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Wie Poe durch Dupin die literarische Welt für immer veränderte

Olivia Rutigliano ist die stellvertretende CrimeReads-Redakteurin bei Lit Hub. Ihre Arbeiten erscheinen darüber hinaus auf vielen anderen Plattformen. Sie ist Doktorandin und Marion E. Ponsford-Stipendiatin an der Columbia University, wo sie sich auf Literatur und Unterhaltung des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts spezialisiert hat. Wir danken für ihre Bereitschaft, bei uns mitzuwirken. —M.E.P.

Obwohl es in der Literatur seit Jahrhunderten nur so von cleveren Problemlösern wimmelt, von Trickbetrügern über geläuterte Diebe bis hin zu weisen Männern und Polizeipräfekten, versetzte Edgar Allan Poes Detektivgeschichte “Die Morde in der Rue Morgue”, als sie 1841 erschien, die literarische Welt in Erstaunen. In einem Haus in der Rue Morgue (einer fiktiven Straße in Paris) ist ein grausamer Doppelmord geschehen. Mehrere Zeugen bestätigen, dass sie mehrere Stimmen gehört haben, aber niemand kann sich darauf einigen, welche Sprache einer der Sprecher verwendet haben könnte. Es gibt mehrere Hinweise, von denen einer rätselhafter ist als der andere. Die Polizei ist ratlos. Doch C. Auguste Dupin, ein Liebhaber seltener Bücher, löst das Rätsel zu Hause, nachdem er die Details in der Zeitung gelesen hat, und wird so zur ersten echten Detektivfigur der Literatur und löst damit eine Revolution aus, in dem er ein Genres definiert. Er taucht in zwei weiteren Geschichten auf: “Das Geheimnis der Marie Rogêt”,  und “Der entwendete Brief” von 1844.

Wie der Literaturkritiker A. E. Murch schreibt, handelt es sich bei der Detektivgeschichte um eine Erzählung, bei der “das Hauptinteresse in der methodischen Entdeckung der genauen Umstände eines mysteriösen Ereignisses oder einer Reihe von Ereignissen mithilfe rationaler Mittel liegt“. Der Kritiker Peter Thoms führt dies weiter aus und definiert den Kriminalroman als “Chronik einer Suche nach Erklärung und Lösung” und fügt hinzu:

“Eine solche Fiktion gestaltet sich typischerweise als eine Art Rätsel oder Spiel, als ein Ort des Spiels und des Vergnügens sowohl für den Detektiv als auch für den Leser.”

Der wohlhabende Dupin ist ein Sesseldetektiv, der Rätsel löst, weil er es kann, indem er eine Methode  der “Folgerung” anwendet, bei der er im Grunde “über den Tellerrand hinausschaut” (und es ist gut, dass er das tut, sonst würde niemand diese Verbrechen lösen; der Mörder in “Die Morde in der Rue Morgue” entpuppt sich als entlaufener Orang-Utan. Man kann wohl mit Sicherheit sagen, dass niemand sonst darauf kommen würde). Er teilt seine Schlussfolgerungen seinem guten Freund, dem anonymen und oft verblüfften Ich-Erzähler mit.

Hätte Poe nicht die Konventionen festgelegt, die wir als Kennzeichen der modernen Detektivgeschichte kennen, hätten andere wahrscheinlich nicht lange danach das Gleiche getan. Die Literatur war auf dem Weg zu dieser Entdeckung; sicherlich gab es eine lange Reihe von Figuren, die ähnlich vorgingen, gestohlene Gegenstände aufspürten und unmögliche Rätsel knackten, und wie Dupin taten sie dies als Privatleute und nicht als Angestellte des Staates. Voltaire schrieb 1747 die philosophische Novelle Zadig oder das Schicksal zum Thema Problemlösung, in der es um einen weisen jungen Mann in Babylonien geht, dessen Wissen ihn zwar in Schwierigkeiten bringt, ihn aber letztlich oft rettet. In William Godwins 1794 erschienenem Roman Die Abenteuer des Caleb Williams oder: Die Dinge wie sie sind, einer vernichtenden Anklage gegen die Fähigkeit des so genannten Justizsystems, Leben zu ruinieren, werden staatlich sanktionierte Ermittler zugunsten von nicht-traditionellen Problemlösern desavouiert. 1819 schrieb der deutsche Schriftsteller E. T. A. Hoffmann Das Fräulein von Scuderi, wo eine neugierige Frau namens Madeleine von Scuderi (die man als Vorläuferin von Miss Marple betrachten könnte) eine gestohlene Perlenkette findet.

Diese Aufzählung wäre unvollständig ohne Eugène-François Vidocq, einen Kriminellen, der sich zum Kriminologen wandelte und von 1775 bis 1857 lebte. Er gründete und leitete die erste nationale Polizei Frankreichs, die Sûreté nationale, sowie die erste private Detektei Frankreichs. Sein Leben inspirierte zahllose (verwegene) Adaptionen, darunter auch eine amerikanische, die 1828 in Burton’s Gentleman’s Magazine unter dem Titel “Unpublished passages in the Life of Vidocq, the French Minister of Police” veröffentlicht wurde und die Poe sehr wohl gelesen haben könnte. Interessanterweise gibt es in dieser Geschichte eine Figur namens “Dupin”.

Der berühmte Drehbuchautor Brander Matthews schrieb:

“Die wahre Detektivgeschichte, wie Poe sie sich vorstellte, hat nicht das Rätsel selbst zum Ziel, sondern die aufeinanderfolgenden Schritte, die den analytischen Beobachter in die Lage versetzen, das Problem zu lösen, das als jenseits menschlicher Möglichkeit abgetan werden könnte.”

