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Wer war das Vorbild für Dracula?

Tika lebt in einer Wohnung in Oakland, Kalifornien, die von zwei grauen Katzen beherrscht wird. Außerdem hat sie sich mit genug Gin, Büchern, Pflanzen und Garn umgeben, um ein Leben lang zu überleben; ihr Geschmack ist in allen vier Bereichen sehr bunt. Wenn sie nicht gerade liest oder strickt, kann man sie beim Boxen oder Laufen (widerwillig) antreffen. Sie schreibt für Book Riot.

Wollen wir doch mal damit beginnen, einige Punkte der Verschwörung und des Skandals zu setzen. Von Anfang an entbinde ich mich von der journalistischen Integrität und der üblichen Notwendigkeit, Beweise für meine Behauptungen vorzulegen, oder – was in vielen Fällen noch wichtiger ist – Beweise, die meine Behauptungen widerlegen. Jeder, der in diesen Skandal verwickelt war, ist schon lange tot, und echte Wissenschaftler haben über dieses Thema geschrieben und es untersucht. Im Sinne einer Person, die sich der Wahrheitsfindung verschrieben hat, bin ich in diesem Moment weder eine Journalistin noch eine Wissenschaftlerin, sondern biete lediglich ein wenig literarischen Klatsch und Tratsch, und ich liebe einen guten Skandal.

Um eines gleich vorweg zu nehmen: Vampire – die blutsaugenden, unsterblichen, sich in Fledermäuse verwandelnden, im Sonnenlicht funkelnden, “Ich-will-dein-Blut-saugen”-Vampire – sind nicht real. Zumindest nicht auf unserer Ebene der Realität. Soweit ich weiß. Und um ehrlich zu sein, möchte ich lieber nicht wissen, ob sie vielleicht doch real sind. Aber wenn ihr zufällig einem begegnet, fragt ihn (es ist immer ein “er”), warum seine Art sich zu jungen, beeinflussbaren Frauen hingezogen fühlt, die noch keinen Sinn für ein autonomes Selbst entwickelt haben. Wenn ich es mir recht überlege, streich das wieder. Ich glaube, ich habe gerade meine eigene Frage beantwortet.

WIE DEM AUCH SEI. Wir sind hier, Liebhaber der Rebe, um über die berüchtigtste aller literarischen Figuren zu sprechen: Dracula.

Eine schnelle Internetrecherche wird euch zeigen, dass Bram Stokers Figur Dracula auf Vlad Dracula, Vlad III. von Rumänien, Vlad dem Pfähler, basiert. Allerdings ist Stokers Darstellung von Vlad Dracula völlig phantastisch und basiert kaum auf den Grundzügen seines Lebens. Jedem Internet-Historiker – wie mir – ist klar, dass jemand anderes als viel unmittelbarerer und persönlicherer Bezugspunkt für einen so ikonischen Bösewicht gedient haben muss.

Ich präsentiere euch, liebe Freunde, den einzigartigen Oscar Fingal O’Flahertie Wills Wilde, den berühmten Schriftsteller, Dramatiker und Ästheten.

“Was?”, werdet ihr vielleicht denken. “Was in aller Welt hat ein Vampir mit Oscar Wilde, dem Autor von Das Bildnis des Dorian Gray und Bunbury, oder Die Bedeutung des Ernstseins, zu tun?” So langsam komme ich dahinter. Es stellt sich heraus, dass ein Abraham Stoker, ein Ire, und ein Oscar Wilde, ebenfalls ein Ire, in ihrer Jugend zum selben Kreis gehörten. Ihre Eltern waren befreundet, und sie waren zur gleichen Zeit am Trinity College, wo sie befreundet waren. Sehr enge Freunde.

Das heißt, bis sie beide Florence Balcombe, eine gefeierte Schönheit, kennenlernten. Wilde machte ihr zuerst den Hof, und sie nahm seinen Antrag an, obwohl das Paar schließlich auseinanderging und Florence den Namen Mrs. Bram Stoker annahm. Stokers Heiratsantrag war an und für sich schon ein Skandal, wenn man bedenkt, dass Wilde immer noch ihr wichtigster Verehrer war. Und man munkelt, dass Stoker zwar schließlich das Herz der jungen Miss Balcombe eroberte, sich aber nie ganz von der Diskrepanz zwischen Florence’ Liebe zu Wildes extravagantem, übergroßem Dandy-Charakter erholte. Seine Figur dagegen war solider und entschlossener, mit einem festen Job als Theatermanager für Henry Irving.

1897 wurde Oscar Wilde wegen “grober Unanständigkeit” in Bezug auf Sodomie zu zwei Jahren Zwangsarbeit verurteilt, und Bram Stoker begann mit dem, was sein Meisterwerk werden sollte. Darin beschreibt er den titelgebenden Bösewicht mit denselben Worten, mit denen die zeitgenössische Presse Wilde beschrieb: als “überfütterten Blutsauger” und als lebende Verkörperung all dessen, was an der spätviktorianischen Gesellschaft dilettantisch und falsch ist.

Stokers Rache war ein reines Pyrrhusspiel. Auf seinem Dachboden entdeckte Tagebücher (wie kann es sein, dass solche Entdeckungen immer noch gemacht werden??), die 2012 als The Lost Journal of Bram Stoker gedruckt wurden, sprechen in verschlüsselter Sprache über Stokers eigene sexuelle Vorlieben und Neigungen. Weniger verschlüsselt ist der Text seines Briefes an Walt Whitman:

Ich möchte Dich Genosse nennen und mit Dir reden, wie Männer, die keine Dichter sind, nicht oft reden. Ich glaube, ein Mann würde sich zuerst schämen, denn ein Mann kann nicht in einem Augenblick die Gewohnheit der relativen Zurückhaltung brechen, die ihm zur zweiten Natur geworden ist; aber ich weiß, dass ich mich nicht lange schämen würde, vor Ihnen natürlich zu erscheinen. Sie sind ein wahrer Mann, und ich möchte selbst einer sein, und so würde ich mich Ihnen gegenüber wie ein Bruder und wie ein Schüler zu seinem Meister verhalten.

Bram Stoker an Walt Whitman.

Dieser Brief ist zum ersten Mal vollständig in Something in the Blood von David J. Skal abgedruckt. Im viktorianischen Zeitalter kam die Bewunderung für Whitman einem Bekenntnis zur Homosexualität gleich, fast so verwerflich wie eine Beziehung zu Oscar Wilde selbst.

Stoker war bekannt dafür, dass er sich zurückhielt und sein öffentliches Image rücksichtslos bearbeitete. Im Gegensatz zu Wilde und vielleicht als Reaktion auf die von ihm als rücksichtslos empfundene sexuelle Freizügigkeit von Wilde zog er sich immer weiter zurück und ging 1912 sogar so weit zu sagen, dass alle Homosexuellen eingesperrt werden sollten – eine Gruppe, zu der er im Nachhinein sicherlich auch gehörte.

Am Ende ist dieser literarische Skandal weniger lasziv als vielmehr eine Geschichte, die das Herz berührt. Zwei Freunde, Rivalen, Liebhaber und Autoren: Stoker lässt sie in Dracula gegeneinander antreten, wobei er Mina die Hauptrolle der Liebe zuweist, aber letztendlich ist es die Spannung zwischen dem

Die seltsamen Geschichten des Robert Aickman

Robert Aickman ist selbst in seinem Heimatland England ein vergessener Autor. Der 1914 geborene und 1981 an Krebs gestorbene Schriftsteller ist für Peter Straub der “tiefgründigste Verfasser” von Horrorstories des 20. Jahrhunderts. Eine Leserschaft, die ihn über den Kultstatus hinaus brachte, fand er zu seinen Lebzeiten nicht. Der  renommierte britische Verlag Faber & Faber hat das zu Aickmans Hundertsten Geburtstag 2014 geändert und veröffentlichte eine Sammlung seiner lang nicht mehr in Druck befindlichen Erzählungen.

Bei uns brachte der DuMont-Verlag zu Beginn der 1990er Jahre zwei schmale Büchlein mit willkürlich zusammengestellten Geschichten heraus und bis zum heutigen Tag galt es als ziemlich unwahrscheinlich, dass wir mehr von diesem brillanten Autor bekommen. Doch manchmal geschehen tatsächlich Wunder, und so hat sich der Festa-Verlag der Sache angenommen und bringt in 6 Bänden die Werke des englischen Genies heraus.

48 strange stories, wie er seine Geschichten selbst nannte, sind von Robert Aickman bekannt. Für seine “Pages from a Young Girl’s Journal” bekam er 1975 den World Fantasy Award.

Um Aickman zu verstehen, muss man viel Aickman lesen. Laird Barron sagte, dass dies Arbeit bedeute. Man kehrt zu seinen Geschichten zurück, sucht nach einem Zugang, einer Nahtstelle oder dem versteckten Haken. Und sobald man ihn glaubt, gefunden zu haben, wird man später, wenn man wieder zu diesen Geschichten zurückkehrt, bemerken, dass sich alles verändert und verschoben hat. Aickman ist einer jener raren Autoren, die einen Virus im Gehirn hinterlassen. Mit diesem Autor zu interagieren, bedeutet, eine Art der Quantenverschränkung zu erleben. Seine Geschichten nehmen das Unterbewusstsein und mutieren es in einer Weise wie es die Aufgabe transgressiver Literatur ist.

Aickman assistierte seinem Vater in dessen Architekturbüro, bevor er 1944 seine eigene Firma gründete. 1951 veröffentlichte er ein Buch mit Kurzgeschichten zusammen mit seiner Sekretärin Elizabeth Howard, zu dem er drei Erzählungen beitrug.

Dark Entries

1964 wurde seine erste eigene Sammlung veröffentlicht, “Dark Entries”. Zu seinen Lebzeiten erblickten weitere fünf Bände das Licht der Welt, sowie ein Roman und eine Autobiographie. Zwischen 1964 und 1972 war er als Herausgeber der ersten acht Bände der Serie “Fontana Book of Great Ghost Stories” tätig.  Posthum wurde eine letzte Sammlung, ein Roman und der zweite Teil seiner Autobiographie veröffentlicht. Seine besten strange stories wurden in dem Band “The Wine Dark Sea” (1988) und “The Unsettled Dust” (1990) veröffentlicht.

Robert Aickman; (c) R. B. Russel

Aickmans Großvater war der viktorianische Schriftsteller Richard Marsh, der 1897 seinen Besteller mit “The Beetle” hatte (dt. “Der Skarabäus”), der sogar Bram Stokers Dracula auf die Plätze verwies.

In deutscher Übersetzung ist es natürlich noch schwieriger, etwas von Aickman zu finden, aber nicht aussichtslos. So sollte man nach “Glockengeläut” sowie “Schlaflos” aus DuMonts Bibliothek des Phantastischen suchen.

Aickmann war ein kultivierter Ästhet und befasste sich mit Ängsten, die auch jene Kafkas gewesen sein könnten, in einem präzisen, etwas erhöhten Stil, als ob er hinter einem Schleier der Gelehrsamkeit stünde, von wo aus er den Leser anspricht. Aber Aickman gehörte zu einer späteren Generation und war freier, so dass er die wirbelnden Ströme der Sexualität tiefer in seine eindringliche Geschichten einarbeiten konnte. So behält auch der Titel seines Buches “Dark Entries” etwas von der finsteren Doppeldeutigkeit des Nachtaktiven und Obszönen.

In Aickmans Geschichten wird niemals die vorrangige Natur des Merkwürdigen enttarnt, das seine Figuren belauert. Zur Hälfte sind diese an ihrem eigenen Untergang mitbeteiligt, wenn sie mit schlafwandlerischer Sicherheit ins Unbekannte gezogen werden wie in einen Traum.

Aickmans ‘seltsame Geschichten’ sind Geheimnisse ohne Lösung, jede endet mit einer wehmütigen Note über unsere zweifelhaften, unzulänglichen Kenntnisse, über die Mehrdeutigkeit der Wirklichkeit.

Marvin Keye schrieb in seinem Vorwort zur Anthologie “Masterpieces of Terror and the Supernatural”, die er herausgab, dass er zunächst zögerte, die Geschichte “The Hospice” (dt. “Das Hospiz”) in die Sammlung aufzunehmen, weil er nicht herauszufinden im Stande war, was sie aussagen wolle.

Die exemplarische Geschichte

“Glockengeläut” beginnt dann auch mit dieser exemplarischen Geschichte. Die beiden Bände der Bibliothek des Phantastischen, die einst bei DuMont erschienen, haben wir Frank Rainer Scheck zu verdanken, und auch wenn es zu Beginn der 90er üblich war, eine Mischung aus mehreren Originalveröffentlichungen zu präsentieren – was aus heutiger Sicht ein Ärgernis ist – können wir uns glücklich schätzen, überhaupt zwei schmale Bände in Übersetzung vorliegen zu haben, zumindest bis jetzt.

“Das Hospiz” ist wohl eine von Aickmans wichtigsten Geschichten. Auf relativ wenigen Seiten legt er Fragen des Übergangs, der Identität und des Handelns auf den Tisch. Die Veränderlichkeit der Wahrnehmung, das dünne Furnier von Loyalität und Sicherheit. Aickmans Arbeit stellt oft eine wichtige These der ganzen unheimlichen Literatur vor: Das Leben ist viel seltsamer, als wir annehmen. Er fragt oft, was wissen wir eigentlich? Die Antwort kann nur immer die gleiche sein: Nichts, und möglicherweise noch weniger. Man liest diese Geschichte sechs oder sieben Mal (vielleicht auch öfter), und kommt immer noch nicht dahinter. Das aber ist genau das, was sie beabsichtigt. Die besten Geschichten sind jene, die ins Unterbewusstsein kriechen und flüstern und rätselhaft bleiben. Sie führen uns in die Dunkelheit und lassen uns dort allein. Vielleicht finden wir wieder heraus, vielleicht auch nicht. Viele Geschichten von Kafka funktionieren so, viele von Cortàzar tun es ebenfalls – und natürlich die meisten von Aickman.

Aber Aickman ist keineswegs ein Avantgardist, der krude Rätsel für seine Leser zusammenspinnt. Das Hospiz ist in einer einfachen Sprache gehalten, fast flach, mit einem Minimum an Erschütterung und Bewegung: Ein Reisender verirrt sich auf einer Straße irgendwo in den West Midlands, kommt durch eine Siedlung, die aussieht wie im 19. Jahrhundert, mit hohen Bäumen und einsamen Häusern, sieht das Hinweisschild, das gutes Essen und andere Annehmlichkeiten verspricht, außerdem hat er fast kein Benzin mehr. Zu allem Überfluss wird er auch noch von etwas, das eine Katze gewesen sein könnte, ins Bein gebissen, als er kurz aussteigt, um sich grob zu orientieren. Dieser Biss, der sich vielleicht entzünden könnte, spielt im weiteren Verlauf nur die Rolle, dass er da ist und schmerzt. Das ist die erste Irreführung der Erwartungshaltung.

Im Hospiz wird er freundlich aufgenommen und kommt gerade richtig, um am Abendessen teilzunehmen. Die Schilderungen und Geschehnisse sind immer nur knapp neben einer gewohnten und erwarteten Reaktion, einer bekannten und nachvollziehbaren Szenerie, aber sie treffen niemals das Bekannte, das jemals Erlebte. Ihm wird also das Essen in mehren Gängen serviert, die exorbitant sind, gewaltig und unbezwingbar – und damit beginnt ein merkwürdiger Reigen, der sich zwar niemals ins Groteske zieht, aber einiges aus der Atmosphäre des Theater des Absurden schöpft.

