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Brunswick II – Der Weinkeller

Dieser Artikel ist Teil 51 von 54 der Reihe Gespenstersuite

So viele Räume, die er sich noch nicht angesehen hatte, weil er keine Zeit dafür erübrigen konnte, in fremnde Vergangenheiten einzudringen, die er nicht selbst zu wählen imstande war. Manchmal war er neugierig auf das, was ihm dort begegnen könnte, meistens kannte er die dunklen und schlammbespritzten Seelenhaine jedoch schon längst und er wollte nicht entdeckt werden. Je länger die Geister nichts von seinem Aufenthalt in diesem gebäude wussten, desto weniger bestand die Gefahr, sich ein neues Versteck suchen zu müssen.

Mit seinen Fingern zeichnete er etwas in den wallenden Zigarettenrauch. Die Worte würden einige Tage dort stehen bleiben, dann langsam verblassen und schließlich im Mauerwerk verschwinden. Da sie nur als Gedächtnisstütze dienten, reichte die Zeit aus. natürlich wusste Egon, dass es fahrlässig war, auch nur Teile seiner Gedanken in den Ziegeln archiviert zu wissen, aber so weit er das durchschauen konnte, legten sich seine Worte anonym zu den anderen, die schon seit Jahrhunderten dort verweilten, und niemand fragte je nach ihrer Herkunft.

Er schrieb: “Es gibt noch einen zweiten Keller. Sieh’ doch bitte mal nach, wohin der führt.”
Vor ihm tanzten die Schwaden, die nicht gebraucht wurden, einen langsamen Walzer, der sich bei genauerem Hinsehen als Ländler entpuppte, er könnte also noch viel mehr schreiben, aber an den Rest konnte er sich auch so erinnern. Den zweiten Keller vergaß er nur deshalb ein jedes Mal, weil er im ersten stets vor dem Weinregal einschlief. Er gestattete sich, die Etiketten auf den unzähligen Flaschen so lange zu studieren, bis ihm die Augen zufielen, denn natürlich wollte er wissen, was er da trank. Was ihn wirklich ermüdete war nicht etwa der Suff, sondern der Werdegang einer jeden Traube, die ihm davon erzählte, was sie aufregendes in den Weinbergen erlebt hatte. das war meist nicht viel, aber einmal hatte ihm gleich eine ganze Flasche von einem heimtückischen Mord an einem geheimnisvollen Mädchen erzählt. Den Wein selbst konnte man nicht mehr trinken, aber er hörte bis zum Morgengrauen zu. Und als er einschlief, blieben seine Albträume aus. Das war der Grund, warum er den Fall, der 25 Jahre zurück lag, nicht lösen konnte.

Am nächsten Tag nahm er die Flasche mit nach oben, rief mit seinem blauen Telefon im Präsidium an und sagte: “Ich habe hier eine Zeugin zu Gast, die vor 25 Jahren einen Mord an einer Iva Kaminski beobachtet hat.”
“Ich notiere mir gerade den Namen. Die Zeugin solltest du allerdings so schnell wie möglich mitbringen; mich wundert, dass du vorher anrufst.”
“Das hat einen Grund”, sagte Brunswick, zögerte aber nicht, Frank, der Forelle auch sogleich besagtes Manko zu schildern: “Das Problem ist, dass es sich bei dieser Zeugin um eine Weinflasche handelt.”

Das Haus am Meer

Dieser Artikel ist Teil 13 von 54 der Reihe Gespenstersuite

Die Tatzen zitterten über den Sand, bevor das blaue Meer folgte und die Abdrücke wieder verschlang. Nur das Flackern einer jahrtausendalten Geschichte, die sich so lange wiederholt, bis der Strand abgeschliffen ist. Doch vorher muss der Brunnen werden. In Wirklichkeit zieht sich nämlich das Meer zurück und hinterlässt nur seine Schattenwelten.

Sehr früh schon huschte sie in Kleidern aus dem Haus, gefolgt von der dünnen Luft, die sich über Nacht in ihrer Kammer aufgetürmt hatte ohne entweichen zu können. Natürlich wusste sie auch diesmal nicht, wo sie graben sollte, ein Traum aber hatte ihr gesagt, die Tiefe warte bereits auf das Eisen des Spatens.