In der Tat könnte Dupins größter Einfluss außerhalb des Kriminalromans und innerhalb des breiteren, späteren Feldes der Literaturkritik liegen. Dupins Fähigkeit, Hinweisen eine außergewöhnliche Bedeutung zu entlocken, macht ihn zum ersten Semiotiker, der mehr als ein Jahrhundert vor Ferdinand de Saussure, der 1966 sein Werk zu diesem Thema veröffentlichte, die Beziehung zwischen Zeichen, Signifikanten und Signifikaten aufklärte – vor allem, weil Dupin seine Hinweise eher über die Linguistik als über physische Objekte findet. In “Die Morde in der Rue Morgue” zum Beispiel leitet er die gesamte Lösung aus zwei Worten ab, die angeblich während des Verbrechens gesprochen wurden. (“Auf diese beiden Worte [‘mon Dieu!’]… habe ich hauptsächlich meine Hoffnungen auf eine vollständige Lösung des Rätsels gebaut.”)

Dupins Einfluss auf die Geschichte des Kriminalromans kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Er schuf unter anderem den Archetyp des Gentleman-Detektivs, der im Goldenen Zeitalter des Kriminalromans in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts so allgegenwärtig werden sollte. Jahre später schrieb Arthur Conan Doyle:

“Jede [von Poes Detektivgeschichten] ist eine Quelle, aus der sich eine ganze Literatur entwickelt hat… Wo war die Detektivgeschichte, bevor Poe ihr Leben einhauchte?”

In der Tat konstruierte Doyle seinen Detektiv Sherlock Holmes als einen intellektuellen Nachfahren von Dupin, indem er Watson (der ebenfalls direkt von den Dupin-Geschichten als Freund/Erzähler/Chronist abgeleitet werden kann, Dupin zitieren ließ, als er zum ersten Mal Zeuge von Holmes’ deduktivem Genie wurde.

»Klingt kinderleicht, wie Sie es erklären«, sagt Watson1887 zu Sherlock Holmes in der ersten gemeinsamen Novelle “Eine Studie in Scharlachrot”. »Sie erinnern mich an Edgar Allan Poes Dupin. Und ich habe immer geglaubt, dass solche Menschen nur in Geschichten vorkommen.«

Holmes äußert sich abfällig über dieses Lob: »Ihr Vergleich mit Dupin ist bestimmt als Kompliment gemeint«, erwiderte er. »Aber in meinen Augen war der Mann eine Flasche. Angeblich hat er nach fünfzehnminütigem Schweigen durch eine spontane Bemerkung herausgefunden, was in den Köpfen seiner Freunde vorging – ein angeberischer und billiger Trick. Er besaß zweifellos ein gewisses analytisches Genie, war aber keineswegs so phänomenal, wie Poe glaubte.«

Nun… bis auf die Tatsache, dass er es doch war. Holmes weiß es nicht, aber ohne Dupin hätte es ihn nicht gegeben.

Edgar Allan Poes “Der Goldkäfer”

Edgar Allan Poe wurde von Verlagen und Medien zu einen Synonym für Gruselgeschichten und dunkler Poesie stilisiert, vor allem in Deutschland. Zu seinen Lebzeiten war das allerdings nicht der Fall. Eine seiner bei weitem berühmtesten Geschichten ist eine, die heute weniger bekannt ist: Der Goldkäfer.

Ich dürfte etwa 11 Jahre alt gewesen sein, als ich diese Geschichte zum ersten Mal las. Vom ersten Augenblick an hat mich die Liebe zu Edgar Allan Poes Leben und Werk erfasst und nie wieder losgelassen.

Dies ist also der erste Teil einer Reihe von Artikeln und Sendungen, die sich um das Vermächtnis eines der größten literarischen Genies aller Zeiten gruppieren.

Obwohl es auf den ersten Blick nicht so aussieht, ist “Der Goldkäfer” eine Art Detektivgeschichte, mit William Legrand als dem in einer Hütte lebenden amerikanischen Gegenstück zum französischen C. Auguste Dupin in “Der Doppelmord in der Rue Morgue”, “Der entwendete Brief” und “Das Geheimnis der Marie Roget” und dem Erzähler als verwirrtem, aber intelligentem Handlanger, der Zeuge des Genies der Hauptfigur wird. Wie Dupin ist auch Legrand der Nachkomme einer alten Familie, der sich an intellektuellen Tätigkeiten erfreut und als Abenteurer nach der Gelegenheit Ausschau hält, einen Teil seines Reichtums wiederzuerlangen. Legrands Erklärung, wie er mit Hilfe von Beobachtung und Logik hinter das Geheimnis von Kapitän Kidds Schatz gekommen ist, weist einige Ähnlichkeiten mit Dupins Methode der Ratiokination auf, und beide zeigen eine Vorliebe dafür, sich auf subtile Weise über andere lustig zu machen, wie etwa den Polizeipräfekten in “Der entwendete Brief”. Auch Legrands Erklärung am Ende hat alle Facetten der Enthüllung eines Detektivs.

In “Der Goldkäfer” trifft unser namenloser Erzähler also William Legrand, der auf einer Insel in der Nähe von Charleston, South Carolina, lebt, nachdem er sein Familienvermögen verloren hat, um sich einen ungewöhnlichen skarabäusartigen Käfer anzusehen, den er entdeckt hat.

Legrand hat den Käfer jedoch einem Offizier geliehen, der in einem nahegelegenen Fort stationiert ist, aber er zeichnet für den Erzähler eine Skizze, mit Markierungen auf dem Panzer, die einem Schädel ähneln.

Man kann sich also vorstellen, wie aufgeregt er ist, als er feststellt, dass sein schwarzer Diener Jupiter beim Einfangen des Käfers versehentlich ein Stück Pergament mit einem Code mitgenommen hat, der den Standort von Kapitän Kidds verlorenem Schatz verrät, als er den Goldkäfer damit anfasste, der zuvor Legrand gebissen hatte.