Sexualisierte Metafiktion

Ein weiteres Beispiel einer Geschichte, die ihre Kraft durch das Wiederlesen erst entfaltet, ist “Ravissante” (französisch für bezaubernd oder hinreißend). Gleichzeitig ist diese faszinierende Erzählung eine von Aickmans Ungewöhnlichsten, die durchaus ins Perverse abdriftet. Der für Aickman typische introvertierte Erzähler macht auf einer Cocktailparty die Bekanntschaft eines Malers. Ein spröder und unnahbarer Mann, in seinem Auftreten eher enttäuschend, aber ein Maler mit einer gewissen Ausdruckskraft. Seine Frau ist noch kühler und uninteressanter, nur die Karikatur einer Frau, die fast nie etwas sagt. Der Maler stirbt und hinterlässt dem Erzähler sein gesamtes künstlerisches Schaffen, von dem er nur ein Gemälde und einen Stapel Briefe und Schriften behält. Was er nicht nimmt, wird von der Witwe verbrannt. Die eigentliche Erzählung beginnt, als der Erzähler eines dieser Papiere liest, das den Aufenthalt des Malers in Belgien dokumentiert. Der Inhalt bezeugt den Besuch bei der steinalten Witwe eines symbolistischen Malers.

Es ist offensichtlich, dass dieses Haus, in dem Madame A. lebt, auf einer anderen Realitätsebene existiert. Die Witwe selbst ist herrisch, das Haus schwach beleuchtet, und die Realität scheint einen unangenehmen, fließenden oder verschwommenen Aspekt anzunehmen. Madames Ausführungen sind merkwürdig und beklemmend, und als auch noch ein geisterhafter Pudel mit Spinnenbeinen durch den Raum streift, zieht Aickman die Schrauben des Unheimlichen an. Der Aufenthalt des Malers wird von Mal zu Mal bizarrer und erreicht seinen befremdlichen Höhepunkt, als Madame ihn einlädt, die Kleidung von Crysothème, der abwesenden Stieftochter, zu berühren und zu untersuchen, indem sie ihm Befehle gibt, darauf zu knien, darauf zu treten und die Wäsche zu küssen.

Der Maler gehorcht jedem dieser unmöglichen Schritte. Diese psychosexuelle, fetischistische  Auseinandersetzung mit Chrysothèmes Kleidung gipfelt in der Einladung, eine Truhe voller Unterwäsche zu öffnen. Wiederum, sowohl von Madames Befehlen als auch von seinem eigenen Drang getrieben, gehorcht er und erklärt, dass der Duft berauschend war. Verloren in dieser Träumerei, vergisst er die Zeit, bis er bemerkt, dass ihm kalt ist und er seinen Geruchssinn verloren hat. Als er auch noch ein Bild an der Wand entdeckt, das er selbst gemalt hat, hat er genug und flieht aus dem Haus. Auf dem Weg nach draußen folgt ihm die Madame mit einer Schere und fleht ihn an, ihr eine Haarlocke als Souvenir zu geben.

Die Geschichte endet mit der Erosion des Glaubens an eine materielle Realität. Aickman listet diffuse Symbole und Manifestationen auf, die er auch in der Erzählung verwendet. Der Maler zweifelt an allem, was er bei Madame erlebt hat und ruft damit auch die Zweifel des Lesers hervor. Die mögliche Erklärung für all dies ist die klassische Freudsche Trinität von Ich, Über-Ich und Es; mehr oder weniger tritt der Maler in die Substanz seines eigenen Bewusstseins ein, wörtlich und bildlich. Das entspricht Aickmans Vorstellung von einer gelungenen Gespenstergeschichte, nämlich dass der Autor das Unterbewusstsein für poetische Zwecke nutzen sollte. Dennoch befriedigt diese Erklärung – wie bei vielen Aickman-Geschichten – nicht, oder genauer: Aickmans Geschichten gehen über dieses vereinfachte System hinaus.

Der umgekehrte Succubus

Das Thema, das sich durch “Ravissante” zieht, ist das des Künstlers, der sich von seinen eigenen kreativen Prozessen entfremdet fühlt. Der fragliche Maler glaubt, dass sein Werk von “jemand anderem” stammt. Das wäre dann ein Beispiel für Inspiration als Besitz. Betrachtet man die Geschichte unter diesem Aspekt, wird sie metafiktional. Unser Maler kommt durch einen schattigen und fleischigen ontologischen Tunnel zu einem Haus, der seinen eigenen Geist repräsentiert. Dort wird er an die Quelle seiner eigenen Inspiration herangeführt. Der Muse selbst kann er allerdings nicht persönlich begegnen. An diesem Punkt ist er von dieser Quelle auf eine ziemlich unheimliche, onanistische Weise besessen. Obwohl es sich um einen Besitz handelt, der durch gebrauchte Gegenstände vermittelt wird – nämlich durch Kleidung, die auf seltsame Art und Weise als Substitut benutzt wird – handelt es sich nach wie vor um einen fruchtbaren Besitz. Chrysothème ist nicht so sehr ein Sukkubus, der Energie entzieht, sondern – paradoxerweise – ein weiblicher Inkubus, der Energie liefert. Sie ist ein abwesender Inkubus, aber dennoch ein Inkubus.

Diese beiden Beispiele sind unvollständig in ihrer kurzen Analyse, die im Grunde nur dazu dienlich ist, sich der Faszination von Aickmans strange stories auszuliefern, die so rar auf uns gekommen sind und die mehr Aufmerksamkeit verdienen, weil sie zur Basis jeden Verständnisses über die moderne Weird Fiction gehören, ohne deren Kenntnis ein schrecklich großer Teil für immer fehlen würde.

Urban Fantasy (3) – Die Chronik der urbanen Fantasy

Dieser Artikel ist Teil 13 von 17 der Reihe Fantasy-Literatur

Dies ist die dritte Sendung zum Thema Urban Fantasy. Die anderen finden sich hier, hier und hier. Außerdem ist diese Trilogie ein Teil der weitaus größeren Artikel-Reihe mit dem Titel “Die Geschichte der Fantasy“.

Im vorherigen Beitrag sprachen wir über die ersten Autoren, die sich in den 80er und 90er Jahren in das Neuland der urbanen Fantasy wagten: Charles de Lint, Emma Bull, Laurell K. Hamilton, Neil Gaiman und andere. Nun wollen wir sehen, wie sich die urbane Fantasy im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts entwickelt hat.

Kinderbücher, Jugendbücher und neue Belletristik für Erwachsene

In den 90er Jahren wurden urbane Fantasy-Bücher hauptsächlich für Erwachsene geschrieben. J.K. Rowling änderte das, indem sie urbane Fantasy-Themen in ihre Harry-Potter-Serie integrierte. Die Grundidee der Serie ähnelt derjenigen, mit der Neil Gaiman in Niemalsland gespielt hat, nämlich der Koexistenz zweier Realitätsebenen, einer technologischen und einer magischen . Man kann sogar sagen, dass Harry Potter und der Stein der Weisen (1997) ein Niemalsland für Kinder und Jugendliche ist.

Jugendliteratur (auch „Young Adult“ genannt) hat sich in den 2000er Jahren massiv mit urbaner Fantasy auseinandergesetzt. Twilight (2005) von Stephenie Meyer war ein großer kommerzieller Erfolg, trotz der erheblichen Schwächen des Romans (oder vielleicht wegen dieser Schwächen). Kurz darauf startete Cassandra Clare ihre Chroniken der Unterwelt mit City of Bones (2007). Seitdem hat sich die Urban Fantasy für Kinder u. Jugendliche in den Regalen jeder Buchhandlung festgesetzt und sich zu einem der kommerziell erfolgreichsten Genres der Geschichte entwickelt.

Die neueste Entwicklung ist die Entstehung der sogenannten „New Adult“-Literatur, die sich an Erwachsene zwischen 18 und 30 Jahren richtet. Dieses Genre ähnelt der Jugendbelletristik, enthält aber etwas ältere Protagonisten (Ende der Pubertät und Anfang der Zwanziger) und manchmal auch erwachsenes Material, aber nicht immer. Mit Lev Grossmans Fillroy – Die Zauberer startete 2009 eine neue erwachsene Urban Fantasy, und dieses Subgenre gewannt schnell an Dynamik. Die Zauberer wurde als der Harry Potter für Erwachsene beworben, aber dieser Roman ist nicht nur ein Harry Potter-Abklatsch. Dennoch besteht der Hauptunterschied darin, dass dieser Roman nicht vor erwachsenen Themen zurückschreckt.

Detektive des Übersinnlichen: Wenn Hardboiled auf Fantasy trifft

Detektive und Privatdetektive, die sich mit unerklärlichen, paranormalen Ereignissen beschäftigen, sind kein neues Thema in der Literatur. Eigentlich waren die allerersten Bücher, die sich mit diesem Thema befassten, keine Belletristik, sondern Hexenjägerhandbücher. Das berühmteste von ihnen war der „Hexenhammer“ Malleus Maleficarum, der 1486 von Heinrich Kramer, einem deutschen Geistlichen, geschrieben wurde. Auch das Thema der Detektive, die mit Hilfe von Magie Verbrechen aufklären, ist nicht neu. Als Subgenre der Kriminalliteratur lässt sich die okkulte Detektivliteratur bis in das 19. Jahrhundert zurückverfolgen.

Fitz James O’Briens Harry Escott in „A Pot of Tulips“ (1855)
Sheridan Le Fanus Dr. Martin Hesselius in “Grüner Tee” (1869) und “In a Glass Darkly” (1872)
Bram Stokers Dr. Abraham Van Helsing in Dracula (1897).
In den 1990er Jahren waren Fantasy und hartgesottene (Hardboiled) Noir-Detektivgeschichten völlig unterschiedliche Genres und schienen nichts gemeinsam zu haben. Fantasy-Geschichten wurden in sekundären, vorindustriellen Welten angesiedelt, in denen Magie zum Alltag gehörte. Noir-Detektivgeschichten spielten in modernen Metropolen und waren mit den sozialen Brennpunkten der Großstädte verwurzelt. Versuche, diese beiden Genres zu verschmelzen, wurden manchmal mit Erfolg unternommen, wie das Beispiel der Hellblazer-Comics zeigt. Das fantastische Noir blieb jedoch ein relativ kleines Genre, bis Jim Butcher es neu erfand.

Könnt ihr euch eine Kreuzung zwischen Sam Spade und Gandalf vorstellen?

„Harry Dresden – Magier. Suche verlorene Gegenstände. Paranormale Ermittlungen. Beratung und Ratschläge. Erschwingliche Honorare. Keine Liebestränke, keine unerschöpflichen Geldbörsen, keine Partys, keine sonstigen Unterhaltungsveranstaltungen.“

Jim Butcher ist der MacGyver der Fantasy. In „Sturmnacht“ (2000) kombinierte er zwei unterschiedliche Genres zu etwas Neuem und Funktionalem: Die Detektivgeschichten verbindet sich mit Sword & Sorcery. Im Gegensatz zu MacGyver setzte Butcher seine Fähigkeiten jedoch nicht dazu ein, um für Gerechtigkeit zu sorgen, sondern um eine kommerziell erfolgreiche Serie urbaner Fantasy zu schreiben: “Die dunklen Fälle des Harry Dresden”. Wie die meisten Bestseller werden seine Bücher niemanden auf intellektueller Ebene herausfordern, aber sie werden jeden gründlich unterhalten. Meines Wissens ist Butcher der kommerziell erfolgreichste Autor im Genre der urbanen Fantasy. Fünf seiner Bücher belegten den ersten Platz der New York Times Bestsellerliste. Nur wenige Schriftsteller schafften so etwas.

Die Dresden-Files weisen viele Ähnlichkeiten mit Anita Blake auf, es gibt aber auch einige signifikante Unterschiede. Insbesondere die fiktiven Universen sind ganz anders aufgebaut. Die Dresden-Files beziehen sich stärker auf den Hardboiled-Kriminalroman, aber auch auf Sword & Sorcery. In der Serie Anita Blake drehen sich die Geschichten oft um Vampire und andere Untote und ihren Machtkampf. Der andere wichtige Unterschied ist die Entwicklung der Serie, da Anita Blake sich in Richtung paranormaler Romantik und Erotik bewegt, während die Dresden-Files fest im übernatürlichen Detektiv-Genre verwurzelt blieben.

Findest du es lustig, gegen Dämonen zu kämpfen?

Urbane Fantasy-Romane haben oft einen leichten, lässigen Ton. Humor ist omnipräsent, unabhängig davon, wie düster und dramatisch die Geschichte ist. Wir sehen es bereits in Moonheart (1984) von Charles de Lint, sowie in anderen frühe Beispielen urbaner Fantasy. Bittersüße Tode (1993) von Laurell K. Hamilton beginnt so:

Willie McCoy war ein Idiot, bevor er starb. Dass er tot war, hatte daran nichts geändert.

Während einige Urban Fantasy-Autoren einen relativ ernsten Ton anlegten (z.B. Kelley Armstrong in Die Nacht der Wölfin, Patricia Briggs in Moon Called), zögerten andere nicht, ihren Geschichten eine gute Portion Humor hinzuzufügen. Einige Passagen aus Sturmnacht kommen mir in den Sinn, z.B. wenn Harry Dresden mit Bob, einem Geist reinen Intellekts, der einen menschlichen Schädel bewohnt, diskutiert. Auch Neil Gaiman verfolgt in seinen Büchern einen augenzwinkernden Ansatz. “Ein gutes Omen” (Good Omens: The Nice and Accurate Prophecies of Agnes Nutter, Witch), 1990 zusammen mit Terry Pratchett geschrieben, ist eine Komödie des Übersinnlichen, die den Glauben an die biblische Apokalypse verspottet. Niemalsland (1996) strotzt ebenfalls vor humorvoller Dialoge, und die Bösewichte der Geschichte sind ebenso urkomisch wie finster.

Starke Frauen als Heldinnen

Die überwiegende Mehrheit der urbanen Fantasy-Romane zeigt willensstarke weibliche Protagonistinnen. Die einzigen Ausnahmen, die ich kenne, sind die Dresden-Files und Fillroy – Die Zauberer, beide von männlichen Autoren geschrieben, was nicht gerade überraschend ist.

Anita Blake ist eine ikonenhafte Figur, der Prototyp einer knallharten Heldin (siehe meinen vorherigen Beitrag zur Geschichte der urbanen Fantasy). Sie ist unabhängig, zielstrebig, mutig und in der Lage, sich zu verteidigen. Um das Ganze noch zu toppen, ist sie eine risikofreudige und adrenalinsüchtige Frau. Sie lässt sich von niemandem etwas gefallen und gerät wegen ihrer trotzigen Haltung oft in Schwierigkeiten. Unzählige urbane Fantasy-Heldinnen würden in dieses Profil passen: Elena Michaels (in der Otherworld-Serie von Kelley Armstrong), Mercy Thompson von Patricia Briggs), Rachel Morgan von Kim Harrison, Kate Daniels von Ilona Andrews), Selene (in der Underworld-Filmreihe) und so weiter.