Das Meer rauschte unbekümmert ihres angestrengten Gebarens vor und zurück. Nichts deutete auf eine kommende Wüste hin, doch sie hatte sie bereits im Salz geschmeckt. Einen Tag mehr, einen anderen weniger. Vor und zurück. Einen Brunnen vor dem Meer zu bauen schien die einzige Lösung zu sein, also hieb sie so fest sie konnte in den Sand, aber schon waren die Tatzen über der ersten kleinen Kuhle und ebneten alles wieder ein. Wenn sie doch nur wüsste, wo sie graben sollte.

Noch bevor sich die Sonne sehen ließ, eilte sie zurück ins Haus, denn wer immer sie im Tageslicht gesehen hätte, würde sie eingefangen haben wollen. Drinnen saß sie still, aber nicht regungslos. Niemand kam vorbei und neimand klopfte an die Tür.

Sie war durch einen einsamen Wald gehetzt und verfing sich mit ihren wehenden Haaren so oft an den plötzlich auftauchenden Ästen, dass sie fürchten musste, bald keine mehr zu besitzen, aber zumindest blieb ihr Gefieder intakt. Sie lief im Kreis, aber das wusste sie bereits, bevor sie eine Begegnung mit einem ihrer ausgerissenen Haarbüschel hatte. Es war noch ein weiter Weg bis zum Meer.

Das Haus stand leer als sie es fand, zumindest war es seit Langem unbewohnt. Aber auch das stimmte nicht, denn es hatte auf sie gewartet, was für sie leicht zu erkennen war, als sie die Schwelle übertrat. Sicher hätte es sich gewehrt, wenn es mit ihr nicht einverstanden gewesen wäre. Es hätte sie vermutlich gar nicht eingelassen, denn die Waffen eines Hauses waren vielfältiger Natur, reichten von simplen Alpträumen bis zur gefährlichen Präsenz aufgebotener Geister, die aus der Erde nach oben gerufen wurden oder aus den Wänden traten, um die Art von Verwirrung zu stiften, die dann zu einem Unfall führen konnte.

Was sie aber sah, war Staub, von dem sie glaubte, das er ebenso alt war wie sie selbst. Er bedeckte zentimeterdick den Boden, tanzte vor den Fenstern im einfallenden Sonnenlicht und legte sich auf die zurückgebliebene Einrichtung, die aussah, als wäre sie älter als das Haus. An den Wänden klebten Salzablagerungen, aber das Meer hatte hier keinen Anspruch geltend machen können. Die Trockenheit war keines natürlichen Ursprungs.

Vielleicht wollte das Haus nicht, dass sie einen Brunnen grub, aber genau das würde sie tun, dafür war sie hergekommen. Es begagte ihr nicht, den Staub zu beseitigen und deshalb ließ sie sich Zeit, hörte auf das Ächzen und Stöhnen der Konstruktion, auf ein Zeichen des Missallensm, aber es gab nichts dergleichen. Allerdings war sie nicht verwundert darüber, keine Wasserleitung im ganzen Haus zu finden. Selbst der Abtritt oben unter dem Dach war eine trockene Röhre.

Das Haus verabscheute das Meer und das Meer zog sich zurück. Nur manchmal kamen die Tatzen zum Vorschein, wollten einen Körper aus den Wellen ziehen, der auf das Haus zugekrochen käme, aber noch gelang ihm das nicht.

Krettich (Vom Werden älterer Geister)

Dieser Artikel ist Teil 7 von 54 der Reihe Gespenstersuite

Man gerät in des Geistes Grummeltopf und hält sich den Schädel mit einem Stumpf. Der Torso wird überwacht von Schatten, die sich die Schuhe binden als hätten sie es gelernt.

Das ist nur ein kleiner Weg, aber er wird breiter und tut es den bekannten Flüssen nach. Von der anderen Seite schallt das Horn; Schaluppen quälen sich durch Hindernisse, die Münder zum Gesang bereit.

Die finsteren Gebäude schwanken in ihrem violetten Licht, geworfen von schweren Sekunden, die von Polstern prallen. Ihre Streuung scheint leblos, doch die Täuschung kann das Gefühl nicht negieren, es mit einer antiken Täfelung aufnehmen zu wollen. Aus Gesichtern tropfen dann und wann Tränenperlen, je nachdem, wer sie geschnitzt hat, und wer dann in den Feierabend hinaus lief, ein Gasthaus seiner Wahl besuchte und die Stube mit dem Dreck an seinen Stiefeln beschmutzte.