Wie in “Das vorzeitige Begräbnis” wird in der ersten Hälfte der Geschichte eine Atmosphäre geschaffen, die im Nachhinein betrachtet äußerst irreführend ist. Der Erzähler nimmt Jupiters ständige Andeutungen, dass der Käfer tatsächlich aus Gold sei und dass sein Biss Legrand krank und möglicherweise verrückt gemacht habe, nicht für bare Münze, aber dennoch gibt Legrand keinen Hinweis darauf, dass er Jupiters Ideen verwirft, bis sie die Schatztruhe gefunden haben.

Die falsche Spur

Die offensichtlichste Vorahnung auf die Verwendung des Goldkäfers als falsche Spur findet sich zu Beginn der Geschichte in der Epigraphik, wo es heißt:

“Holla, holla! Der Bursche tanzt wie toll!
Es hat ihn die Tarantel gebissen.”

Das Zitat stammt – laut Poe – angeblich aus Arthur Murphys Komödie “All in the Wrong”, lässt sich dort aber nicht finden. Es wäre nicht das erste Mal, dass Poe eine falsche Zuschreibung ausspricht. Dennoch bezieht es sich auf Berichte von Menschen, die nach einem Spinnebiss wie verrückt zu tanzen begannen, um sich von dem Gift zu befreien. Daraus entstand dann der sogenannte Tarantella-Tanz. Wahrscheinlicher ist es, dass Poe sich an die Komödie “The Dramatist” von Frederick Reynolds erinnerte, in der es einen solchen Satz tatsächlich gibt, weil Poe schon einmal aus der gleichen Szene ein Zitat verfälschte.

Wie dem auch sei, korrespondiert das Zitat auf Legrands Krankheit und sein seltsames Verhalten, das angeblich auf den Biss des Käfers zurückzuführen ist. Tatsächlich aber ist der einzige Biss, der sich wirklich auf Legrand auswirkt, die Andeutung eines riesigen Schatzes, mit dem er sein Vermögen wiederherstellen kann.

Bevor Legrand die Bedeutung des Schädels erklärt und sagt, er habe seinen Freunden nur einen Streich gespielt, scheint die Beziehung zwischen dem Goldkäfer und dem Bild des Schädels unheimlich und möglicherweise übernatürlich zu sein. Doch Legrand widersetzt sich den Erwartungen und gibt eine relativ gewöhnliche Erklärung, und trotz des Titels der Geschichte ist der Goldkäfer selbst für die Schatzsuche im Grunde irrelevant und stellt sich als reiner Zufall heraus.

Der Kryptograph

Der Goldkäfer war das erste belletristische Werk, das die Wissenschaft der Kryptographie in die Handlung einbezog. Tatsächlich wurde das Wort “Kryptograph” von Poe erfunden und in dieser Geschichte zum ersten Mal verwendet. Die Geschichte inspirierte spätere Kryptologen (darunter William F. Friedman, ein Amerikaner, der in Kryptografiekreisen für die Entschlüsselung des japanischen PURPLE-Codes im Zweiten Weltkrieg berühmt wurde) und Dutzende von Schriftstellern in aller Welt. Es ist durchaus plausibel, dass die Wissenschaft der Kryptoanalyse, wie wir sie heute kennen, ohne den Goldkäfer nicht existieren würde.

Vor Poe war die Kryptographie für die meisten Menschen ein völliges Rätsel. Einfache Substitutions-Chiffren wie die im Goldkäfer galten als unlösbar, es sei denn, man besaß den Schlüssel, um sie zu entschlüsseln. Doch Poes Sprachkenntnisse und seine Besessenheit von der Logik, der “Ratiokination”, ließen ihn erkennen, dass jeder Code geknackt werden konnte. Und er zeigte den Leuten genau, wie man das macht.

Im Jahr 1839, vier Jahre vor der Veröffentlichung des Goldkäfers, veröffentlichte Poe einen Artikel im Alexander’s Weekly Messenger, in dem er die Leser aufforderte, ihm verschlüsselte Nachrichten zu schicken. Dort ließ er verlauten, dass er jede Substitutions-Chiffre lösen könnte. Eine einfache Substitutions-Chiffre ist ein Buchstabe oder ein Zeichen, das für einen anderen Buchstaben des Alphabets in der verborgenen Nachricht steht. Poes Herausforderung bestand auch darin, dass die Kryptogramme die Wortgrenzen einhalten mussten.

In seinen eigenen Worten:

“Es wäre keineswegs eine verlorene Mühe, zu zeigen, wie sehr das Rätselraten von einer strengen Methode geprägt ist. Das mag seltsam klingen; aber es ist nicht seltsamer als die bekannte Tatsache, dass es tatsächlich Regeln gibt, mit deren Hilfe es leicht ist, jede Art von Hieroglyphenschrift zu entziffern – das heißt eine Schrift, bei der anstelle der Buchstaben des Alphabets jede Art von Zeichen willkürlich verwendet wird. Zum Beispiel kann man anstelle von A ein % oder ein anderes beliebiges Zeichen setzen, anstelle von B ein * usw. usw. Auf diese Weise kann man ein ganzes Alphabet erstellen und dieses Alphabet dann in einer beliebigen Schrift verwenden. Diese Schrift kann mit Hilfe einer geeigneten Methode gelesen werden. Machen wir die Probe aufs Exempel. Lassen Sie jemanden einen Brief auf diese Weise an uns richten, und wir versprechen, ihn sofort zu lesen – wie ungewöhnlich oder willkürlich die verwendeten Zeichen auch sein mögen.”

Poe wusste, dass die Häufigkeit der Buchstaben in den Nachrichten der Schlüssel zum Knacken der Codes sein würde. Nach heutigen Maßstäben ist dies eine ziemlich einfache Technik zum Brechen von Codes, aber zu jener Zeit war sie bahnbrechend. Poes Herausforderung des Publikums wurde ein Riesenerfolg: Er erhielt Hunderte von verschlüsselten Nachrichten aus dem ganzen Land und löste sie tatsächlich alle, bis auf eine, die aus zufälligen Zeichen bestand, die dann auch keinerlei Bedeutung hatten. Im Grunde löste er also auch diese.