Einige weibliche Protagonistinnen sind femininer und verletzlicher, aber auch sie haben eine starke Persönlichkeit, zum Beispiel Sookie Stackhouse (Buchreihe von Charlaine Harris und TV-Serie True Blood) oder MacKayla Lane, genannt Mac (Fever-Serie von Karen Marie Moning). Sie können aussehen wie Barbie-Puppen, aber sie wissen, was sie wollen, und sie bekommen, was sie wollen. In Im Bann des Vampirs gibt die 22-jährige Mac ihre verschwenderische Lebensweise in Ashford, Georgia, auf und reist nach Dublin, um den Mord an ihrer Schwester zu untersuchen. Ohne Detektivausbildung und ohne Hilfe der Polizei ist es nicht verwunderlich, dass sie schnell in Schwierigkeiten gerät. Doch sie weigert sich, nachzugeben. Einige würden sagen, sie sei mutig und entschlossen, andere würden sie als stur oder hitzköpfig bezeichnen. Wie immer man das sieht.

Das Thema weiblicher Emanzipation ist in der Literatur nicht neu. Die frühesten Beispiele, die ich kenne, sind Schauerromane vom Ende des 18. Jahrhunderts (siehe Ursprünge der Urban Fantasy). Interessanterweise erschien im selben Zeitraum (1792) Verteidigung der Frauenrechte von Mary Wollstonecraft, eines der frühesten Werke feministischer Philosophie. Wie ich bereits in meinem vorherigen Beitrag dargelegt habe, ist die urbane Fantasy das Äquivalent der Gothic Novel des 21. Jahrhunderts, in dem Sinne nämlich, dass diese beiden Genres viel gemeinsam haben. Die urbane Fantasy erlaubt es uns jedoch, das Problem der Frauenrechte aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten.

Werwolf-Geschichten sind in diesem Zusammenhang interessant, zum Beispiel Bitten von Kelley Armstrong, Moon Called von Patricia Briggs oder Kitty and the Midnight Hour von Carrie Vaughn. Sie zeigen weibliche Werwölfe oder Gestaltwandlerinnen und stellen ihre komplexen Beziehungen zu den Werwolf-Clans dar, zu denen sie gehören. Geschlechterrollen, Emanzipation, Homophobie, Autorität und Autoritätskonflikte – es gibt viel zu sagen über Werwolf-Geschichten.

Geht es nur um Sex?

Urban Fantasy hat den Ruf, attraktive Protagonisten, denen sinnliche Genüsse nicht fremd sind, mit ebenso attraktiven Partnern des anderen Geschlechts zu präsentieren. Der Grund dafür ist einfach. Von Anfang an wurde urbane Fantasy eng mit paranormaler Romantik verbunden, obwohl nicht alle urbanen Fantasy-Geschichten Romantik enthalten. Die meisten von ihnen tun das, und ich sehe das nicht als Problem. Wer genießt nicht eine gute Liebesgeschichte?

Das Problem ist, dass sich Romantik in manchen urbanen Fantasy-Geschichten erzwungen anfühlt. Eine alte Vampirin verliebt sich plötzlich in einen Menschen. Warum? Weil es praktisch ist, das ist alles. Ich denke zum Beispiel an die Underworld-Serie. Im ersten Film verliebt sich Selene in Michael Corvin. Warum fühlt sie sich zu ihm hingezogen? Was macht ihn so besonders?

Dreiecksbeziehungen sind auch in der zeitgenössischen Fantasy weit verbreitet. Das kann eine mächtige Erzählstrategie sein, wenn das Thema intelligent eingesetzt wird. In Bitten von Kelley Armstrong enthüllt die Dreiecksbeziehung zwischen Elena, den Protagonisten Phillip (einem Menschen) und Clay (einem Werwolf), die Dualität von Elenas Persönlichkeit. Sie ist ein Werwolf, der versucht, ein normales, menschliches Leben zu führen. Ihr Freund Philip weiß nicht, wer sie wirklich ist. Ihre Liebe zu Phillip rührt von ihrer Verbundenheit mit der Menschheit her und ihrem Wunsch, sich von ihrem Rudel zu emanzipieren. Ihre Sehnsucht nach Clay hingegen kommt von ihren fleischlichen, tierischen Instinkten. Mit anderen Worten, der Mensch in ihr liebt Phillip, während der Wolf in ihr Clay liebt. Welche Seite ihrer Persönlichkeit wird gewinnen? Lesen Sie das Buch, um es herauszufinden!

Eskapismus oder eine andere Sichtweise auf die Realität?

Urbane Fantasy – wie die meisten Fantasy-Subgenres – betont Heldentum und persönliche Leistung. In urbanen Fantasy-Geschichten werden gewöhnliche Menschen jedoch oft in übernatürlichen Machenschaften gefangen gehalten. Wie ich in meinem vorherigen Beitrag schrieb, mag die urbane Fantasy ein eskapistisches Genre sein, aber dies ist ein zweideutiger Eskapismus, der uns immer wieder in die Realität zurückbringt.

Für mich ist der interessanteste Aspekt der urbanen Fantasie, wie dieses Genre mit dem Thema Dualität umgeht. Realität versus Fantasie, Modernität versus Tradition, Technologie versus Magie, Intellekt versus Instinkt. Dualität scheint der Kern jeder urbanen Fantasy-Geschichte zu sein. Die Gegensätze konkurrieren miteinander, um sich besser zu ergänzen. Ein gutes Beispiel für die Yin-Yang-Theorie, oder etwa nicht?

Dracula

Dracula (Der zeitlose Sauger)

In der Geschichte des Schauerromans gibt es einige Werke, die in der Vorstellung der Menschen lebendig geblieben sind. Eines davon ist Mary Shelleys Frankenstein von 1818; fast jeder ist mit der Handlung vertraut, unabhängig davon, ob er das Buch gelesen hat oder nicht. Im Jahr 1887 veröffentlichte der irische Autor Bram Stoker seinen gotischen Horrorroman Dracula. Er erzählt die Geschichte des Vampirs Dracula, eines Grafen, der versucht, von Transsylvanien nach England zu ziehen, um frisches Blut zu finden und den Fluch der Untoten zu verbreiten.

Die Geschichte von Dracula ging um die Welt und hat die menschliche Psyche seitdem nicht mehr verlassen.

Obwohl Stoker die Vampirlegende nicht erfunden hat, hat sein klassisches Werk den Mythos über Kontinente und Generationen hinweg definiert und populär gemacht. Ursrünglich hat Stoker seine Figur als eine Kombination aus einem Werwolf und einem Vampir geschaffen. Eine andere von Stoker geschriebene Geschichte, “Draculas Gast”, sollte das erste Kapitel des Romans werden, aber der Verlag strich sie, weil er der Meinung war, sie sei für die Handlung überflüssig. In diesem Kapitel ist der Werwolf, in den sich Dracula verwandelt hat, eine positive Figur, die Jonathan Harker – der hier namentlich nicht genannt wird – vor anderen übernatürlichen Kreaturen schützt.

Es ist offensichtlich, dass die Menschen düstere Geschichten über Untote lieben, aber die gab es schon lange bevor Stoker sein wichtigstes Werk schrieb.

Nachdem er Ármin Vámbéry, einen ungarischen Reisenden und Schriftsteller, kennengelernt hatte, interessierte sich Stoker für die europäische Mythologie und stieß dabei auf die Legenden der Vampire. Nach jahrelangen Recherchen veröffentlichte Stoker 1897 Dracula. Der aus Tagebucheinträgen, Briefen und Zeitungsausschnitten bestehende Roman erzählt die Geschichte eines Vampirs, der von Transsylvanien nach England reist, in der Hoffnung, neue, ahnungslose Opfer zu finden. Obwohl es kein überwältigender Erfolg war, fielen die Kritiken positiv aus. Die Daily Mail lobte Stokers Werke und stellte sie neben jenen von Edgar Allen Poe, Mary Shelley und Emily Brontë.

Er ließ sich bei Dracula von ziemlich vielen Personen inspirieren, unter anderem von dem berüchtigten Vlad, den man den Pfähler nannte, der Blutgräfin Bathory, und den volkstümlichen Überlieferungen über Vampire, die in Transsylvanien und den umliegenden Regionen weit verbreitet waren.

Interessant ist aber auch, dass Stoker die Figur des Dracula nach Henry Irving, dem berühmtesten Schauspieler der damaligen Zeit, gestaltete. Stoker war Irvings Geschäftsführer, und es scheint, dass er den Mann sowohl bewunderte als auch fürchtete. Tatsächlich wollte er, dass Irving die Rolle des Dracula auf der Bühne spielte, aber Irving lehnte ab, weil er vielleicht glaubte, dass es unter seiner Würde sei, “moderne” Figuren wie Dracula zu spielen.

Nach Stokers Tod galt das Originalmanuskript von Dracula als verschollen. Erstaunlicherweise wurde es jedoch in den 1980er Jahren in einer Scheune in Pennsylvania wiedergefunden. Die 541 getippten Seiten enthielten Stokers Korrekturen und den handschriftlichen Arbeitstitel “The Undead”, “Die Untoten”. Nach seiner Entdeckung wurde das Dokument von Paul Allen, dem Mitbegründer von Microsoft, erworben. Es befindet sich – so hört man – heute noch in seiner Privatsammlung.

Im letzten Jahrhundert der Popkultur ist Draculas Geschichte vor allem durch eine Vielzahl von verwässerten Verfilmungen bekannt geworden, präsentiert der Roman doch selbst eine verworrene und manchmal sogar ein wenig überambitionierte Handlung. Es gibt darin nicht weniger als neun Hauptfiguren. Außerdem scheint sich kein vernünftiges Lektorat der Sache angenommen zu haben. So gibt es zum Beispiel nur wenige Erläuterungen für bestimmte Verbindungen oder Ereignisse, und jede moderne kritische Ausgabe des Romans weist darauf hin, dass Stoker die Briefe und Tagebucheinträge seiner Figuren versehentlich falsch datiert hat. Kein Verlag würde das unausgegorene Manuskript heute in dieser Weise akzeptieren.

Abraham Stoker wurde am 8. November 1847 geboren und wuchs in einer Stadt außerhalb von Dublin, Irland, auf. Stoker war ein kränkliches Kind und verbrachte den Großteil seiner frühen Jahre im Bett. Während dieser Zeit entwickelte er ein Interesse an allem, was unheimlich war – er las irische Folklore und hörte Horrorgeschichten, die ihm seine Mutter erzählte. Im Alter von sieben Jahren erholte sich Stoker vollständig von seiner Krankheit und wurde sogar so etwas wie ein Sportler.

Stoker war ein hervorragender Akademiker und besuchte das Trinity College in Dublin, wo er Mathematik studierte und mit Auszeichnung abschloss. Während seiner Studienzeit trat er in den irischen Staatsdienst ein und arbeitete im Dubliner Schloss. Außerdem schrieb Stoker als freiberuflicher Journalist und Theaterkritiker für die Dublin Daily Mail. Durch seine schriftstellerische Tätigkeit lernte er den berühmten Schauspieler Henry Irving kennen, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verband.

1878 zog Stoker nach London, nachdem er eine Stelle als Manager am Lyceum Theatre angenommen hatte, wo er direkt mit Irving, dem Besitzer des Theaters, zusammenarbeitete. Diese neue Karriere brachte Stoker in Kontakt mit einigen der einflussreichsten Persönlichkeiten seiner Zeit, darunter: Theodore Roosevelt, Walt Whitman und Hall Caine, dem er später Dracula widmete. Im Jahr 1878 heiratete Stoker Florence Balcombe, eine Schauspielerin, die zuvor mit Oscar Wilde verlobt war.

Das Leben in der Welt des Theaters, inmitten berühmter Persönlichkeiten, inspirierte Stoker zu seiner literarischen Karriere. 1872 veröffentlichte die London Society seine Kurzgeschichte The Crystal Cup, und 1875 erschien sein erster Roman The Primrose Path, der in einer Reihe von Fortsetzungen in der irischen Zeitschrift The Shamrock veröffentlicht wurde. Nach diesem ersten Erfolg schrieb er weiter fleißig. Es dauerte jedoch über zwanzig Jahre, bis er Dracula schrieb.

Die Handlung ist natürlich der Schlüssel zu jeder Geschichte. Aber in Dracula wird die Handlung auf eine andere Weise erzählt. Das Buch besteht nur aus Tagebucheinträgen und Briefen. Es ist, als würde man etwas lesen, das man nicht lesen dürfte.

Die Geschichte folgt den Abenteuern eines jungen britischen Anwalts, der nach Transsylvanien reist, um Graf Dracula bei der Rechtsberatung in Bezug auf einige Londoner Anwesen zu helfen. Der Graf, der als mächtiger, intelligenter und mysteriöser Gentleman dargestellt wird, zeigt gleich zu Beginn des Romans seine übernatürlichen Kräfte, hält Harker in seinem Schloss gefangen und führt ihn in eine geheimnisvolle Welt ein.

Die mittelalterliche Landschaft Siebenbürgens ist voll von gotischen Schlössern, und viele Touristen ziehen Parallelen zwischen der Landschaft und der magischen Atmosphäre von Fantasy-Filmen. Obwohl Draculas berühmtes Schloss in Wirklichkeit nicht existiert, ließ sich Stoker von der Architektur und der Lage des Schlosses Bran inspirieren, um die geheimnisvolle Atmosphäre um den Vampirgrafen zu gestalten.

Damals war Rumänien ein Land, das vielen Ausländern nicht bekannt war, meist ländlich geprägt, mit einem starken Glauben an die Kreaturen der Nacht. Ein Land, das noch immer die Erinnerung an einen seiner gefürchtetsten Anführer, Vlad den Pfähler, lebendig hält. Der Name Dracula hat seinen Ursprung im Namen seines Vaters, Vlad Dracul, auch bekannt als Vlad der Drache, ein Name, den er erhielt, nachdem er Mitglied des Drachenordens wurde. Dracula ist die slawische Genitivform des Wortes Dracul (Drache) und bedeutet “Sohn des Drachen”. Im modernen Rumänien bedeutet drac “Teufel”, was zu dem berüchtigten Ruf von Vlad III. beitrug.

14 ästhetisch herausragende Horrorfilme

Die Kameratechnik ist eines der wichtigsten Elemente eines Horrorfilms. Mit ihren wegweisenden technischen Innovationen, surrealen Bildern und der Kraft der Subjektivität veränderten diese 14 Meisterwerke den Lauf der Filmgestaltung – und das Horrorgenre für immer. Warum diese Filme einen ästhetischen Mehrwert bieten, ist nicht Teil dieses Artikels, für Ästheten aber nicht schwer zu verstehen.