Stephen King Re-Read: Nachtschicht

Zu Beginn seiner Karriere wollte niemand wollte eine Kurzgeschichtensammlung von Stephen King veröffentlichen. Als aber Shining, sein erster Hardcover-Schlager, gleich nach Carrie einschlug wie eine Bombe, begann seine Karriere auf Hochtouren zu laufen. Doubleday hatte King unter Vertrag und verlangte einen weiteren Roman im folgenden Jahr, aber King war mit einem Buch zugange, von dem es schien, als könne er es niemals beenden: Das letzte Gefecht. Ohne vorhersagen zu können, wie lange er noch brauchen würde, schlug er seinem Verlag vor, eine Sammlung mit Kurzgeschichten herauszugeben, die er für verschiedene Magazine wie Cavalier, Penthouse und Cosmopolitian geschrieben hatte, zusammen mit einem Vorwort von King selbst und vier neuen Storys. Zwanzig Geschichten also, die über mehr als ein Jahrzehnt hinweg geschrieben wurden, einige davon bereits als King erst 22 Jahre alt war. Das wurde widerwillig akzeptiert, und so erschien das Buch ohne Cover-Artwork in einer ersten Auflage von 12 000 Exemplaren. Das Buch beginnt und endet mit zwei Geschichten, die den in Brennen muss Salem etablierten Mythos ergänzen. Die erste, “Briefe aus Jerusalem“, kann man durchaus als Vorgeschichte zu Salem’s Lot lesen und ist eine Verneigung vor H.P Lovecrafts Cthulhu-Mythos. Der Schauplatz könnte durchaus auch Innsmouth sein. Angesiedelt im Jahre 1850 erzählt die Geschichte von einem uralten Übel, das in einer kleinen verlassenen Stadt gefunden wird, die der Vorfahre des Erzählers und sein Diener dort entdecken. Der Nachkomme, der uns die Geschichte erzählt, ist dazu verdammt, die Fehler seines Vorfahren zu wiederholen. King hat später oft und gerne “Pastiches” geschrieben, d.h. Erzählungen in Anlehnung an einen bekannten Stil. Ich denke da an Arthur Conan Doyle oder Raymond Chandler. Auch ist die Briefform ein beliebtes stilistisches Manöver des 19ten Jahrhunderts gewesen, um einem Sachverhalt den Anstrich von Realität einzuhauchen.

“Spätschicht” 1970, Cavalier

Eine der frühen Top-Geschichten Kings und seine erste verkaufte Geschichte überhaupt. Die atmosphärische Beschreibung der Spinnerei, das Arbeitsklima… bereits das ist Naturalismus pur. Gleichzeitig kann man hinter dem “Short-Shocker von Amerikas aufregendstem Autor” durchaus eine Gesellschaftskritik erkennen, die ja immer wieder mal in seinem Werk zu finden ist: Unachtsamer Umgang mit Natur und Umwelt. Hört sich auf den ersten Blick banal an, entfaltet aber bei King immer wieder eine immense Wirkungskraft. In seinen besten Erzählungen gibt es diesen doppelten Boden zwischen Horror und “Realismus” immer zu finden. Ohne moralischen Zeigefinger, völlig unterhaltsam. Aber das Unterbewusstsein weiß Bescheid.

“Nächtliche Brandung” 1974, Cavalier

Stephen Kings Erzählung Nächtliche Brandung kann man getrost als eine erste Skizze zu Das letzte Gefecht verstehen. Captain Trips, sprich; das Supervirus A6 dreht hier das erste Mal seine Runden. Wir begegnen einer handvoll Jugendlicher am Strand in einer bereits post-apokalyptischen Umgebung, die gerade Alvin Sackheim verbrannt haben, der sich diese Supergrippe eingefangen hat. Das ganze war gedacht als ein Menschenopfer, um die “Bösen Geister” davon abzuhalten, die Gruppe ebenfalls zu infizieren. Keiner glaubt natürlich diesen Humbug, aber alle machen mit, um mal etwas Neues auszuprobieren. Die Symptome zeigen sich trotzdem auch innerhalb der Gruppe.

Das ist dann auch schon die ganze Geschichte; und sie ist, wie sie da steht, lau. Allein dass sie zum Radius von The Stand gehört, macht sie etwas attraktiver, für sich allein genommen, bietet sie zu wenig.