Poe erkannte die Faszination der Öffentlichkeit für das Knacken von Codes und beschloss, eine Geschichte speziell für sein chiffrierfanatisches Publikum zu schreiben. Ein vergrabener Schatz, eine exotische, “sehr einzigartige” Insel, Geheimnisse, Wahnsinn und – ein Muss in jeder guten Schatzsuchergeschichte – das Gespenst des Todes: Das Ergebnis ist eine abenteuerliche Geschichte, die die Fantasie der Menschen beflügelte und Poe zu einem bekannten Namen machte.

Die Geschichte wurde mit einem Preisgeld von 100 Dollar ausgezeichnet – dem höchsten Preis, den Poe zu Lebzeiten für ein einziges Werk erhielt – und in der “Dollar Newspaper” veröffentlicht, was zu einem sofortigen Erfolg führte. Es war der Goldkäfer – und nicht der Rabe oder das verräterische Herz -, der Poes Lesungen ein volles Haus bescherte und seine internationale Fangemeinde in so weit entfernten Ländern wie Frankreich, Russland und Japan begründete.

Nicht der Erzähler, sondern Legrand ist Poes Repräsentant in der Geschichte, der hier Poes Vorliebe für Ironie und Satire zeigt, indem er mit den Verdächtigungen seiner Freunde spielt und den Fall schließlich mit Einfallsreichtum und kluger Argumentation löst. Obwohl Legrands Abhandlung über Chiffren den Fluss der Geschichte unterbricht, zeigt sie erfolgreich ihre Intelligenz und hilft dem Erzähler, die Gedankenkette von Legrand zu verstehen und das zu glauben, was schließlich zur Entdeckung des Schatzes führt.

Kleine Geschichte des Kriminalromans

Genrebeschreibungen sind selten eine klare Sache, aber nur deshalb kann man überhaupt darüber diskutieren. Wäre immer alles klar und für jeden ersichtlich, würde ein Lexikoneintrag genügen und der Fall wäre abgehakt. Heute widmen wir uns dem wohl beliebtesten literarischen Genre überhaupt. Dem Kriminalroman.

Dabei sollte berücksichtigt werden, dass es niemals eine erschöpfende Aussage über ein Genre geben kann, und so ist auch dies hier nur eine kleine Übersicht.

Es gibt so viele verschiedene Arten von Kriminalromanen, dass sich bereits in den 1920er Jahren eine der ersten “Queens of Crime”, Dorothy L. Sayers, beschwerte:

“Es ist unmöglich, den Überblick über alle Krimis zu behalten, die heute produziert werden. Buch um Buch, Magazin um Magazin strömen aus der Presse, vollgestopft mit Morden, Diebstählen, Brandstiftungen, Betrügereien, Verschwörungen, Problemen, Rätseln, Mysterien, Nervenkitzel, Verrückten, Gaunern, Giftmördern, Fälschern, Würgern, Polizisten, Spionen, Geheimdienstlern, Detektiven, bis es so aussieht, als müsse die halbe Welt damit beschäftigt sein, Rätsel zu erfinden, damit die andere Hälfte sie lösen kann.”

Wir aber beginnen unseren kleinen Rundgang mit einer grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Rätselgeschichte und Kriminalroman, bevor wir uns einige historische Daten näher ansehen.

Beschäftigt man sich nicht ausschließlich mit deutschen Begrifflichkeiten, bietet es sich von vorneherein an, die hierzulande gebräuchlichen Genreumschreibungen nahezu allesamt zu verwerfen. Das Englische ist die literaturwissenschaftliche Leitsprache für populäre Literatur, daran ändern auch die länderspezifischen Eigenheiten nichts. Eines von vielen Beispielen ist die Mystery Fiction, also die “Rätselgeschichte”, die bei uns kaum als Begriff verwendet wird. Stattdessen wird der englische Begriff “Mystery” behalten und für eine Form der phantastischen Erzählung verwendet, die eigentlich der Weird Fiction nahe steht, während “Mystery Fiction” zur Kriminalliteratur wird. Das wäre in Wahrheit die Crime Fiction, die sich aber von der Mystery Fiction wiederum unterscheidet.

Rätselgeschichte vs Kriminalgeschichte

In der “Rätselgeschichte” wird ein Verbrechen begangen. Das ist zwar häufig ein Mord, aber nicht immer. Die Handlung schreitet voran und zeigt, wie das Verbrechen aufgelöst wird: Wer hat es getan und warum? (Der Fairness halber muss gesagt werden, dass sich daraus wiederum zwei Subgenres ableiten lassen: Whodunit und Whydunit). Die besten Rätselgeschichten erforschen oft die einzigartige Fähigkeit des Menschen zur Täuschung – insbesondere der Selbsttäuschung – und zeigen die Grenzen des menschlichen Verstandes auf. Tatsächlich wird dieses Genre als das intelligenteste der Spannungsliteratur angesehen. Gewalt ist hier nicht die treibende Kraft, sondern das Spiel des Intellekts. Wie können wir überhaupt so etwas wie Wahrheit erkennen? Ein Mysterium ist per definitionem etwas, das sich dem üblichen Verständnis entzieht, und vielleicht ist das der Grund, warum “Mystery” im deutschen Sprachgebrauch eine abgeschwächte Form der Horrorliteratur bezeichnet.

In der eigentlichen Kriminalgeschichte liegt der Schwerpunkt auf dem Willenskonflikt zwischen dem Helden des Gesetzes und dem Gesetzlosen, sowie auf ihren unterschiedlichen Ansichten über die Moral und die Aspekte der Gesellschaft, die sie repräsentieren.

