibliothek usw. es ist nicht so, dass man alles immer gleich zur Verfügung hat – etwa den richtigen Überzug für die Wärmflaschen, weil man lange suchen muss, um den richtigen Stoff zu finden, der den biedermaierlichen Qualitäten entspricht. Albera hat ihn gefunden, eben auf jener – schon legendären – Literaturseite Etsy.

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Ein Morgen mit Dexter Grodon

Den frühen Morgen mit Dexter Gordon begonnen, der von meinen bewunderten Tenorsaxophonisten das vollste Organ besitzt.

Noch in der Nacht konnte ich den Volker Kutscher beiseite legen, durch seine Gereon Rath-Romane der Impulsgeber zur hervorragenden Produktion “Babylon Berlin”. Kutscher selbst kann Ideen haben, aber er hat eindeutig kein Erzähltalent, das liegt tatsächlich den wenigsten deutschen Autoren im Blut. Ganz anders der erste Highsmith-Band; die Dame bricht mit einer erschreckend einfachen Sprache ins Bewusstsein, die Finesse liegt in ihrer psychologischen Führung der Figuren.

Die Inselsprüche und was denn mitzunehmen wäre: Auffällig sind es bei mir vermehrt Kurzgeschichten und weniger Romane. Natürlich Cortázar (mitsamt Rayuela eben als einer der wenigen Romane); Poe, Bruno Schulz, Borges, Ligotti, Aickman. Gegen Romane entscheide ich mich nicht wegen der Form, sondern wegen der Fülle auf engstem Raum bei leichtem Gewicht.

Piglia: Man erzählt nicht, um sich zu erinnern, sondern um etwas Verborgenes zu zeigen.

Also bin ich ein Hybrid, ein Zwitterwesen zwischen Federhalter / Maschine und der elendigen digitalen Textur, die immer eine Umkehrung ist, eine Vernichtung, die täuschend echt mit Symbolen umgeht, aber am Ende nur von der reinen Vergeblichkeit kündet.

Es gibt wichtige Bücher und eine größere Masse unbedeutender, denen man in einem Leseleben begegnet. Die Verteilung scheint zunächst willkürlich. Die Zufälle, mit denen man seine persönliche Bibliothek füllt, sind, wie die Zufälle aller Begegnungen: es erschließt sich erst in einem Zwiegespräch die Tragweite.

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Mit Piglias “Letztem Leser”

So erstaunlich es sich anhört, habe ich eine irrationale Angst davor, Bücher könnte es eines Tages nicht mehr geben und diese Möglichkeit käme noch zu meinen Lebzeiten zum Tragen. Das mag vielleicht ein Grund für meine Besessenheit sein: kaum habe ich ein Buch in meine Sammlung integriert, fehlt mir ein anderes schmerzlich. Und das geht immer so fort. Als Leser hat man immer zu wenig Bücher, auch wenn man eines Tages so viel hat, sie nie und nimmer alle lesen zu können. Doch das spielt keine Rolle und kann nur der Einwand eines Nichtlesers sein, denn manchmal besteht die Aufgabe eines Lesers gerade darin, nur zwischen den Büchern zu verweilen und nicht zu lesen. Es gibt keine andere Möglichkeit, das Universum zu uns einzuladen; sobald wir in den Nachthimmel sehen, zieht es sich zurück. Nur in einer Bibliothek offenbart es sich, wie das Leben, das man sucht, aber nur noch in der Erinnerung findet, einer Erinnerung, die sich nicht zuletzt aus Gelesenem speist.

Die interessante Frage ist die nach den Büchern, die gerade nicht da sind. So wenig wie man alles lesen kann, das je geschrieben wurde, so wenig kann man alle Bücher besitzen. Sollte man es überhaupt versuchen? Welche Bücher fehlen wirklich? Und welche Beziehung hat ein Leser zu eben jenen Büchern, die er nicht liest? Obwohl sich diese Fragen nach einer Willkür erkundigen wollen, ist eine Lektüre niemals beliebig. Als Leser folgt man Verweisen innerhalb der Unendlichkeit, und wieder sind wir bei der Metapher des Lebens angelangt, das so individuell ist wie der Weg durch dieses Labyrinth. Nur ist das Leben tatsächlich eine Metapher, die Lektüre ist es nicht, sie ist ein unerschließbares Rätsel, größer als das Rätsel unserer selbst. Bücher nämlich, die nicht da sind, die zerstört wurden, nie besessen wurden, sind in jenen mitenthalten, die man gelesen hat oder lesen wird.

Piglia schreibt: “In diesem von Büchern gesättigten Universum, wo alles schon geschrieben wurde, kann man nur wiederlesen, das Alte auf neue Weise lesen.”

Und das bedeutet schließlich die Freiheit im Umgang mit dem Text, bedeutet, dass jede Leseerfahrung alleine gemacht wird, angepasst an die eigenen Bedürfnisse. Der Minotaurus, den wir finden, ist ein persönlicher; indem sich alles wiederholt, wiederholt sich nichts. Es ist ein völlig eigenes Genre, Bücher über Bücher oder das Lesen zu schreiben. In der argentinischen Literatur ist diese Reflexion sehr ausgeprägt und alle diesbezüglichen Spuren führen zu Borges und von ihm wieder sternförmig (oder arachnoid) weg.