1. Der Fuhrmann des Todes (Victor Sjöström, 1921)

Dieser schwedische Film hat alle nachfolgenden Regisseure stark beeinflusst – vor allem Ingmar Bergman, dessen Film Das siebte Siegel eine direkte Hommage an Der Fuhrmann des Todes darstellt, und Stanley Kubricks Shining, der zahlreiche thematische und visuelle Ähnlichkeiten (wie z.B. die berühmte Axt-Szene) aufweist. Um die Geschichte eines geisterhaften Kutschers zu erzählen, der nach Mitternacht die Seelen der Toten stiehlt, verwendeten Regisseur Victor Sjöström und DP Julius Jaenzon Doppelbelichtungen, damals ein hochinnovativer Spezialeffekt. Diese Doppelbelichtungen wurden bis zu viermal übereinander gelegt, was die Illusion erweckt, dass Geister durch die aufwändigen Sets des Films wandern. Jeder “Geist” wurde mit einem Filter unterschiedlich beleuchtet. Jaenzon folgte ihnen mit einer Handkamera, die in der Lage war, außergewöhnlich tief zu fokussieren – höchst ungewöhnlich für diese Zeit.

Der Film zeigt auch komplexe narrative Strukturelemente, wie Meta-Flashbacks (oder Rückblenden innerhalb von Rückblenden), die vom linearen Erzählen abweichen, und damit Vergangenheit und Gegenwart zu einer ätherischen Realität verschmelzen.

2. Das Kabinett des Dr. Caligari (Robert Wiene, 1920)

©Deutsches Institut für Filmkunde DIF

Das Kabinett von Dr. Caligari gilt als das Kernwerk des deutschen Expressionismus und ist die Geschichte eines gestörten Hypnotiseurs, der einen Schlafwandler dazu benutzt, Morde zu begehen. Der Kameramann Willy Hameister setzte mit schnörkellosen Kamerafahrten die aufwändigen, handgemalten Bühnenbilder des Films mit verdrehten Stadtlandschaften, spiralförmigen Straßen und alptraumhaften Formen in Szene. Die Sets wurden in verzerrten Perspektiven gestaltet – sie haben keinen einzigen rechten Winkel -, um eine desorientierte und verwirrende Welt zu schaffen. Vollständig in einem kleinen Studio aufgenommen, war jedes Bühnenbild auf 20 Meter in Breite und Tiefe begrenzt.

Neben der phantastischen Nutzung des Bühnenbildes hat Robert Wienes Film eine große historische Bedeutung; Dr. Caligari repräsentiert das brutale deutsche Kriegsregime, während der Schlafwandler für den einfachen Mann eintritt, der sich vor einer mörderischen Autorität zu hüten versucht.

3. Nosferatu (F. W. Murnau, 1922)

Nosferatu ist nicht nur ein bahnbrechender Horrorfilm, sondern auch einer der einflussreichsten Filme der Stummfilmzeit – und einer der ersten großen Rechtsfälle geistigen Eigentums. Da der Film auf Bram Stokers Dracula-Roman basiert (obwohl sich Charakternamen, Einstellung und Plotdetails geändert hatten), reichten Stokers Nachlassverwalter Klage wegen Urheberrechtsverletzung ein. Das Gericht kam zu dem Schluss, dass Nosferatu tatsächlich ein abgeleitetes Werk sei und ordnete an, alle Kopien des Films zu vernichten, aber die Kopien waren bereits weltweit verbreitet worden; Nosferatu wurde anschließend durch eine massive Anhängergerschaft wiederbelebt.

©Transit-Film GmbH

Im Gegensatz zu den expressionistischen Techniken, die im Kabinett des Dr. Caligari durch Studiobeleuchtung und aufwändige Bühnenbilder angewandt wurden, drehte man Nosferatu fast ausschließlich vor Ort; die natürliche Umgebung des Schlosses, der Landschaften und der Stadt wurde mit verfremdeter Beleuchtung kontrastiert. Der Kameramann Fritz Arno Wagner führte einige neue Kameratricks wie die innere Montage ein – einige Aufnahmen wurden im Negativ-Modus entwickelt, während andere Szenen unterbelichtet wurden, und wieder andere nutzten die Stop-Motion-Fotografie, wie in der berühmtesten Aufnahme des Films, in der Graf Orlock aus einem Sarg springt.

“Nosferatu von F.W. Murnau zu sehen”, schrieb der Filmkritiker Roger Ebert 1997, “bedeutet, den Vampirfilm zu sehen, bevor er sich seiner selbst überhaupt bewusst wurde …. der Film zeigt die Ehrfurcht vor seinem Material. Er scheint wirklich an Vampire zu glauben.”

4. Vampyr (Carl Theodor Dreyer, 1932)

©Star Film GmbH

Mit viel Dunst und wallendem Nebel geschmückt, hinterlässt Carl Theodor Dreyers hypnotischer Film Vampyr ein überwältigendes Gefühl der Beklemmung. Der verwaschene Weichzeichner von Rudolph Matés Kamera unterstreicht die eindrucksvollen Bilder, die alle im Morgengrauen aufgenommen wurden. Aber die größte ästhetische Leistung in diesem Film geschah durch Zufall. Zu Beginn der Produktion, als Dreyer zum ersten Mal die Einstellungen einer Szene sichtete, bemerkte er einen grauen Glanz bei einer der Aufnahmen. Bei weiteren Untersuchungen stellten er und Maté fest, dass ein falsches Licht auf das Objektiv projiziert worden war. Sie mochten den Look so sehr, dass sie dieses Licht bewusst nachahmten, indem sie einen Scheinwerfer so einstellten, dass er gemeinsam mit einem Schwarzlicht auf die Linse einwirkte.

5. Psycho (Alfred Hitchcock, 1960)

©Paramount Pictures

Hitchcocks berühmte Duschszene war so kompliziert zu drehen, dass 78 Kameraeinstellungen und sieben Tage für die Ausführung erforderlich waren. Das Badezimmer wurde aus zusammenklappbaren Wänden gebaut, um die nutzbaren Kamerawinkel zu maximieren; im letzten Schnitt erzeugen 90 Schnitte in Sekundenbruchteilen aus verschiedenen Winkeln den nervtötenden Effekt in dieser Szene. Der Kameramann John L. Russell verwendete einen schnellen Rückwärtslauf, um den Eindruck zu erwecken, dass das Messer in Lilas Bauch drang. Er nutzte im gesamten Film auch eine Vielzahl von subjektiven Nahaufnahmen, wie z.B. Lilas Hand, die eine Tür öffnet, um das Gefühl unmittelbarer Gefahr zu verstärken.

6. Kwaidan (Masaki Kobayashi, 1964)

©Columbus

Kwaidan, was übersetzt “Geistergeschichten” bedeutet, ist ein Kompendium von vier klassischen japanischen Geistergeschichten, die mehr wie ein Fiebertraum wirken als wie ein Horrorfilm. Regisseur Masaki Kobayashi und Kameramann Yoshio Miyajima verpassten jeder Geschichte ein eigenes handgemaltes und aufwändig gestaltetes Bühnenbild, um die wechselnde Stimmung und den narrativen Bogen jeder Aufnahme widerzuspiegeln. In einem Flugzeughangar gebaut (der einzige Raum, der groß genug war, um alles unterzubringen), sind die Bühnenbilder selbst Werke der expressionistischen Kunst. Kobayashis Akribie zeigt sich in jedem Detail. In Verbindung mit Miyajimas kreativen Beleuchtungstechniken (wie z.B. Hintergrundbeleuchtungen aller Farben) erscheint der Film wie eine unheimliche alternative Realität.

7. Ekel (Roman Polanski, 1965)

©Alive Vertrieb und Marketing

Roman Polanskis Horror-Meisterwerk wurde mit einem Budget von 300.000 Dollar gedreht. Begeistert von der Aussicht, die Ästhetik von seinem Erstling Das Messer im Wasser verbessern zu können, von dem er der Meinung war, dass er “absolut schrecklich aussah …. wischi-waschi, ohne echte Schwarzfärbung”, lehnte der Kameramann Gilbert Taylor sogar einen Bond-Film ab, um Polanskis Zweitfilm zu drehen.

Ekel ist in der Tat durch extrem kontrastreiches Schwarz-Weiß gekennzeichnet. Der Film nimmt zunehmend die Perspektive seiner gestörten Protagonistin ein; als sie einen massiven psychotischen Einbruch erleidet, wechselt Taylor die Kamera. Er drehte den Großteil des Films mit einer tragbaren Arriflex mit einer sehr weiten Linse und: “einer winzigen Tabakdose auf der Vorderseite, die mit einer kleinen Glühbirne ausgestattet war, um ein wenig Leuchtkraft hinzuzufügen – gerade genug, um Catherine Deneuves Haut im Schatten zu sehen, bevor ich alles in einer Nahaufnahme auflöste”. Polanski erinnert sich, dass Taylor hauptsächlich reflektiertes Licht verwendete, das von der Decke oder den Wänden abprallte, ohne einen Lichtmesser in Anspruch zu nehmen.

8. Blutgericht in Texas (Tobe Hooper, 1974)

©Drop-Out Cinema eG

Eine weitere bemerkenswerte Low-Budget-Sensation. The Texas Chain Saw Massacre wurde mit 300.000 Dollar und größtenteils unbekannten Schauspielern aus dem Großraum von Texas gedreht, wo er auch spielt. Der Kameramann Daniel Pearl verwendete dabei einen feinkörnigen Film, der viermal mehr Licht benötigte als moderne Digitalkameras, und drehte mit niedriger Geschwindigkeit. Die letzte Aufnahme des Films, in der Leatherface seine Motorsäge im ersten Morgenlicht mit urwüchsiger Wut schwingt, ist zu einer der ikonischsten Momente der Kinogeschichte geworden.

9. Shining (Stanley Kubrick, 1980)

©Warner Bros.

John Alcotts Kamera betont Isolation und Paranoia durch beunruhigend kalte, symmetrische Bilder. Das ist durchweg atemberaubend, aber in die Geschichte der Kameratechnik ging der Film augrund des innovativen Einsatzes von Garrett Browns Steadicam ein, für den Kubrick Brown selbst engagiert hatte. Brown fuhr in einem Rollstuhl, um Dannys Blickwinkel einzufangen, als der auf einem Dreirad durch die Hallen des Overlook Hotels fuhr, und verfeinerte seine Einstellungen durch permanente Wiederholung. Die Technik wurde vor allem für die Szene im Heckenlabyrinth verwendet, für die er eine Vielzahl von Spezialhalterungen baute.

10. Suspiria (Dario Argento, 1977)

©Gloria

Dario Argentos surrealer Giallo-Film, der vor allem für seine Verwendung von satten Farben mit psychedelischem Effekt bekannt ist, spielt sich wie ein gewalttätiger Neonalptraum ab. “Ein[Horror-]Film bringt einige unserer Urängste ans Tageslicht, die wir tief in uns verbergen”, sagte der Kameramann Luciano Tovoli, “und Suspiria hätte nicht die gleiche kathartische Funktion gehabt, wenn ich die Fülle und tröstende Süße des Vollfarbenspektrums genutzt hätte.” (Er hatte jede Grundfarbe mit Gelb “verunreinigt”.)

Argento bat Tovoli mit einem veralteten IB-Bestand von Kodak mit einer hohen Gelschicht bei 30/40 ASA zu filmen. Um die Schauspieler zu beleuchten, benutzte Tovoli eine große Bogenleuchte und platzierte Gestelle mit Tissue- und Velourspapier sehr nah an den Gesichtern der Schauspieler. Um die aufwändigen Sets und Orte zu beleuchten, reflektierte er Licht durch einen Spiegel. Das machte die Bilder schärfer, als wenn sie direkt beleuchtet würden.

Nachdem der Film fertig gedreht war, gab Argento den Negativabzug an Technicolor weiter, die das Farbnegativ dann in drei getrennte Schwarzweißfarben aufteilten: eines für Rot, eines für Blau und eines für Grün. Die Entwicklung einer Farbe auf einer anderen gab dem Film einen schimmernden Look mit lebendiger Farbdefinition, der den Druck auf Emulsionsbasis bei weitem übertraf.

11. Halloween (John Carpenter, 1978)

©Warner-Columbia

Um eine der gruseligsten Eröffnungsszenen aller Zeiten zu schaffen, nutzten John Carpenter und der Kameramann Dean Cundey die Chance auf die zu dieser Zeit neueste Technologie: die Steadicam. Die Vorrichtung, die dann Panaglide genannt wurde, ermöglichte es, die Kamera an den Kameramann zu montieren, um weitreichende und ununterbrochene Aufnahmen zu gewährleisten. Die Eröffnungsszene, die von drei Seiten als eine einzige flüssige Aufnahme gefilmt wurde, musste aufgrund des Budgetmangels an einem Drehtag fertig werden.

“Wir hätten es ohne die Steadicam nicht geschafft”, sagte Cundey. “Es gab kein anderes Gerät, das in der Lage gewesen wäre, damit über die Straße zu gehen, ins Haus zu schauen, die Küche zu betreten, die Treppe hoch, in ein Schlafzimmer und wieder runter.”

Die markante POV-Aufnahme aus der Halloween-Maske des Killers heraus wurde in der Postproduktion optisch ergänzt. Der eingeschränkte Blick schafft die unerträgliche Spannung dieser Szene.

12. Blair Witch Project (Daniel Myrick und Eduardo Sánchez, 1999)

©Arthaus

Obwohl Nackt und zerfleischt technisch gesehen der erste Film war, der die Found Footage-Technik einsetzte, baute das Blair Witch Projekt diese Grundlage in einem erschreckenden Ausmaß aus. Der Co-Regisseur und Kameramann Neal Fredericks, der im Alter von 35 Jahren bei einem Flugzeugabsturz tragisch ums Leben kam, entschied sich für Found Footage, weil diese Technik der pseudodokumentarischen Erzählung des Films am besten diente und eine radikale Erste-Person-Perspektive ermöglichte. Die Kameraführung ist wackelig und komplett handgehalten; oft schauen die Schauspieler direkt in die Kamera. Obwohl die Dreharbeiten nur acht Tage dauerten, brauchte der Film mehr als acht Monate bis zum Schnitt. Mit einem Budget gegen Null, spielter er schließlich mehr als 250 Millionen Dollar ein, und ist somit einer der größten Independent-Kassenerfolge aller Zeiten.

13. Silent House (Laura Lau, Chris Kentis, 2011)

Silent House wurde in einer scheinbar einzigen Aufnahme gedreht und ist eigentlich das Produkt von 12-minütigen Sequenzen, die in der Postproduktion zusammengefügt wurden. Die Aufnahmen waren auf 12 Minuten begrenzt, da sich das Team für die Canon EOS 5D Mark II entschied, die ein 12-minütiges Dateiaufzeichnungslimit hat. Aber das “In-einem-Take-Gimmick”, inspiriert von Hitchcocks 1948er Cocktail für eine Leiche, ist praktisch nahtlos.

Die Co-Regisseure und Kameramann Igor Martinovic perfektionierten die Illusion, indem sie zwei Wochen lang in dem verlassenen Haus probten, das sie nur mit Taschenlampen, Laternen und Kerzen beleuchteten.

“Das Konzept hier war, die Kamera in einen so subjektiven Winkel wie möglich zu bringen, um wirklich in die Perspektive der Hauptfigur zu kommen”, sagte Martinovic. “Als wir den Film drehten, war die 5D Mark II die einzige Kamera, die uns das geben konnte, was wir brauchten. Sie ist sehr klein, hochwertig, erschwinglich, und wir konnten sie auf engstem Raum platzieren, uns leicht damit bewegen, sie bei Bedarf von einem Bediener auf einen anderen übertragen – sie gab uns die nötige Flexibilität.”