Die besten Kriminalgeschichten handeln von einer moralischen Abrechnung des Helden mit seinem ganzen Leben oder bieten eine neue Perspektive auf das Spannungsverhältnis zwischen Gesellschaft und Individuum. Was ist eine gerechte Gesellschaft? Die Erzählwelt des Romans ist aus dem Gleichgewicht geraten, irgendwo zwischen einem Naturzustand (wo Chaos herrscht und diejenigen mit Geld und/oder Waffen die Macht ausüben) und einem Polizeistaat (wo Paranoia herrscht und der Staat die Macht monopolisiert). Der Held hofft, dieses Ungleichgewicht in irgendeiner Weise zu korrigieren.

Andere moralische Themen können die Herausforderung von Anstand, Ehre und Integrität in einer korrupten Welt sein, die individuelle Freiheit gegenüber Recht und Ordnung, und das Spannungsfeld zwischen Ehrgeiz und Verpflichtungen gegenüber anderen.

Schauen wir uns jetzt etwas in der geschichtlichen Entwicklung des Genres um.

Die Geschichte des Kriminalromans

Obwohl es leicht die ein oder andere Seite zu finden gibt, die behauptet zu wissen, was wirklich der erste Krimi der Weltgeschichte war, ist es fast unmöglich, so ein Kunstwerk tatsächlich zu benennen. Manchmal wird sogar die Geschichte von Kain und Abel genannt, und in diesem Fall wäre wohl Gott der Detektiv. Da er allerdings allwissend ist, ist das keine große Sache. Den “drei goldenen Äpfeln” aus Tausendundeiner Nacht wird ebenfalls manchmal die Ehre zuteil, aber ob es sich dabei auch nur im entferntesten Sinne um einen Krimi handelt, ist fraglich, da der Protagonist keine Anstrengungen unternimmt, das Verbrechen aufzuklären und den Mörder der Frau zu finden. Deshalb behaupten wieder andere, der Pokal sollte an ein anderes Märchen mit dem Titel “Die drei Prinzen von Serendip” übergehen, einem mittelalterlichen persischen Märchen, das auf Sri Lanka spielt (Serendip ist der persische Name für diese Insel). Die Prinzen sind hier die Detektive und finden das vermisste Kamel eher durch Zufall (oder durch ihre “Serendipität”; dieses Wort wurde von Horace Walpole, dem Autor der ersten Gothic Novel, geprägt und ist seither in Gebrauch. Es bezeichnet wertvolle Dinge, nach denen man nicht gesucht hat und auf die man aus heiterem Himmel stößt).

Sayers und die Antike

Wo finden wir die frühesten Anfänge des Krimis in der Literatur, und wer hat den ersten Whodunit geschrieben? Die Antwort liegt weiter zurück als Arthur Conan Doyle oder Wilkie Collins oder sogar Edgar Allan Poe, der oft als Vater des Genres angesehen wird. Viel weiter zurück.

Eine der ersten Autoritäten, die sich mit dieser Frage nach Vorläufern beschäftigte, war Dorothy Sayers. In der Einleitung zu ihrer bahnbrechenden Anthologie “The Omnibus of Crime” (1929) stellte Sayers eine kurze Liste der, wie sie es nannte, “Urahnen” des Genres auf.

Aus der antiken römischen Literatur zitierte Sayers die Geschichte von Herkules und Kakus. Als Herkules sein Vieh den Tiber entlang trieb, hielt er an, um ein Nickerchen zu machen. Während er schlief, tauchte das Ungeheuer Kakus aus seiner Höhle auf dem Palatinhügel auf und raubte einen Teil der Herde. Als Herkules erwachte, zählte er die Rinder und stellte fest, dass einige fehlten. Er folgte den Spuren der vermissten Tiere, erreichte eine Stelle, an der die Hufspuren abrupt aufhörten, und war verblüfft. Tatsächlich hatte der schlaue Kakus die Rinder in diese Richtung geführt und sie dann an den Schwänzen zurück in seine Höhle gezerrt. Herkules – offensichtlich kein großer Detektiv – war ratlos, bis er das Muhen des fehlenden Viehs hörte, die Höhle fand und den Dieb tötete.

Sayers zitierte diese Geschichte, weil der Plan des Bösewichts auf dem beruhte, was sie die “Erschaffung falscher Hinweise” nannte – die Hufspuren, die ins Leere führten. Wir haben es hier nicht mit einem vollwertigen Krimi zu tun, sondern nur mit einem rudimentären Element der Kriminalliteratur, das hier vielleicht zum ersten Mal als literarisches Mittel eingesetzt wird. Wie alt ist die Geschichte? Obwohl sie in einer prähistorischen, mythischen Vergangenheit angesiedelt ist, stammen unsere frühesten Beispiele für diese Geschichte (wie die in Vergils Aeneis) aus dem ersten Jahrhundert vor Christus; der große römische Religionshistoriker Georges Dumézil stellt fest, dass “die Legende von der eher unfreundlichen Begegnung zwischen Herkules und Kakus sicherlich noch nicht sehr alt war, als Vergil sie durch seine Dichtkunst aufwertete”.

Aus der jüdischen Literatur zitiert Sayers zwei Geschichten über den biblischen Helden Daniel. Die eine ist die oft gemalte Geschichte von Susanna im Bade. Zwei geile Richter, die zu den Ältesten gehören, spionieren Susanna aus, während sie nackt in einem Teich badet; erregt sprechen die alten Säcke sie an und verlangen Sex von ihr. Falls nicht würden sie das Gerücht streuen, sie treffe heimlich einen Liebhaber. Susanna weigert sich, woraufhin die Ältesten sie des Ehebruchs beschuldigen. Es sieht schlecht aus für die badende Schönheit, bis Daniel ihr zu Hilfe kommt. Er besteht darauf, dass die Ältesten getrennt befragt werden, und tatsächlich, ihre unterschiedlichen Versionen passen nicht zusammen. Als Lügner und falsche Ankläger entlarvt, werden die Ältesten hingerichtet, und Susanna wird rehabilitiert. Sayers bezeichnete dies als die erste Anwendung der “Analyse von Zeugenaussagen”.