“Ich bin das Tor” 1971, Cavalier

In der Sammlung findet sich auch Kings erster veröffentlichter Ausflug in die Science-Fiction und eine meiner ersten wirklichen Berührungen mit diesem Genre. “Ich bin das Tor” ist die Geschichte eines Astronauten, der mutiert, um einem Außerirdischen die Fähigkeit zu geben, durch seinen Körper zu sehen. Nur ist er ein schlechtes Medium, und die Bilder sind verzerrt; der Außerirdische, der mit den Schrecken der Erde konfrontiert wird, übernimmt seinen Körper und zwingt ihn, in seinem Namen zu morden. Der Tonfall ist fast wie bei Ray Bradbury, aber mit einem ausgeprägten King’schen Horror-Touch und einem echten Knaller am Ende.

Bekanntlich setzen Horror-Kurzgeschichten die höchste Kunstfertigkeit voraus. An ihnen ist vollumfänglich zu erkennen, was der Autor kann. So wie hier. Auch wenn King sich der Science Fiction zuwendet, tut er das, wie es Horror-Autoren tun. Diese Geschichte ist ein perfektes Kleinod, bei der, angefangen von der Grundidee, die gar nicht so spektakulär ist (ein Astronaut fängt sich während einer Venus-Expedition etwas ein, das ihn verwandelt) – bis hin zur Pointe der letzten drei Sätze (auch wenn der so infizierte einen vorübergehenden Sieg erringt, kann er das, was er mitgebracht hat, nicht aufhalten) alles stimmt.

“Der Wäschemangler” 1972, Cavalier

Das Groteske ist eine Urform des Horrors. Nicht zuletzt führt uns die was-wäre-wenn-Frage oder die grenzenlose Übertreibung auf die richtige Fährte. King spielte in seinen frühen Jahren konsequent durch, was geschähe, wenn sich uns vertraute Dinge oder Maschinen, die uns als Helfer dienen, plötzlich gegen uns wenden würden. Ich habe fast ausschließlich gelesen, dass diese Geschichte die lächerlichste sei, die King je schrieb, und ich kann nachvollziehen, woran das liegt. In Wirklichkeit sehe ich in ihr einen boshaften Humor. Eine Sache, die bei King in den letzten Jahrzehnten immer mehr verschwunden ist.

“Das Schreckgespenst” 1973, Cavalier

Es hat den Anschein, als seien in “Nachtschicht” alle grundlegenden Motive des King’schen Kosmos angelegt, zu denen freilich auch gehört, dass sich ‘etwas’ unter dem Bett oder – wie hier – im Schrank verbirgt. Ein Klassiker. Etwa zur gleichen Zeit geschrieben wie The Shining, ist auch dies hier eine Geschichte, in der ein Vater eine Bedrohung für seine Kinder darstellt.

“Graue Materie” 1973, Cavalier

Auch in diesem klassischen Verwandlungsstück über schlechtes Bier finden wir jenen Humor, der Kings Frühphase begleitet. Alkoholiker spielen bei King eine erhebliche Rolle, schließlich weiß er darüber bestens Bescheid. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass er selbst sich manches Mal wie diese Graue Materie fühlte.

Obwohl diese Geschichte sehr einfach gestrickt ist, kann man in ihr den hervorragenden Handwerker erkennen, der King nun eben ist. King beginnt diese Geschichte mit Blind Eddie, dem ‘permanenten Ladendieb’ der Nachteule, einem 24-Stunden-Laden, der das Zentrum der Geschichte ist. King wurde später oft dafür kritisiert, dass er Markennamen inflationär verwenden würde, während man ihn heute als verlässlichen Chronisten amerikanischen Lebens lobt, der es eben fertig bringt, diese für sein Schreiben wichtige Dimension bis heute durchzuhalten.

“Schlachtfeld” 1972, Cavalier

Ein ganz anderes Kapitel in dieser Sammlung sind die vom übernatürlichen Beeinflussten Action-Stories – oder Thriller wie eben “Schlachtfeld”, “Lastwagen”, “Der Mauervorsprung”, und sogar “Quitters Inc.” Sie bedeuten nicht mehr als das, was auf dem Papier steht. Man kann sie schlichtweg genießen wie man einen Marsriegel verschlingt. Die Idee – ein Auftragskiller bekommt eine Kiste von der Mutter des Konzerngründers einer Spielwarenfabrik, den er gerade umgebracht hat. Bei der Kiste handelt es sich um die “Vietnam – Ausgabe” einer Spielzeugsoldateneinheit. Natürlich geht es um Rache. Diese Idee also ist im Grunde so simpel und beweist nur eins: gute Autoren benötigen keine abwegigen Plots, um eine solide Geschichte zu generieren.