14. Under the Skin (Jonathan Glazer, 2013)

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Vieles von Under the Skin wurde mit einer versteckten Kamera namens OneCam aufgenommen, die Jonathan Glazer speziell für den Film gebaut hatte. “Wir brauchten eine Kamera, die klein genug war, um sie zu verstecken”, sagte Glazer, “aber sie sollte eine gute Qualität haben. Sie existierte nicht, also haben wir sie gebaut.” Tatsächlich ließen Glazer und der Kameramann Daniel Landin insgesamt 10 Kameras bauen; manchmal benutzten sie zwei, manchmal sogar alle 10.

Die OneCam ist ein CCD in Streichholzschachtelgröße, auf die 16mm-Objektive aufgebracht werden konnten. “Wir haben einen Großteil des Films so gedreht, dass wir die Kameras in das Armaturenbrett ihres Autos einbauen oder in Straßeneinrichtungen verstecken konnten, um sie beim Gehen auf der Straße zu beobachten und die Öffentlichkeit nicht darüber informieren zu müssen, dass überhaupt Filmaufnahmen gemacht wurden”, fuhr Glazer fort. “Ein Großteil des Films wurde heimlich so gedreht.”

Unheimliche Gesellschaft

Carlos Fuentes: Unheimliche Gesellschaft

Als einer der grundlegenden Autoren des “Booms” hat der Mexikaner Carlos Fuentes in seinen wichtigsten Romanen – “Nichts als das Leben” (1962), “Terra Nostra” (1975), “Die Jahre mit Laura Diaz” (1999) u.a. – eine interessante Reflexion über die kulturelle Vielfalt und Geschichte seines Landes angestellt. Gleichzeitig hat Fuentes, wie jeder Autor von Rang, mit Erzählungen wie jenen, die in seinem ersten Buch “Verhüllte Tage” (1954) dargeboten werden, den Kurzromanen “Aura” (1962) und “Das gläserne Siegel” (2001), die Phantastik in seine Erzählungen einfließen lassen.

Fischer verlag

In diesem Sinne ist “Unheimliche Gesellschaft” (2004) eine Sammlung von Rätsel- und Horrorgeschichten, ein Band mit sechs Geschichten und einer Schlüsselfrage: “Ist Leben diese kurze Spanne, dieses Nichts zwischen Wiege und Grab?”

Das Ergebnis spaltete die Kritiker in jene, die sagen, die Sammlung sei nicht mehr als “ein Haufen mittelmäßiger Geschichten” (vornehmlich aus dem Schubladenlager des bürgerlichen Realismus), und jene, die sie als Beispiel für technisches Können, poetisches Staunen und nicht immer gelinden Horror sehen, und das – mit Verlaub – sollten alle sein, die zumindest ein kleines bisschen im Bilde sind.

Die sechs Geschichten in diesem Buch gehen von alltäglichen Situationen aus, um ins Unwirkliche zu führen, aber nicht in der Art der Phantastik von Jorge Luis Borges und Julio Cortázar, sondern durch die Aktualisierung der alten Tradition der Schauergeschichte mit seinen Villen, Gespenstern und düsteren Geheimnissen.

Hier kehrt Alejandro de la Guardia – ein in Europa lebender Mexikaner – in seine Heimat zurück, um das alte und große Familienhaus seiner Tanten María Serena und María Zenaida zu erben. Es sind so seltsame alte Frauen, so weit entfernt von der heutigen Welt, dass Alejandro sie für zwei Gespenster hält. Sehr spät entdeckt er, dass die alten Frauen echt sind, dass aber etwas anderes ganz und gar nicht stimmt.

Diese Geschichte – die den Erzählungen von Poe und Lovecraft nahe kommt – wird von Fuentes unter Beachtung der Regeln des Genres erzählt (in einem dunklen Ton, wobei er Elemente in der Zweideutigkeit belässt und das Innere des Hauses detailliert beschreibt), aber er fügt ihnen einige der Themen seiner “anderen” Erzählungen hinzu: die Übel der mexikanischen Bourgeoisie (Besitzer großer Villen), die Mischung aus Katholizismus und vorspanischem Glauben in der Volksreligiosität seines Landes, die rassistischen und sexuellen Vorurteile.

In der Geschichte “Die Katze meiner Mutter“, dreht sich das Spiel um die Verachtung einer alten Dame für ihre Haushälterin (die in Mexiko abfällig “gatas” – also Katzen – genannt werden, die indigene Guadalupe). Die Geschichte endet mit der Rache der Reinkarnation einer Hexe, die Jahrhunderte zuvor geopfert wurde.

Fuentes geht über das Altbackene und Immergleiche hinaus, indem er der klassischen angelsächsischen Gotik seine zeitgenössische und lateinamerikanische Version und einen didaktischen Hintergrund verpasst.

In der Geschichte “Calixta Brand” vollzieht ein Mann, der die intellektuelle Überlegenheit seiner Frau nicht ertragen kann, sobald sie im Rollstuhl sitzt und sich nicht mehr bewegen kann, einige erniedrigende sexuelle Praktiken. Sie wird schließlich von einem jungen Mann arabischer Herkunft gerettet, der sich als Engel entpuppt.

Das Herzstück dieser Sammlung ist jedoch “Vlad“, das zwar Teil dieser Sammlung ist, aber noch einmal als eigenständige Veröffentlichung kurz vor Fuentes Tod erschienen ist (2010). Wie unschwer am Titel zu erkennen ist, handelt es sich hierbei um eine Neuerzählung der Geschichte des Grafen Dracula, die in Mexiko-Stadt spielt. Die Metafiktionalisierung ist durch viele Details klar umrissen (Knoblauch, zugemauerte Fenster usw.) und beinhaltet auch die unschuldigen Figuren, die der Graf schließlich beherrscht. Sogar das Zitat “Ich trinke niemals … Wein” fehlt nicht.

Geschichte der Fantasy – Teil 2

In der letzten Folge haben wir uns die Frage gestellt, wer wohl der erste Autor war, der eine unabhängige phantastische Anderswelt erfand, und was das überhaupt bedeutet. Heute fahren wir mit unserer Suche fort.

Nehmen wir uns nun eine zweifelsfreie High Fantasy-Welt vor. George R. R. Martins Westeros. Hier finden wir die bereits erwähnte eigene Logik (Magie funktioniert oder hat einst funktioniert, Drachen existieren), als auch eine eigene Geographie, eine eigene Geschichte und eine ganze Zahl unterschiedlicher Kulturen. Hier finden wir alles, was sich im Laufe der Zeit zum Standard für moderne Fantasy gemaustert hat. Was aber ist mit den Grenzfällen?

Werfen wir einen Blick auf Mervyn Peakes “Gormenghast”. Hier finden wir eine eigenständige Geographie, eine eigene Geschichte, und Menschen, die ihre eigene Kultur leben. Die Naturgesetze aber sind die gleichen wie bei uns. Damit haben wir also drei Merkmale anstatt der vier besprochenen. Die meisten Leser würden mir recht geben, wenn ich sage, dass Peakes Welt eine eigenständige Anderswelt ist. Also sind vielleicht doch nur drei statt der angesprochenen vier Merkmale notwendig, um dieses Ziel zu erreichen.

Was ist mit “Jonathan “Strange & Mr. Norell”? Hier gibt es keine eigenständige Geographie, aber die Welt folgt ihrer eigenen Logik und ihrer eigenen Geschichte. Die Menschen in ihr denken von sich wohl, dass sie Engländer sind, aber je weiter man das Buch liest, kommt man zu der Erkenntnis, dass es sich dabei nicht um Engländer handelt, wie wir sie kennen. Es sind Engländer in einem ziemlich absonderlichen England, das nicht zu unserer Welt gehört (natürlich geht es im Buch um das Reflektieren von englischen Verhaltensweisen, aber das wird durch eine Darstellung jenseits unserer wirklichen Welt erreicht).

Gehen wir noch etwas weiter: Es gibt Elfen im Buch, und die haben ganz sicher ihre eigene Kultur. In der Hauptsache jedoch erkennen wir die Figuren als geprägt von einer Geschichte, die durch die Abwesenheit von Magie und den Krieg mit den Elfenländern im Hintergrund abläuft. Das zeigt uns ziemlich eindeutig, dass es sich nicht um unser England handeln kann. Clarkes Buch weist also, wie “Gormenghast”, ebenfalls drei Merkmale auf.

Gibt es weitere Grenzfälle? Was ist mit Alice im Wunderland? Es gibt einen verbindenden Faden zu unserer Welt, aber im Sinne unserer Übung: hier gibt es eine eigenständige Logik. Hier gibt es Bewohner mit ihrer eigenen Kultur, und uns wird ganz schnell klar, dass sie sich völlig unterschiedlich zu uns verhalten. Es gibt eine rudimentäre Geographie, aber keine Geschichte, die der Rede Wert wäre. Aus diesem Grunde wirken die Figuren sehr statisch. Wir kommen also ebenfalls auf nur drei Merkmale.

Und was ist mit der Fortsetzung? Die Welt, die Alice hinter den Spiegeln vorfindet, besitzt natürlich ebenfalls wieder ihre eigene Logik, nach der sich die Figuren verhalten, allerdings gibt es keine Geographie. Das Räumliche existiert hier nicht wirklich, und die Zeit … folgt hier auch ihren ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten. Alberto Manguel stellt in seinem Führer zu den imaginären Schauplätzen der Weltliteratur fest:

“Weil die Zeit hinter den Spiegeln sowohl rückwärts als auch vorwärts fließt, ist es möglich, sich an Begebenheiten zu erinnern, die erst viel später geschehen werden.”

Das ist problematisch. Wir können die Welt nur als Ganzes begreifen, wenn sie sich durch ihre Geschichte in einer Entwicklung befindet, die nachvollziehbar bleibt. Ist das nicht der Fall, gibt es diese Welt so gut wie gar nicht, sie bleibt ein jähes Aufblitzen von willkürlichen Aktionen. Das Verhalten der Figuren in einer solchen Welt gründet sich in diesem Fall ebenfalls nicht auf Entwicklung. Sind wir der Meinung,  Alice hinter den Spiegeln erfülle drei Merkmale (Logik, Geschichte, Gesellschaft), dann finden wir hier eine unabhängige Fantasy-Welt vor. Akzeptieren wir aber nur zwei dieser Merkmale, haben wir keine gültige Welt vor uns.

Gehen wir noch einmal einen Schritt zurück zu Hardy und Faulkner. Wie wir gesehen haben, gibt es in deren Werk keine unabhängige (Fantasy) Logik, die Figuren dort verhalten sich wie Menschen unserer Welt, oder zumindest so, dass wir nachvollziehen können, wie sich Menschen unserer Welt verhalten würden. Die Geographie ist phantastisch, aber nur Faulkner verpasst seiner Imagination eine eigene Historie. Selbst dann stehen wir nur zwei unserer Merkmale gegenüber, was ausschließt, dass wir es hier mit einer vollständigen Fantasy-Welt zu tun haben.

Wie verhält es sich mit Fantasy, die nicht in einer anderen Welt angesiedelt ist? Nehmen wir als Beispiel Dracula. Es gibt eine phantastische Logik: Vampire existieren, sie haben eine Geschichte. Van Helsing hat sie studiert und weiß Bescheid über die Regeln, nach denen sie leben. Die Geographie aber ist jene aus unserer Welt, und wir erkennen die Protagonisten als Europäer. Mit anderen Worten, die fiktive Welt des Buches imitiert unsere eigene Welt und versucht nicht, eine neue zu erfinden.

Inwiefern hilft uns das mit Morris weiter? “Die Quelle am Ende der Welt” hat ihre eigene Logik, es gibt Magie. Hier finden wir eine eigene Geschichte vor, aber die Geographie lässt uns zu dem Schluss kommen, dass wir hier unsere eigene Erde vorfinden, inklusive Rom und Babylon. Was ist mit den Menschen dieser Welt? Wie verschieden sind sie von Menschen der realen Welt? Offensichtlich wirken sie wie Europäer im Mittelalter (was auf viele Fantasy-Werke zutrifft). Sind sie das vielleicht sogar? Sie besitzen eine spezifisch christliche/katholische Kultur, es gibt Heilige, Priester, Rom undsoweiter. Liest man das Buch, glaubt man nicht, dass sich Menschen im Mittelalter der realen Welt im großen und ganzen anders verhalten hätten. Alles in allem wirkt die Quelle am Ende der Welt wie ein Historienroman und nicht wie Fantasy.

Sollte das richtig sein, finden wir hier nur zwei Merkmale anstatt vier. Das bedeutet, dass die Geschichte nicht unabhängig genug ist, um eine eigene Welt darzustellen. Es ist Fantasy, aber weit davon entfernt, High Fantasy zu sein, wie uns manche Stimmen weiß machen wollen.

Die Tatsache, dass die dortige mittelalterliche Gesellschaftsform, inklusive der Christenheit, sich nicht von einem real existierenden Mittelalter unterscheidet, legt die Vermutung nahe, dass Morris auch gar nichts anderes im Sinn hatte, als sich an seine Inspirationsquellen zu halten: die frühmittelalterlichen Romanzen. Der Weltentwurf liegt somit näher an Yoknapatawpha County (also jenem fiktiven Landstrich, der von Amerikanern bevölkert wird, dazu gedacht, das tatsächliche Amerika abzubilden) als an Tolkiens Arda (einem Landstrich, bevölkert von mittelalterlichen Menschen ähnlich den Europäern, aber nicht dazu gedacht, sie als Europäer oder wie Europäer handeln zu lassen).

Wir suchen also weiter nach dem ersten, der eine komplett unabhängige und eigene Welt erschaffen hat, nach der ersten High-Fantasy-Welt. Morris erfüllt einfach nicht die ihm zugesprochenen Voraussetzungen, also müssen wir uns weiter bemühen, um der Wahrheit auf den Grund zu gehen.

Die Figur Sherlock Holmes

Sherlock Holmes ist neben Dracula jene fiktive Figur, die in der Popkultur am meisten adaptiert und inszeniert wurde. Dass der Detektiv auf der ganzen Welt bekannt ist, liegt aber nicht an den kongenialen Originalgeschichten, sondern an den unzähligen Filmen, Theaterstücken, Musicals und Comics. Fast alle Symbole und Sätze, die aus den vielen Fernseh-, Film-, Theater- und anderen grafischen Reproduktionen stammen und die heute scheinbar zum Kanon gehören – wie etwa der Deerstalker-Hut – kommen in den Texten überhaupt nicht vor. Aber während diese dazu neigen, mit der Mode zu wechseln, scheinen die Originalgeschichten von Sir Arthur Conan Doyle, die immer wieder bearbeitet werden, sich in unserem kollektiven Bewusstsein festzuhalten wie nichts vor oder nach ihnen.

Der Reichenbach-Schock

1893 stieß der Autor Sir Arthur Conan Doyle den Detektiv Sherlock Holmes von einer Klippe. Die Klippe befand sich in der Schweiz. Es sind die berühmten Reichenbachfälle, die unter ihr dahinbrausen. Aber Conan Doyle war gar nicht vor Ort, er erledigte die Drecksarbeit von seinem Haus in London aus, in dem er schrieb.

“Ich nehme schweren Herzens meine Feder in die Hand, um diese letzten Worte zu schreiben, mit denen ich die einzigartigen Gaben festhalten werde, mit denen mein Freund Sherlock Holmes ausgezeichnet wurde”,

sagt der Erzähler Dr. John Watson in Conan Doyles Geschichte Das letzte Problem, die im Dezember 1893 im Magazin “The Strand” erschien.