Daniel setzte seine detektivischen Fähigkeiten auch ein, um einige Götzenpriester zu entlarven. Jede Nacht wurde ein großes Festmahl für den Götzen Bel in dessen Tempel gebracht, das Heiligtum wurde versiegelt, und am Morgen waren alle Speisen verschwunden, offenbar von Bel gegessen. Eines Tages, kurz bevor der Raum für die Nacht verschlossen wurde, blieb Daniel zurück und verstreute heimlich Asche auf dem Boden. Am nächsten Morgen waren die Schritte der Scharlatane, die sich als Priester ausgaben, deutlich zu sehen; sie waren nachts durch eine Geheimtür eingetreten und hatten das Festmahl selbst verzehrt. Sayers bezeichnete dies als die erste Anwendung der “Analyse von materiellen Beweisen”. Offensichtlich war dieser Daniel ein cleverer Bursche; wir könnten ihn sogar als Detektiv bezeichnen (wenn nicht gar als Mordermittler) und in der Geschichte von Bel einen Vorläufer des Geheimnisses des verschlossenen Raumes sehen.

Im Jahr 1951 veröffentlichte Ellery Queen in Queen’s Quorum “A History of the Detective-Crime Short Story” dieselben Beispiele aus der antiken Literatur und nannte sie die “Inkunabeln” der Krimiliteratur. (Inkunabeln: die frühesten Stadien oder ersten Spuren von etwas; von einem alten lateinischen Wort für die Gurte, die ein Baby in einer Wiege halten).

Was die Behauptung angeht, Daniel sei der erste Detektiv in der Literatur gewesen, so haben sowohl Ellery Queen als auch Dorothy Sayers einen anderen Kandidaten völlig übersehen: Ödipus, König von Theben.

Das berühmte Theaterstück von Sophokles, das die Tragödie des Ödipus erzählt, wurde um 429 v. Chr. in Athen uraufgeführt – Jahrhunderte bevor die “Inkunabeln” über Daniel oder Herkules geschrieben wurden. Schriftliche Fragmente der Ödipus-Geschichte reichen sogar noch weiter zurück, bis in die Anfänge der antiken Literatur.

Es ist nicht nur wahrscheinlich, dass Sophokles’ Ödipus der älteste der hier zitierten “Urahnen” oder “Inkunabeln” ist, die Tragödie ist auch ein vollwertiger Krimi mit allen Elementen, die dem modernen Leser vertraut sind – ein Mörder, ein Opfer, ein Augenzeuge und ein Detektiv, der so lange nach der Wahrheit sucht, bis er die Büchse der Pandora mit den schändlichen Geheimnissen aller Menschen geöffnet hat.

Zu Beginn des Stücks wird die Stadt Theben von einer verheerenden Seuche heimgesucht. Die einzige Möglichkeit, der Seuche Einhalt zu gebieten, besteht darin, den Mörder des vorherigen Königs zu finden. Es ist die Aufgabe des aktuellen Königs Ödipus, das Verbrechen aufzuklären.

Und wie ist Ödipus König geworden? Er kam als einsamer Wanderer nach Theben und beendete eine frühere Pestepidemie, indem er das berühmte Rätsel der Sphinx löste (womit er bereits seine Fähigkeiten zum Lösen von Rätseln unter Beweis stellte); die dankbaren Thebaner machten ihn zum König, um die Stelle zu besetzen, die der kürzlich ermordete König Laios hinterlassen hatte.

Spoiler

… der Mörder des Laios war kein anderer als Ödipus selbst – und Laios war sein Vater. Die Folgen dieser Enthüllung treiben Jocasta in den Selbstmord und Ödipus in die Selbstblendung.

Die alten Griechen wussten, dass Sophokles etwas Besonderes gelungen war. Aristoteles gab Ödipus in seiner Poetik eine begeisterte Kritik: “Von allen Erkenntnissen ist die beste diejenige, die sich aus den Ereignissen selbst ergibt, wo die verblüffende Entdeckung mit natürlichen Mitteln gemacht wird. So ist es im Ödipus des Sophokles. . . . Diese Erkenntnisse allein kommen ohne die künstliche Hilfe von Zeichen oder Amuletten aus.” Mit anderen Worten, die Enthüllungen in Ödipus kommen nicht durch das Ziehen eines Kaninchens aus dem Hut, sondern durch schrittweise detektivische Arbeit, und sie sind umso wirkungsvoller, als sie durch einen Prozess unvermeidlicher Deduktion zustande kommen.

Hätte Sophokles die Geschichte linear erzählt, hätten wir zuerst den Mord und dann die Folgen gesehen und wüssten von Anfang an, wer der Mörder ist. Stattdessen begann er am Ende der Geschichte und konstruierte eine vollständig realisierte Mordgeschichte, wobei er, soweit wir wissen, von keiner vorherigen Vorlage ausging. Sophokles hat nicht nur den Kriminalroman erfunden, er war auch der erste, der das Genre unterlief, selbst als er es schuf, indem er den Detektiv und den Mörder zur selben Person machte. (Als König ist Ödipus auch Richter und Jury, der die Strafe für das Verbrechen verhängt.)

Der erste Kriminalroman

Die erste moderne Kriminalgeschichte wird Edgar Allan Poe und den “Morden in der Rue Morgue” (1841) zugeschrieben, aber in Wirklichkeit ist E. T. A. Hoffmanns “Das Fräulein von Scuderi” mehr als zwanzig Jahre älter. Es gibt auch eine Erzählung mit dem Titel “The Secret Cell” aus dem Jahr 1837, die von Poes eigenem Verleger William Evans Burton geschrieben wurde und einige Jahre älter ist als “Die Morde in der Rue Morgue” und ein frühes Beispiel für eine Detektivgeschichte darstellt. In dieser Erzählung muss ein Polizist das Geheimnis eines entführten Mädchens lösen.