Conan Doyle selbst wirkte etwas weniger emotional. “Tötete Holmes”, schrieb er in sein Tagebuch. Man kann sich Conan Doyle vorstellen, sein glattes Haar, das im Kerzenschein schimmert, wie er seinen üppigen Schnurrbart vor Freude dreht. Später sagte er von seiner berühmten Figur: “Ich hatte eine solche Überdosis von ihm, dass ich mich ihm gegenüber fühlte wie gegenüber der Leberpastete, von der ich einmal zu viel gegessen hatte, so dass allein der Name mir bis heute ein kränkliches Gefühl gibt.”

Conan Doyle mag zu diesem Zeitpunkt noch gedacht haben, dass er sich seiner Figur damit entledigt hätte, aber damit unterschätzte er die Fans. Die öffentliche Reaktion auf Holmes’ Tod war anders als alles, was die Welt der Fiktion jemals vorher erlebt hatte. Mehr als 20.000 Strand-Leser kündigten ihre Abonnements, empört über Holmes’ vorzeitigen Tod. Das Magazin überlebte kaum. Selbst die Mitarbeiter bezeichneten Holmes’ Tod als ein “absolut schreckliches Ereignis”.

Der Legende nach trugen junge Männer in ganz London schwarzes Trauerflor. Leser schrieben wütende Briefe an die Redaktion, es wurden Clubs gegründet, in denen es ausschließlich um die Rettung von Holmes’ Leben ging.

Das erste Fandom

Und Conan Doyle war schockiert über das Verhalten der Fans. Das hatte es vorher noch nicht gegeben. (Sie wurden zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal als “Fans” bezeichnet. Der Begriff – eine Kurzform für “Fanatiker” – wurde erst vor kurzem für amerikanische Baseballbegeisterte verwendet). In der Regel akzeptierten die Leser, was in ihren Büchern geschah. Jetzt begannen sie, ihre Lektüre persönlich zu nehmen und zu erwarten, dass ihre Lieblingswerke bestimmten Erwartungen entspräche.

Die begeisterten Leser von Sherlock Holmes waren es, die das moderne Fandom erschufen. Interessanterweise setzt sich Holmes’ intensive Fangemeinde bis heute fort und läutet endlose Neuerungen ein, wie etwa die US-Serie Elementary und BBCs Sherlock. (Es darf angemerkt werden, dass das bekannte Zitat: “Elementar, mein lieber Watson!”, nachdem die Elementary-Serie benannt ist, gar nicht in den Originaltexten auftaucht).

1887 erschien die erste Novelle mit dem Detektiv: Eine Studie in Scharlachrot. Von Beginn an war er so beliebt, dass Conan Doyle bald darauf bereits zu bereuen begann, ihn überhaupt erschaffen zu haben. Denn diese Geschichten überschatteten alles, was Doyle für sein “ernsthaftes Werk” hielt, etwa seine historischen Romane.

An Veröffentlichungstagen standen die Leser an den Kiosken Schlange, sobald eine neue Holmes-Geschichte in The Strand erschien. Wegen Holmes war Conan Doyle, wie ein Historiker schrieb, “so bekannt wie Queen Victoria”.

Die Nachfrage nach Holmes-Geschichten schien endlos. Aber obwohl The Strand Conan Doyle gut für seine Geschichten bezahlte, hatte dieser nicht vor, den Rest seines Lebens mit Sherlock Holmes zu verbringen. Als er 34 Jahre alt war, hatte er genug. Also ließ er Professor Moriarty Holmes die Wasserfälle hinunterstoßen. Acht lange Jahre widerstand Conan Doyle dem Druck, der allerdings mit der Zeit so groß wurde, dass er 1901 eine neue Geschichte schrieb: Der Hund von Baskerville. Aber an diesem Fall arbeitete Holmes noch vor dem verhängnisvollen Sturz. Erst 1903, in Das leere Haus ließ er Sherlock Holmes mit der Begründung auferstehen, nur Moriarty sei in diesem besagten Herbst gestorben, während Holmes seinen Tod nur vorgetäuscht habe. Die Fans waren zufrieden.

Sherlock – Ein Leben nach dem Tode

Seitdem sind die Fans allerdings noch wesentlich obsessiver geworden. Der Unterschied zu damals besteht ledigich darin, dass wir uns an ein starkes Fandom gewöhnt haben. Maßgeblich beteiligt an der Glut der Leidenschaft ist die BBC-Serie Sherlock, die von 2010 – 2017 in 180 Ländern ausgestrahlt wurde. Hier spielt Benedict Cumberbatch in einer atemberaubenden Performance den zwar modernen, aber besten Holmes, den es je zu sehen gab, begleitet von Martin Freeman als Watson. Seitdem pilgern unfassbare Scharen in den von Holmes und Watson bevorzugten Londoner Sandwich-Shop, oder in Speedy’s Café. Während der Produktion der Serie kam es sogar zu Problemen, weil sich Tausende Fans am Set tummelten, die dann in die Baker Street weiter zogen, die in Wirklichkeit die Gower Street ist.

Bemerkenswert ist, dass sich die Fans von Sherlock Holmes seit mehr als 120 Jahren intensiv mit dem fiktiven Detektiv beschäftigen, unabhängig davon, in welches Medium er übertragen wurde (es dürfte kein einziges fehlen).

Mark Gatiss, der Mitgestalter der Sherlock-Reihe, hat darauf hingewiesen, dass Holmes einer der ursprünglichen fiktiven Detektive ist – die meisten anderen danach geschaffenen Ermittler waren Kopien oder eine direkte Reaktion auf ihn:

“Alles in allem ziehen die Leute eine Linie unter Sherlock und Watson. Agatha Christie kann ihren Poirot nur klein und rundlich machen – im Gegensatz zu groß und schlank. Auch er braucht einen Watson, also erschafft sie Captain Hastings. Wenn man sich umsieht, ist das immer das gleiche Modell. Es ist unverwüstlich.”

Nun, selbst Sherlock Holmes hatte einen Vorgänger, und der stammt aus der Feder von Edgar Allan Poe. Dessen Auguste Dupin trat erstmals 1841 in der Erzählung Der Doppelmord in der Rue Morgue und dann in zwei weiteren Erzählungen auf. Conan Doyle hat ihm Refernz erwiesen, indem er ihn in Eine Studie in Scharlachrot auftreten lässt. Dass er sich bei Poe bediente, bedeutet aber nicht, dass sich Sherlock Holmes nicht in eine völlig eigene Richtung entwickelte. Hier wurde der Detektiv in eine definitive Form gegossen.

Sherlock-Mitgestalter Steven Moffat sollte nun das Schlusswort haben:

“Sherlock Holmes ist ein Genie, deshalb ist er ein bisschen seltsam. Ich weiß nicht, wie oft das im wirklichen Leben vorkommt, aber in der Fiktion kommt es doch oft vor. Und das haben wir Sherlock zu verdanken”

Weiterführende Sendungen:

Arthur Conan Doyle – Spiritist und Gentleman

Musik von Kevin MacLeod.

Vampir

Die 20 besten Vampir-Bücher aller Zeiten

Dieser Artikel ist Teil 6 von 17 der Reihe Fantasy-Literatur

Der Vampir – Herkunft, Mythos und Geschichte

Es gibt eine wahre Schwemme an Vampirbüchern da draußen. Um ehrlich zu sein, taugen die meisten nicht viel, auch wenn sie zu Bestsellern wurden. Doch wenn man an das richtige Buch gerät, macht der Vampirmythos wieder Spaß. Wir haben 20 nennenswerte Bücher über  Blutsauger (die manchmal auch Teil einer Serie sind) herausgesucht, die unserer Meinung nach zur Spitze der Vampirliteratur gehören. Auf eine Platzierung wird verzichtet, weil die Zeitspanne der Entstehungsgeschichten zu weit auseinander liegt, um sie sinnvoll gegeneinander abzuwägen. In diesem Sinne ist diese Liste als Aufzählung zu verstehen.

1. George R. R. Martin – Fiebertraum (Heyne)

Martin ist nicht nur der Schöpfer von “Ein Lied aus Eis und Feuer”, sondern unter anderem auch der Autor dieser blutigen wie faszinierenden Geschichte, die sich um Abner Marsh dreht, einen Bootskapitän auf dem mächtigen Mississippi, der im Jahre 1857 ein ungewöhnliches Angebot von einem Fremden erhält. Wenn es auf einem völlig gesättigten Markt  ein “Vampir”-Buch gibt, das man unbedingt lesen sollte, dann ist es dieses hier. Das Setting ist völlig exotisch, die Charaktere herausragend und komplex gezeichnet. Wer immer auf der Suche nach einem exzellenten Vampir-Roman ist, hat ihn hiermit gefunden.

2. Stephen King – Brennen muss Salem (Heyne)

Viele würden, wenn es um Stephen Kings Meisterwerk geht, auf “Shining” verweisen, aber sein zweiter Roman ist nicht weniger unterhaltsam, emotional und erschreckend. Der Schriftsteller Ben Mears kehrt in seine Heimatstadt zurück, um über das Marsten-Haus zu schreiben, wo er als Kind etwas Schreckliches erlebte. Aber seine Ankunft fällt mit der des neuen Bewohners des Hauses zusammen, und die Dunkelheit breitet sich schnell aus. “Brennen muss Salem” ist von der gotischen Tradition durchdrungen, aber King zeigt hier seine Gabe und sein Geschick, über Kleinstädte zu schreiben, die auseinander gerissen wurden. Das Böse, das aus dem Marsten-Haus sickert, wendet Nachbarn und Familienmitglieder gegeneinander und führt zu einem fantastisch eisigen Roman, der einer der besten Vampirbücher bleibt, die  je geschrieben wurden.

3. Anne Rice – Interview mit einem Vampir (Goldmann)

Dieses Buch enthält alle Bekenntnisse eines Vampirs, angefangen von dem Moment, in dem Louis gebissen wird, schildert seinen Überlebenskampf in New Orleans bis hin zu dem Tag, an dem er beschließt, die junge Claudia zu verwandeln. Mehr noch, es ist ein Buch, das die öffentliche Wahrnehmung über Vampire für immer verändert hat, als es 1976 erschien. Innovativ und dunkel-sinnlich ist das hier das Buch, das ein ganzes Genre wiederbelebt hat und die einflussreichste Post-Stoker-Interpretation über Vampire. Zum größten Teil sind heutige Ergüsse nur Nachahmungen dieser grandiosen Reihe.

4. Bram Stoker – Dracula (Fischer)

Der Königs-Vampir regiert noch immer, auch wenn Draculas Bedeutung über ein Jahrhundert ständiger Anpassungen und Neuinterpretationen vernebelt wurde. Der Roman ist wunderbar überdeterminiert, vollgepackt mit konkurrierenden Ängsten – und gleichzeitig steht im Mittelpunkt der Geschichte ein leerer Raum. Dracula nämlich schreibt, im Gegensatz zu den anderen Charakteren, seine eigene Geschichte nicht auf. Der Leser wird dazu eingeladen, eine eigene Interpretation zu finden.

 

5. John Ajvide Lindqvist – So finster die Nacht (Lübbe)

Es ist Herbst 1981 in Blackeberg, Schweden. Oskar ist ein zwölfjähriger Junge. Eli ist das Mädchen, das gerade nebenan eingezogen ist. Aber das ist nicht der Anfang deiner alltäglichen YA-Romanze, denn Eli ist vielleicht nicht so sehr Jemand wie ein Etwas. Der nachfolgende Film (eigentlich sind es zwei) mag eine breitere Zustimmung erhalten haben, aber Lindqvists Roman ist eine atmosphärisch wiedergegebene Geschichte der Isolation im Kindesalter und der Notwendigkeit von Gesellschaft. Oskar wird in der Schule routinemäßig schikaniert und seine Mutter hat keine Zeit, sich um ihn zu kümmern. Als er sich mit Eli anfreundet, entdeckt er die Vorteile und die Gefahr, sich auf jemand anderen zu verlassen. Der Roman ist in seiner Darstellung des Horrors viel expliziter als der Film, ein grausames Märchen, das den Schmerz der einsamen Jugend hervorragend darstellt. Viel gelobt, und das zu Recht.

6. Elizabeth Kostova – Der Historiker (Bloomsbury Berlin)

Der Historiker” ist ein funkelnder Debütroman von Elisabeth Kostova und erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die in der Bibliothek ihres Vaters etwas Seltsames entdeckt: Die Überreste vergilbter Briefe einer jahrhundertealten Jagd nach einem legendären Herrscher. Jetzt muss sie entscheiden, ob sie die Herausforderung annimmt oder nicht, auch wenn sie sich dann der furchterregenden Frage gegenüber sieht, die jedem Historiker, der versucht hat, sie zu beantworten, den Ruin gebracht hat: Wer ist Vlad der Pfähler wirklich? “Der Historiker” spielt mit der Struktur und den Details von Stokers Dracula, aber Kostova verwendet den Hintergrund, um eine rasante Abenteuergeschichte abzuspulen. Das Buch ist eine äußerst unterhaltsame Tour-de-Force mit Witz und Intelligenz.

7. Richard Matheson – Ich bin Legende (Heyne)

Eines der einflussreichsten Bücher in diesem Genre stellt Robert Neville vor, den letzten Überlebenden in einer Welt, die von einem Virus ausgelöscht wurde, der Menschen in Vampire verwandelt. Jetzt muss Neville die infizierten Kreaturen abwehren, die ihn jede Nacht vor seiner Haustür bedrohen. Hier sei gesagt (man muss es leider wieder und wieder betonen): Das Buch ist nicht der Film mit Will Smith, den man schnell vergessen sollte. Mathesons Roman von 1954 ist eine der größten Vampirgeschichten, die je geschrieben wurden. Das starke Gefühl der Isolation ist nach der kraftvollen moralischen Wendung des Finales des Buches zweitrangig, als Robert gezwungen ist, seine Position in der neuen Welt zu bedenken. Pflichtlektüre gibt es an sich kaum, das hier aber ist eine.

8. Octavia Butler – Vom gleichen Blut (Lübbe)

Octavia E. Butlers Roman, der nach seiner Veröffentlichung hochgelobt wurde, ist eine Meistererzählung der Science-Fiction. Dies ist die Geschichte von Shori Matthews, einem 10-jährigen Mädchen, das herausfindet, dass sie in Wirklichkeit eine 53-jährige Vampirin ist. Die eiserne Entschlossenheit, ihre Amnesie zu bekämpfen, führt sie auf eine atemberaubende und traumatische Reise. Aber sie will herausfinden, wer sie ist – und wer sich solche Mühe gibt, sie tot zu sehen.