Als erster Kriminalroman wird oft “Der Monddiamant” (1868) von Wilkie Collins genannt, “Das Mysterium von Notting Hill” (1862) von Charles Warren Adams ist ihm jedoch fünf Jahre voraus und somit der tatsächlich erste Kriminalroman, zumindest wenn man den Literaturwissenschaftlern glauben mag. In aller Regel sollte man das nämlich nicht so sehr, schließlich hatte Voltaires mehr als ein Jahrhundert vorher erschienener “Zadig” (1748) keinen unerheblichen Einfluss auf Poe und seinen C. Auguste Dupin. Andere erwähnen Dickens’ Roman “Bleak House” (1853) als einen wichtigen Meilenstein in der Entstehung des modernen Kriminalromans, da er mit Inspektor Bucket einen Detektiv einführt, der den Mord an dem Anwalt Tulkinghorn aufklären muss, wobei das detektivische Geschehen nur den letzten Teil des Buches ausmacht.

Der berühmteste Detektiv ist Sherlock Holmes

Sherlock Holmes ist ohne Zweifel der berühmteste fiktionale Detektiv, der je geschaffen wurde, und neben Hamlet, Peter Pan, Ödipus (dessen Geschichte tatsächlich als die erste Detektivgeschichte der gesamten Literatur bezeichnet werden kann), Heathcliff, Dracula, Frankenstein und anderen zu den berühmtesten fiktionalen Figuren der Welt gehört.

Holmes wurde natürlich von Sir Arthur Conan Doyle geschaffen und ist weitgehend eine Mischung aus Poes Dupin (einige von Dupins Ticks tauchen kaum verschleiert in den Sherlock-Holmes-Geschichten auf) und Dr. Joseph Bell, einem Arzt, der Doyle an der Universität von Edinburgh unterrichtete, als dieser dort Medizin studierte.

Sherlock Holmes macht hingegen landläufiger Meinung keine wirklichen Deduktionen: Streng genommen nimmt seine Analyse die Form einer Induktion an, die etwas völlig anderes ist. In der Logik bedeutet Deduktion, Schlussfolgerungen aus allgemeinen Aussagen zu ziehen, während die Induktion konkrete Beispiele beinhaltet (die Zigarettenasche auf der Kleidung des Klienten, der Lehm an seinen Stiefeln usw.). Alternativ dazu haben einige Logiker auch behauptet, dass Holmes’ Argumentationsketten etwas sind, das als Abduktion und nicht als Deduktion oder Induktion bezeichnet wird. Beim abduktiven Denken geht es darum, auf der Grundlage der vorliegenden Beweise eine Hypothese aufzustellen, was eine recht ordentliche Zusammenfassung dessen darstellt, was Holmes tut.

Die okkulten Detektive

Nach dem Erfolg der Sherlock-Holmes-Geschichten und der steigenden Popularität der Geistergeschichte und des Schauerromans im späten 19. Jahrhundert entstand ein neues Untergenre: Der okkulte Detektiv, der Verbrechen (möglicherweise) übernatürlichen Ursprungs aufklärte, oft im Sherlock-Stil. Dr. Hesselius von Sheridan Le Fanu wird oft als die erste Figur dieser Art zitiert, obwohl er selbst nicht viel auflöst. Meistens sitzt er nur auf einem Stuhl und hört zu. Die beliebteste Figur, die aus diesem Subgenre hervorging, war der “Psycho-Arzt” John Silence, der von Algernon Blackwood geschaffen wurde. Blackwoods John Silence: Physician Extraordinary (1908) war das erste belletristische Werk, das auf Reklametafeln am Straßenrand beworben wurde, und wurde in der Folge auch zu einem Bestseller.

Das 20te Jahrhundert

Im 20ten Jahrhundert war Endeavour Morse nur einer in einer langen Liste von Detektiven im Oxford-Milieu (Oxbridge genannt). Einige seiner bemerkenswerten Vorläufer sind Lord Peter Wimsey (geschaffen von Dorothy L. Sayers), und der Oxford-Professor Gervase Fen, aus der Feder von Edmund Crispin (mit richtigem Namen Bruce Montgomery). Crispin wurde als einer der letzten großen Exponenten des klassischen Kriminalromans bezeichnet.

Die populärste Krimiautorin aller Zeiten aber ist Agatha Christie – und es gibt so viele faszinierende Fakten über Agatha Christie, dass wir sie in einem separaten Beitrag behandeln müssen.

Der Detektivroman vor der viktorianischen Ära

Es ist kein großes Geheimnis, dass der Kriminalroman und die Detektivgeschichte ihre Wurzeln in der Viktorianischen Ära haben, auch wenn man berücksichtigt, dass es Geschichten über Verbrechen schon weitaus früher gab. Zwischen 1800 und 1900 können etwa 6000 Titel verzeichnet werden, die in englischer Sprache erschienen sind. Denn auch das darf nicht verwundern: Die englischsprachigen Länder strotzten damals nur so vor kulturellen Innovationen, was bis heute bis auf kleine Ausnahmen auch so geblieben ist.

Offensichtlich hatte das englische Lesepublikum im Viktorianischen Zeitalter einen großen und seit langem bestehenden Appetit auf Kriminalromane. Woher kam dieser Appetit?

Der berühmte Newgate-Kalender bot ab 1773 der englischen Öffentlichkeit die erste regelmäßige Information über kriminelle Aktivitäten, indem er Geschichten veröffentlichte, die auf den wahren Taten der Gefangenen des Newgate-Gefängnisses basierten. Dort fand man zu den aufgeführten Namen die zur Last gelegten Verbrechen mit detailreichen Beschreibungen, so dass zusammen mit dem biografischen Hintergrund jedes Angeklagten Erzählungen entstanden, die den persönlichen moralischen Verfall betonten und, obwohl als lehrreiche Warnung gedacht, auch Appetit auf mehr solcher Geschichten machten. Die Geschichten breiteten sich also immer mehr aus und beeinflussten bald auch die Belletristik. Populäre Autoren sahen sich auf einmal veranlasst, über Verbrechen zu schreiben, um die Bereitschaft der Bevölkerung auszunutzen, für solche Geschichten zu zahlen. Die Romane, die so entstanden, nannte man Newgate-Romane. Oft wurde darin Sympathie für die Kriminellen ausgedrückt und die Umstände veranschaulicht, die sie zum Verbrechen trieben.

Charles Dickens (Oliver Twist und Barnaby Rudge), Edward Bulwer-Lytton (Paul Clifford und Eugene Aram) und Harrison Ainsworth (Jack Sheppard) erfreuten sich großer Beliebtheit, indem sie spannende Erzählungen über das Leben realer oder erfundener Krimineller anboten.

Die Tageszeitungen berichteten damals über Prozesse, darunter die Illustradet Times, die 1856 eine Sonderausgabe über den Prozess gegen Dr. William Palmer, der unter anderem seine Frau und mehrere seine Kinder vergiftet hatte, herausgab. Danach hatte sich die Auflage des Blattes verdoppelt.

Einige Verbrechen schafften es sogar zum Theater. Es schien, dass die englische Öffentlichkeit nicht nur von Verbrechen fasziniert war, sondern auch alle möglichen Darstellungsformen genoss, von Prozessprotokollen über Nachrichten bis hin zu Romanen und Theaterstücken.

Die Gründung von Scotland Yard

Die Gründung des Londoner Metropolitan Police Service (Scotland Yard) 1829 und der City of London Police 1839 bot einen zweiten Aspekt der Betrachtung von Verbrechen: Wie wurden Kriminelle identifiziert, gefasst und vor Gericht gebracht? Hier gab es dramatische Möglichkeiten, den Kampf zwischen Polizei und Verbrecher, zwischen Gut und Böse zu erforschen. Die Einführung von Männern, die sich der Lösung von Verbrechen widmen, bot ein Modell des persönlichen Kampfes zwischen Detektiv und Schurken, das als eines der grundlegenden Merkmale des Kriminalromans angesehen werden muss.

Innerhalb dieser morbiden Faszination für das Verbrechen gab es ein besonderes Interesse gegenüber Frauen, die zu Mörderinnen wurden. Das mochte vor allem daran liegen, dass Frauen seltener vor Gericht gestellt wurden als Männer und deshalb ein Kuriosum in der damaligen Überzeugung von der Frau als weniger gewalttätigen und eher nährenden und liebenden Beschützerin von Heim und Kindern darstellte. Diese Ansicht war auch der Grund, warum Frauen weit weniger streng behandelt wurden, oder eher auf eine medizinische Weise behandelt wurden.

Gerichtsfälle wie Constance Kent, die 1865 ihren dreijährigen Halbbruder ermordete, indem sie ihm die Kehle durchschnitt, oder Madeleine Smith, die 1857 ihren Geliebten durch Arsen ermordete, präsentierten und bestärkten die Idee, dass Frauen die schlimmsten Verbrechen sowohl gegen die Zivilisation als auch gegen ihre eigene weibliche Natur begehen können. Ein Bericht in der Times (28.07.1865) stellt einen Mangel an Emotionen seitens Kent fest, wodurch ihr Todesurteil in Strafarbeit umgewandelt wurde.

Madeleine Smith, die beschuldigt wurde, einen lästigen Liebhaber vergiftet zu haben, stand da genau auf der anderen Seite, nämlich der des zügellosen sexuellen Appetits,

Trotz einer Staatsanwaltschaft, die entschlossen war, Smiths abfällige Moral wegen ihrer sexuellen Aktivität vor Gericht zu stellen, gelang es ihr, einem Schuldspruch zu entgehen. Rechtshistoriker vermuten, dass es zwar wenig Beweise gab, die sie mit dem Tod in Verbindung brachten, dass sie aber ebenso wahrscheinlich einem Schuldspruch entging, weil sie es ablehnte auszusagen und sich so einer direkten Befragung entzog, und weil sie während des neuntägigen Prozesses die Fassung bewahrte.

Madeline Smith war als Giftmörderin kaum einzigartig. Ein Drittel aller identifizierten Kriminalfälle im 19. Jahrhundert, in denen Vergiftungen festgestellt wurden, betrafen Arsen. Es war leicht in der Apotheke erhältlich, um Hausschädlinge zu töten, und kostengünstig war es obendrein. Die Symptome einer Arsenvergiftung waren für einen Gerichtsmediziner nicht von anderen Magenerkrankungen zu unterscheiden, so dass für einen Giftmörder eine große Chance bestand, der Strafverfolgung zu entkommen. Zumindest bis 1836, denn von da an war Arsen im Körper nachweisbar und die Arsenvergiftungen wurden tatsächlich seltener. Außerdem gaben die neuen Scheidungsgesetze den Frauen eine Möglichkeit, einer unglücklichen Ehe zu entfliehen. Das Klischee, Gift sei eine Waffe der Frauen, hat seinen Ursprung in dieser Zeit und durch Mörderinnen wie Madeleine Smith bekommen.

Die Beliebtheit der Kriminalgeschichten durch alle möglichen Medien gab es bereits 60 Jahre lang, als Königin Victoria 1837 den Thron bestieg und das Viktorianische Zeitalter einläutete. Der Grundstein für die erste Blütezeit des Kriminalromans war gelegt worden, darunter die Geschichten von Arthur Conan Doyle und seinem Detektiv Sherlock Holmes.