9. Laurell K. Hamilton – Bittersüße Tode (Lübbe)

Willkommen in St. Louis! Dies ist das Revier von Anita Blake, professionelle Vampirjägerin und Nekromantin. Sie ist immer zur Stelle, um ein paar Untote zu beseitigen, wenn die Dinge außer Kontrolle geraten. Natürlich ist sie die Beste in ihrer Branche, was bedeutet, dass sie mit vielen Kreaturen interagiert – vor allem mit Jean-Claude, dem Meistervampir, den sie konsultieren muss, als sie gebeten wird, eine Reihe von Vampirmorden zu untersuchen. Leider fühlt sie sich auch schrecklich zu ihm hingezogen. Wer seine Vampirgeschichten mit einer Dosis Sex (und harter Detektivarbeit) mag, ist mit dieser sehr erfolgreichen Reihe auf der richtigen Fährte

10. John William Polidori – Der Vampyr (Hoffenberg)

Dieses 1819 veröffentlichte Buch ist wahrscheinlich die Geburt der Vampirliteratur. Sicher aber war Polidori einer der Begründer des romantischen Vampirmythos. Erzählt wird die Freundschaft zwischen einem Herrn namens Aubrey und dem rätselhaften Aristokraten Lord Ruthven. Obwohl es sich um ein kurzes Werk handelt, ebnete John William Polidori damit den Weg für die späteren Giganten des Genres.

11 Joseph Sheridan Le Fanu – Carmilla (Diogenes)

Diese Novelle ist eine der erfolgreichsten Vampirgeschichten, die je geschrieben wurden, und enthält auch einen der sympathischsten Vampire der Literatur. Der Angriff des Vampirs wird hier zu einer langen Verführung, einer romantischen Freundschaft, der Laura, Carmillas vorgesehenes Opfer, nur schwer zu widerstehen vermag. Carmilla ist eine der ersten Vampire, die sich für ihr Existenzrecht einsetzen, genau wie jedes andere Wesen in der Natur. Ihre Gegner sind so stumpfsinnig und selbstgefällig, dass man hofft, sie werden sie nicht aufhalten. Die Geschichte wurde 1872 veröffentlicht und ist ein faszinierendes Fenster in eine Zeit, in der die Vampirmythologie – und alles, was sie umfasst – noch erfunden werden musste.

12. Theodore Sturgeon – Blutige Küsse (Fischer)

Von einem der Paten der modernen Science-Fiction stammt dieser Briefroman über einen Soldaten, der ein wenig … verändert nach Hause kommt. Er hat sich an den Armeepsychiater gewandt, der ihn bat, seine Geschichte aufzuschreiben. Das Ergebnis ist diese schockierende und seltsame Sammlung von Briefen, Transkripten und Fallstudien. Ein kurzer Roman, der dennoch einen grandiosen Biss mitbringt.

13. Kim Newman – Anno Dracula (Heyne)

Fans der Vampirliteratur sollten sich unbedingt ein Exemplar von Kim Newmans alternativer Geschichte besorgen, in der Jonathan Harker und Van Helsing Dracula nicht aufhalten konnten. Der Graf hat Königin Victoria geheiratet und Menschen und Vampire leben jetzt Seite an Seite … bis Jack the Ripper anfängt, Blutsauger mit seinem silbernen Messer auszunehmen. Der Roman ist vollgepackt mit Charakteren aus Film und Literatur (John Merrick, Lestat de Lioncourt und Graf Orlock tauchen auf) und ein absoluter Genuss für Fans des Genres.

14. Dan Simmons – Kinder der Nacht (Heyne)

Als ein Forschungsteam auf medizinischer Mission nach Rumänien reist, sind die Mitglieder ziemlich erschüttert, als sie ein Kind in einem Waisenhaus entdecken, dessen Immunsystem der Schlüssel zur Heilung von Krebs und AIDS sein könnte. Das Kind heißt Josua, und ihm wurde inmitten einer tödlichen Krankheit die falsche Bluttransfusion verabreicht. Aber jetzt ruft seine bloße Existenz auch einen mysteriösen Clan auf den Plan … in satten Farben dargestellt und insgesamt ungeheuer spannend, ist “Kinder der Nacht” ein Roman, der den Vampirmythos auf den Kopf stellt.

15. Robert McCammon – Blutdurstig (Knaur)

Im modernen Los Angeles, das in “Blutdurstig” auf anschauliche Weise dargestellt wird, senkt sich das Böse zunächst langsam herab: eine Leiche hier und eine andere dort. Aber dann sorgt die Anzahl der Toten doch für Aufsehen – und alle Morde scheinen nachts zu geschehen. Die Hinweise deuten alle auf eine dunkle Macht hin, die älter ist als die Zeit, und die eine Legion von Anhänger zu haben scheint. Noch bedrohlicher aber ist deren Durst, denn der kann nie gestillt werden.

16. F. Paul Wilson – Das Kastell (Festa)

Mitten im Zweiten Weltkrieg wird eine Einheit deutscher Truppen zu einem abgelegenen Bergfried in den Siebenbürger Alpen entsandt, um ihr Territorium zu schützen. Zuerst scheint es sich um einen leichten Auftrag zu handeln – bis die Männer von Captain Wörmann am Morgen tot, mit schrecklich zerfetzten Kehlen, aufgefunden werden. Kein Mensch könnte diese Gewaltakte begangen haben, und kein Mensch kann auch nur hoffen, die Situation zu klären …. oder doch? Mit der durch den Krieg verschärften Spannung im Hintergrund verbinden sich die Kräfte von Gut und Böse in diesem Buch zu einem Schauspiel reinen Horrors.

17. Charlaine Harris – Vorübergehend tot (Feder & Schwert)

Hier beginnt die Reihe um Sookie Stackhouse. Sie ist eine ruhige, bescheidene Kellnerin aus der kleinen Stadt Bon Temps, Louisiana und ein ganz normales Mädchen – abgesehen davon, dass sie Gedanken lesen kann. Oh, und sie geht mit einem Vampir aus. Wie man vielleicht erwarten darf, verursacht das ein paar Probleme, besonders als mehrere Leichen auftauchen. Vorübergehend tot ist die perfekte Mischung aus Komödie, Action und Romantik. Der Roman hat HBO zu seiner preisgekrönten Serie True Blood inspiriert.

18. Suzy McKee Charnas – Der Vampir-Baldachin (Knaur)

Tagsüber ist Dr. Edward Lewis Weyland Professor. Aber nachts ist er ein Vampir, und obwohl er seine Kräfte nicht durch übernatürliche Mittel erworben hat – sein Zustand ist biologisch begründet -, hat sich sein Bedürfnis, sich vom menschlichen Blut zu ernähren, deshalb nicht geändert. In vier episodischen Kapiteln sehen wir, wie sich dieser Drang manifestiert und wie der Vampir trotzdem noch versucht, mit der Gesellschaft zu interagieren. Spannende Prosa, straffe Handlung und ein charismatischer Vampir im Mittelpunkt zwingen den Leser in dieses bahnbrechende Buch, das 1980 erstmals veröffentlicht wurde, hinein. (Die deutsche Version erschien 1984 bei Knaur und ist nur noch antiquarisch abrufbar).

19. Seth Grahame-Smith – Abraham Lincoln: Vampirjäger (Heyne)

Dieses Buch eignet sich hervorragend dafür, sich erneut mit Abraham Lincoln vertraut zu machen: Retter der Union, größter Präsident der Vereinigten Staaten und vereidigter Jäger aller Vampire. Als er von der wahren Ursache des Todes seiner Mutter erfährt, schwört Abraham Lincoln, sie zu rächen – und dokumentierte dies alles in seinen Aufzeichnungen, die später von Grahame-Smith entdeckt wurden. Dieses Geheimnis blieb jahrhundertelang verborgen, aber durch dieses Buch ist es möglich, Licht auf Lincolns mutigen Kampf gegen die Untoten zu werfen, und wie dadurch die Geschichte Amerikas geprägt wurde.

20. Scott Snyder / Stephen King / Rafael Albuquerque – American Vampire (Vertigo)

In dieser Graphic Novel, geschrieben von Stephen King und Scott Snyder, treffen die Leser auf zwei Vampire, deren Geschichten sich verflechten: eine junge Frau, die Rache begehrt, und ein gefährlicher Bandit, der ihr hilft, sie zu bekommen. Kings Teilnahme an diesem Werk begründete er damit, dass er den Vampiren “die Zähne zurückgeben” wollte, das heißt, sie nach dem völlig unverständlichen “Twilight”-Wirbel wieder zu blutrünstigen Killern zu machen.

Unübersetzte Meisterwerke: Was auch wieder betont werden muss, ist die immense kulturelle Wüste deutschsprachiger Phantastik, was vor allem daran liegt, dass in unseren Verlagen kaum Experten zu finden sind. Hier eine kleine Auswahl wichtiger Bücher, die es nicht zu uns geschafft haben: Steven Brust – Agyar; Carlos Fuentes – Vlad; Robin McKinley – Sunshine; Brian Wilson Aldiss – Dracula Unbound; E.E. Knight – Vampire Earth (von Heyne mittendrin abgebrochen, was noch schlimmer ist, als die Bücher gar nicht übersetzt zu haben); Andrew Fox – Fat White Vampire Blues; Silvia Moreno-Garcia – Certain Dark Things; Florence Marryat – The Blood of the Vampire; Paul Féval – La Ville-Vampire; Poppy Z. Brite – Lost Souls;

Horror

Horror versus Terror: Das Vokabular der Angst

Dieser Artikel ist Teil 3 von 24 der Reihe Was ist Horror

“Terror ist das Gefühl der Angst und der Besorgnis über die Möglichkeit von etwas Schrecklichem, während Horror das Entsetzen und die Abneigung ist, das Schreckliche tatsächlich zu sehen. “

Es ist zwar allgemein bekannt, dass das Ziel der Kunst darin besteht, Emotionen zu wecken, aber das Vokabular des kreativen Schreibens spiegelt dies nicht immer wider. Handwerkliche Essays lehren uns Dutzende von Begriffen für Figuren (Foliencharakter, Bestand, Antagonist, Antiheld, etc.) und Handlung (Höhepunkt, Auflösung, Wendung, Nebenhandlung, etc.), hinterlassen uns aber nur ein paar schlecht definierte Wörter für die tatsächlichen emotionalen und psychologischen Auswirkungen eines Werkes auf den Leser.

Oder zumindest fühlt sich das so an. Das Horror-Genre bildet einen Kontrapunkt und gibt uns eine Reihe von Begriffen an die Hand, mit denen wir eine der ursprünglichsten menschlichen Reaktionen analysieren und verstehen können: Angst.

Einer der ältesten Unterschiede in der Horrorliteratur ist der zwischen “Terror” und “Horror”. In ihrem literarischen Gebrauch wurden diese Begriffe von der Schriftstellerin Ann Radcliffe in ihrem Essay “On the Supernatural in Poetry” auf berühmte Weise definiert. Radcliffe, obwohl heute meist vergessen, war eine Bestsellerautorin, die dazu beitrug, die Schauerliteratur zu definieren und zu legitimieren – das Genre, aus dem der Horror entspringt. An der Oberfläche wirken Horror und Terror wie Synonyme, aber Radcliffe argumentiert damit, dass “Terror und Horror sehr weit auseinander liegen, dass das erste die Seele erweitert und die Qualitäten des Lebens erweckt; während das andere sie zusammenzieht, sie einfriert und sie fast vernichtet.”

Worin besteht also der Unterschied? Terror ist das Gefühl der Angst und der Besorgnis über die Möglichkeit von etwas Schrecklichem, während Horror das Entsetzen und die Abneigung ist, das Schreckliche zu sehen. Terror hat den Beiklang unbekannter Kreaturen, die an der Tür kratzen; Horror ist, wenn man sieht, wie seine Mitbewohnerin von Riesenratten lebendig gefressen wird. Terror ist das Gefühl, dass sich ein Fremder hinter der Tür verstecken könnte; Horror ist das spritzende Blut, wenn das Messer in den Körper eindringt.

Viele der ikonischsten Momente der Horrorliteratur – Poes unsichtbares schlagendes Herz, die unerklärlichen Geräusche in Hill House, Dracula, der in den Schatten schlüpft – werden vom Terror angetrieben. Sie sind teilweise verschleiert und lassen unseren Geist vor Spannung und Angst anschwellen.

Warum belebt uns der Terror, während der Horror abstumpft? Für Radcliffe führt uns der Terror in seiner Mehrdeutigkeit zu einem weiteren Effekt: “dem Erhabenen”. Das Erhabene ist die irritierende Ehrfurcht vor Größe und Dunkelheit, die unser Geist nicht erfassen kann. Wir werden von ihr sowohl angezogen als auch abgewiesen. Für Edmund Burke, auf dessen Philosophie Radcliffe verweist, ist es “das Erfühlen der stärkste Emotion, zu der der Geist fähig”. Das Erhabene wird oft mit der Natur assoziert – man denke an Stürme, aufragende Berge, die unendlichen Weiten des Meeres. Dennoch ist es auch in der Kunst besonders effektiv. Das liegt daran, dass der Verstand ein wenig Abstand benötigt, um das Erhabene zu spüren. Wenn du in einem Tornado gefangen bist, spürst du vielleicht nichts anderes als Panik. Aber wenn du eine eindrucksvolle Beschreibung über einen Tornado liest, der eine Stadt zerstört, kannst du das Erhabene spüren.

Die Kennerin der Schauerliteratur Devendra P. Varma entwickelte auf diese Weise den Unterschied zwischen Terror und Schrecken:

“Terror schafft so eine immaterielle Atmosphäre spiritueller psychischer Angst, ein gewisses abergläubisches Zittern vor der anderen Welt. Horror appelliert an die pure Angst und Abscheu, indem er über das Düstere und Dunkle brütet und die Nerven zerfleischt, indem er den tatsächlichen Hautkontakt mit dem Übernatürlichen herstellt.”

Werke, die den Terror umgehen und sich auf ununterbrochene Schläge und Schocks verlassen, werden oft als “billiger Nervenkitzel” bezeichnet. Und es ist wahr, dass Horror leichter zu erreichen ist als Terror. Der Höhepunkt, den ein Horrorfilm erreichen kann, ist der Moment, in dem der Mörder aus heiterem Himmel mit einem erschreckenden Heulen ins Bild springt. Es erschreckt dich, aber der Schrecken ist nur vorübergehend. Er bleibt nicht bei dir und verweilt nicht in deinem Kopf wie ein echter Moment des Terrors. (Denken wir zum Beispiel an das zweideutige, aber ahnungsvolle Ende von Kubricks “The Shining”, wo wir langsam in das Ballsaalfoto eintauchen.)

Stephen King fügt in “Danse Macabre” einen dritten Effekt hinzu: Abscheu. Er sagt:

“Angst ist die erhabendste Emotion … und deshalb versuche ich, dem Leser oder der Leserin das Fürchten zu lehren. Aber wenn ich herausfinde, dass das nicht klappt, versuche ich ihn zu erschrecken; und wenn ich ihn oder sie nicht erschrecken kann, werde ich mich für das Grobe, und Widerliche entscheiden. Ich bin nicht stolz darauf.”

So wie wir Begriffe wie “Protagonist” und “Antagonist” in Bezug zueinander setzen, so werden diese emotionalen Effekte am besten dadurch verstanden, wie sie sich voneinander distanzieren. Kings Grobheit oder Hang zur Abscheulichkeit lässt uns an diese Emotionen denken, die auf einem Kontinuum existieren. Du hast Angst, wenn du nach Hause kommst und merkst, dass etwas fehl am Platz ist. Du bist bestürzt, wenn du herausfindest, dass deine Familie ermordet wurde. Du bist entsetzt, wenn du die Leichen siehst, die vor Maden wimmeln.

Terror führt oft zu Horror, aber das Gegenteil ist nicht unbedingt der Fall. Tatsächlich besteht die Gefahr, dass durch Entsetzen – indem man uns das beängstigende Objekt so deutlich zeigt – all die Spannungen, die der Terror aufbaut, abgebaut werden. Wenn ein Schriftsteller Terror erzeugen will, hat er einen heiklen Balanceakt zu vollbringen. Terror entsteht aus Mehrdeutigkeit und Ungewissheit, so dass der Autor hart daran arbeiten muss, um Details vor dem Leser zu verbergen, ohne dabei so viel zu verbergen, dass der Effekt nur noch reine Verwirrung ist. Man muss das Fremde erschaffen, ohne in das Unsinnige oder Unverständliche zu verfallen.

Hier ist es sinnvoll, sich einem noch anderen, aber eng verwandten Konzept zuzuwenden: Dem “Unheimlichen”. Das Unheimliche, das von Sigmund Freud so berühmt beschrieben wurde, ist ein schwer zu definierendes Gefühl, das sich aus dem Vertrauten ergibt, das sich sehr seltsam entwickelt. In seinem Essay “Das Unheimliche” konzentriert sich Freud auf die bizarre und unheimliche Fiktion ETA Hoffmanns (ein Meister der unheimlichen Horrorgeschichte) und listet Deja vu, unnatürliche Wiederholungen, Automaten und Doppelgänger als einige Techniken (in der Fiktion) oder Ereignisse (in der Realität) auf, die das Gefühl hervorrufen. Wir spüren das Unheimliche, wenn die Barrieren zwischen den Dingen – Leben und Tod, Traum und Realität, Körper und Geist – zu zerfallen scheinen.

Freud verbindet den Begriff unheimlich mit dem Konzept, dass etwas nicht zum Haus gehört. Spukhausgeschichten lösen das Unheimliche oft aus, indem die Protagonisten geheime Gänge und verschachtelte Räume entdecken. Die Vorstellung, dass das eigene Zuhause dunkle, verborgene Geheimnisse haben könnte, erzeugt ein unheimliches Unbehagen. Ein großartiges Beispiel für das Unheimliche in der zeitgenössischen Literatur ist Brian Evensons “Windeye”. In dieser Kurzgeschichte finden Geschwister ein mysteriöses Fenster auf der Außenseite ihres Hauses, das zu keinem Raum im Inneren führt. Als die Schwester das Fenster berührt, verschwindet sie, und niemand erinnert sich jemals an sie. War sie ein Produkt der Fantasie des Bruders? Hat sich die Realität in zwei Teile geteilt? Die Situation ist durchdrungen von Mysterien, Terror und unheimlichem Unbehagen.

In seinem Beharren auf Ambiguität und möglicher Unwirklichkeit geht das Unheimliche ähnlich vor wie Radcliffes Idee des Terrors. Von allen Emotionen, die man erleben kann, so argumentierte Freud, könnte das Unheimliche die einzige sein, die in der Literatur stärker ist als im wirklichen Leben. Und diese starke Emotion ist wie Terror und Horror oder jedes andere Gefühl – vermittelbar durch die Art und Weise, wie der Autor Wörter auf den Seiten verwendet.

Augusto Cruz: Um Mitternacht

Augusto Cruz García-Mora hat mit diesem Roman Ehrgeiz und Mut gezeigt, der eine Mischung aus Detektivroman und kinematografischem Delirium mit einem Hauch Abenteuergeschichte darstellt, gespickt mit einer traumartigen Fantasie. Vielleicht finden Stummfilmliebhaber auf diesen seltsamen Seiten eine gewisse emotionale Komplizenschaft und wissen den Roman sogar noch mehr zu schätzen.

Und damit begrüße ich euch zu einer weiteren Buchbesprechung. Es geht um das 2025 bei Suhrkamp erschienene “Um Mitternacht”  von Augusto Cruz.

Das Objekt der Begierde

Der Film “London after Midnight” (Nach Mitternacht) ist der erste amerikanische Film, der sich mit Vampiren beschäftigt. Nosferatu wurde 1922 veröffentlicht, ein weiterer seltsamer Film namens “Dracula Halla” 1921, außerdem soll es noch einen geheimnisvolleren russischen Vampirfilm geben, über den absolut nichts bekannt ist. Das also sind die ersten Vertreter ihrer Art, aber in diesem Buch von Augusto Cruz geht es vor allem um die Suche nach dem als verschollen geltenden “London after Midnight”. Dass sich um diesen Film so viele Legenden ranken ist natürlich ein gefundenes Fressen für einen Schriftsteller. Schon die Entstehungsgeschichte ist merkwürdig. Lon Chaney war zu dieser Zeit der Horror-Darsteller Nr. 1. Sehr berühmt und zurückhaltend, galt dieser Darsteller als äußerst mysteriös, ging nie aus, bevorzugte die erbärmlichen, verkrüppelten und seelisch deformierten Charaktere, und als er starb, hielten alle Kinos des Landes für einen Moment inne und gedachten seiner. Um seine Augen tränen oder verschleiert wirken zu lassen, steckte er sich Drähte in die Augen oder träufelte sich Eiweiß hinein.

Das Buch

1927 wurde der Film “London after Midnight” im MGM-Filmstudio veröffentlicht. Ein Stummfilm unter der Regie von Tod Browning mit dem legendären Lon Chaney. Der Film war nicht nur finanziell, sondern auch künstlerisch ein großer Erfolg, vor allem wegen Lon Chaneys beeindruckendem Schauspiel. Die letzte Kopie des Films ging bei einem Großbrand 1967 verloren. Seit dem Brand kursieren Gerüchte, dass sich noch immer eine Kopie des Films in den Händen eines unbekannten Sammlers befindet, was “London after Midnight” auf die Liste der begehrtesten Filme aller Zeiten setzt.

Der exzentrische Artefaktsammler der Stummfilmära Forrest J. Ackerman ruft den pensionierten FBI-Agenten Scott McKenzie um Hilfe. Er beauftragt ihn, die einzige verbliebene Kopie des Films “London after Midnight” zu finden. McKenzie, einst Vertrauter des FBI-Direktors J. Edgar Hoover, nimmt den Auftrag an und beginnt eine manchmal äußerst gefährliche Suche nach dem Heiligen Gral des Stummfilms. McKenzie hat nicht viel Zeit, denn Ackerman befindet sich im Frühstadium der Alzheimer-Krankheit und beginnt, Dinge zu vergessen.

Halb verbürgte Realität, halb fiktionale Ambition, basiert “London after Midnight” auf einer wahren Geschichte, denn der Film existierte und bleibt bis heute verschwunden. Die aufgeführten Personen in diesem Roman agieren lebendig, die gesamte akribische Dokumentation dieser Jahre, die gleich zu Beginn ein ausgeprägtes Stimmungsbild liefert, tut ihr Übriges. Cruz hat, ausgehend von einigen sehr mysteriösen Fakten, eine sehr konsistente Handlung um diesen Film herum konstruiert. Zu Beginn mag der Stil etwas eigenwillig erscheinen, weil er diese gewisse mexikanische Note besitzt, die den Rhythmus und die Kraft der Erzählung wie ein Destillat erscheinen lässt, wie ein Traum, der die Magie und das Geheimnis nur durch Andeutungen unterstützt.

In zwei temporalen Bögen entspinnt sich die Geschichte – einer beschäftigt sich mit der Suche nach dem Film, ein zweiter zeigt die Vergangenheit McKenzies als Hoovers Assistent – und der Roman arbeitet dabei wie ein Schweizer Uhrwerk, der die Handlung abwechselnd ineinanderschlingt. McKenzies Erinnerungen an den Direktor werden hier klassisch vorgetragen, während seine Suche mit seltsamen Geschehnissen gespickt ist. Da gibt es Schlösser, Monster, Geisterstädte, Schatten, Legenden, Erinnerungen, Träume in einem abenteuerlichen Setting, das nicht nur Freunde des frühen Films begeistern kann. In einem Kontrapunkt kreist die Erzählung um das Erinnern und das Vergessen. Hiervon zeugen einerseits McKenzies Erinnerungen an Hoover, aber auch an seine Frau und seine Tochter, die eines Tages unauffindbar verschwunden waren und blieben.

Augusto Cruz hat einen herausragenden ersten Roman geschrieben, der zwar etwas an Austers wunderbares “Buch der Illusionen” erinnert, aber dennoch ganz eigene Wege geht.

Augusto Cruz García-Mora ist ein mexikanischer Autor, der 1953 in Tampico geboren wurde. Er studierte Kinematographie in Mexiko und an der University of California. Für seine filmischen Arbeiten erhielt er unter anderem Preise vom Instituto Tamaulipeco para la Cultura y las Artes und vom Centro de las Artes von Oaxaca. Cruz steckte viele Jahre Forschungsarbeit in den Roman, und kann als großer Kenner auf dem Gebiet des Films gelten. Er hat einen erstaunlich visuellen und farbenfrohen Schreibstil, der den Leser in die Welt des Stummfilms einführt. Jeder Schauspieler, von dem er spricht, hat wirklich gelebt, alle Geschichten, die um Filme herum kursieren, sind wahr, und das macht das Buch äußerst interessant. Der Autor hat sich in einem Fernstudium zum Privatdetektiv ausbilden lassen, bevor er sein Debüt zu Papier brachte. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass er alles, was er dabei gelernt hat, in diesem Roman ausbreitet.

Die magische Bibliothek

Michel Siefener – Die magische Bibliothek

Der Protagonist als Identifikationsfigur für Träumer und etwas verschrobene Gestalten, die nicht immer einsame Gelehrte sein müssen, um ihren Außenseiterstatus darzustellen; das ist es, was Michael Siefener in seiner 2006 bei Medusenblut erschienenen und jetzt bei Atlantis neu aufgelegten Novelle dem Leser zu bieten weiß.

Es kommt nicht von ungefähr, dass sich die besten Autoren phantastischer Erzählungen in ihren Protagonisten spiegeln, der an ihrer statt merkwürdige Ereignisse durchlebt oder untersucht. Und dann sind es wiederum die Leser, die in diesem Fall tatsächlich Idealleser sind, und die sich mit ähnlichen Träumen nicht nur der Hauptfigur, sondern auch dem Autor nahe fühlen. Durch diese Kommunikation entsteht etwas viel größeres, das über das Geschichtenerzählen hinaus geht und nicht selten einer Haltung entspricht. Phantastische Literatur ist ihrem Wesen nach intim, das Brausen der Welt, die Gegenwart sind hier völlig irrelevant.

Wenn Siefener Albert Moll (der eben genau das Gegenteil von Dur ist, wenn man das ganze musikalisch sehen will) seine Lieblingsautoren aufzählen lässt, festigt sich die Bindung zur Leserschaft allein dadurch, dass all diese Namen bei Liebhabern der Phantastik wohlvertraut sind. Sie stehen alle im Regal, weil keine ernstzunehmende Bibliothek ohne sie auch nur halbwegs vollständig wäre. An anderer Stelle spricht Moll davon, dass die phantastische Literatur bei ihm die Funktion der Religion übernommen habe, nachdem er als junger Mensch die Gedankenflucht, die er damit assoziiert, noch in der Kirche suchte, ohne dass er dem Gemurmel dort irgendeine Bedeutung abgewinnen konnte.

Auch wenn es nicht Teil der Geschichte ist, so liegt in dieser lapidaren und kurzen Aussage die ganze Aussage eines romantischen Geistes, der sich nach Unendlichkeit sehnt. Das Buch ist in Teilen eine Verteidigung des Eskapismus als lebensnotwendiges Prinzip sensibler Geister, und es kommt selten vor, dass dies so vehement vorgetragen wird.

Trotzdem hatte ich enorme Schwierigkeiten, das Buch zu lesen, obwohl ich einer naiven Sprachkunst keineswegs abgeneigt bin.

Der Rechtsanwalt Albert Moll reist mit dem Zug zu einem Klienten nach Fangenburg, um mit dem Grafen Roderick von Blankenstein dessen Testament auszuarbeiten. Der Graf hat nicht den besten Ruf im Dorf, denn er ist ein widerwärtiger Zeitgenosse, was Moll dann auch bald mitbekommen wird. Doch zunächst erfreut er sich an der Reise, die er mit der Lektüre von Stokers Dracula – seinem erklärten Lieblingsbuch – verbringt. Hier beginnen dann auch die Parallelen zu greifen, die in der ganzen Geschichte auftauchen, denn das Namedropping bekannter Autoren und ihrer famosen Geschichten ist kein Zufall, sondern das Prinzip, mit dem Siefener hier zu Werke geht. Das könnte bereits eine Erklärung für die folgenden Geschehnisse andeuten, die nicht selten darauf abzielt, dass Moll wahnsinnig sein könnte und zwischen seinen Fantasien und der Wirklichkeit nicht mehr zu unterscheiden weiß. Allerdings bleibt das nur eine der Möglichkeiten, die am Ende übrig sind, schließlich steht fest, dass er – der mit seinem Bruder die Kanzlei von seinem Vater übernommen hat – einer Intrige aufgesessen ist, die sich im Hintergrund von Wahn und Wirklichkeit abspielt und das eine oder das andere begünstigt.

Moll, der seine Geschäfte mit dem Grafen so schnell wie möglich hinter sich bringen will, wird von Sabine, die sich als Antiquarin vorstellt, dazu verleitet, nach einer “magischen Bibliothek” im Schloss zu suchen. Sie hat angeblich Hinweise auf sensationelle okkulte Bücher, die dort irgendwo lagern müssen, vergessen von der Welt. Ein unvorstellbarer Wert für jemanden, der in seinen Lieblingsgeschichten immer wieder solche äußerst raren Stücke genannt bekommt.

Es ist zunächst einmal interessant, wie Siefener dem tollpatschigen und verträumten Moll auch eine unbeholfene Sprache zur Verfügung stellt; das beabsichtigte Traumhafte bleibt dadurch aber auf der Strecke. Vor allem die inflationären Selbstbefragungen, brechen den Fluss der Erzählung: “War es nicht nur ein Traum gewesen? Ein schöner Traum? Ein Albtraum? Was war mit Ilse los?”

Denn plötzlich hat es der bei Frauen wohl nicht gerade angesagte Moll mit zwei Damen zu tun, zwischen denen er emotional hin und her eilt. Gerade hat er Sabine noch auf dem Friedhof geküsst, schon ist er bereit, mit Ilse das Lager zu teilen, der Tochter des Wirts, bei dem er im Dorf ein Zimmer hat. Die Übergänge solcher Szenen, von denen es im Buch wimmelt, sind voller technischer Fehler, die Figurenzeichnungen banal. Das muss nicht immer etwas schlechtes sein, macht den Text aber zu einem, dem man ständig Sätze streichen und Anmerkungen zur Verbesserung an die Seite kritzeln möchte. Eigentlich Aufgabe eines Lektorats, das es heutzutage ohnehin nicht mehr zu geben scheint. Andererseits hätte man auch erwarten können, dass der Autor bei einer Neuveröffentlichung noch einmal Hand anlegt. Mit ein wenig investierter Arbeit hätte sich daraus vielleicht kein hervorragendes, so aber zumindest ein brauchbares Buch machen lassen.

Erschienen bei Atlantis.