“Manchmal kommen sie wieder” 1974, Cavalier

In dieser Geschichte über Zombie-Schukinder, die auf Rache sinnen, treffen zwei von Kings Lieblingscharakteren zusammen. Der Hauptcharakter ist ein High-School-Lehrer, wie man ihn aus Carrie, Brennen muss Salem, Feuerkind, The Shining, Das letzte Gefecht, Christine oder Dead Zone, Es und Die Leiche kennt. Die bösen Jungs sind direkte Nachkommen Billy Nolans aus Carrie: das Haar mit Wachs zurückgekämmt fahren sie ein echtes Stück Detroit-Stahl durch die Gegend, immer höhnisch und bewaffnet mit Springmessern.
Dieses doch sehr auffällig wiederkehrende Szenarium deutet nicht zuletzt auf eine psychologische Verarbeitung Kings hin.

“Erdbeerfrühling” 1975, Cavalier

Diese Geschichte erschien zum erstenmal im literarischen Magazin der University of Maine, und wie alle Geschichten Kings aus dem Umfeld des Ubris Magazine (“Erdbeerfrühling” und “Nächtliche Brandung” aus dieser Sammlung, “Kains Aufbegehren” und “Achtung – Tiger!” aus Blut) ist auch diese mehr im Stil eines Schriftsteller-Workshops geschrieben als dass sie eine persönliche Note abgibt.

Auch hier treffen wir ein Motiv an, von dem King in seiner Anfangszeit besessen schien: ein Mann verwandelt sich in in etwas anderes. Angefangen von “Ich bin das Tor” zu “Graue Materie” oder “Das Schreckgespenst” bis “Shining”, treffen wir dieses Motiv immer wieder an. Aber auch in “Duddits” oder “Tommyknockers”, “The Dark Half” etc. Wer sich den Motivketten Kings öffnet, wird nahezu ein Aha-Erlebnis ernten können. Nehmen wir noch “Feuerkind” und “Dead Zone” dazu; hier sind es Charlie McGee und Johnny Smith, die durch die Ausübung ihrer psychischen Kräfte zu ganz anderen Menschen werden. Und dann wäre ja noch King selbst, der sich sozusagen in Richard Bachmann spaltete. Ein hinreißendes Thema, über das man lange spekulieren könnte.

“Der Mauervorsprung” 1976, Penthouse

Wie auch “Lastwagen” und “Schlachtfeld” gehört diese Story zu den straight-forward-Actionstories. Darin ist nicht mehr oder weniger enthalten als das, was auf dem Papier steht. Aber es sind meist die einfachen Geschichten, die der Technik bedürfen – und Kings Talent macht eine großartig effektive Geschichte aus der Tatsache, dass Stan Norris das 43. Stockwerk auf einem 13 cm breiten Mauervorsprung umrunden muss. Dass das natürlich nicht alles ist, versteht sich von selbst.

“Der Rasenmähermann”1975, Cavalier

Ich habe beim “Wäschemangler” bereits von der Groteske als Grund und Boden für Horror-Vibes gesprochen. Diese Geschichte hier ist allerdings reinrassig mit dem Grotesken verbunden und somit eine der Außergewöhnlichsten, die King je geschrieben hat. Stellen wir uns allein dieses Bild vor: ein dicker nackter Mann kriecht auf allen Vieren hinter einem knallroten Rasenmäher her, um das Gras, das dieser abschneidet, aufzuessen. Das hört sich lustig an und irgendwie bizarr – und das ist es auch, denn das Lachen bleibt einem dann später durchaus im Halse stecken. Wichtig in diesem Zusammenhang sind die Verweise auf die Griechische Mythologie, die man leicht überliest oder mit denen man zunächst vielleicht nichts anfangen kann. Es gibt nicht wenige Stimmen, die diese Geschichte für sinnfrei halten – das sind genau jene, die sie nicht verstanden haben und vielleicht nocheinmal lesen sollten.

“Quitters, Inc.” Bis dahin unveröffentlicht

Hier ist nach “Der Mauervorsprung” die nächste straight-forward-Actionstory. Gäbe es die Quitters wirklich, bin ich mir ziemlich sicher, dass die Tabakindustrie dicht machen könnte. Wie so oft bei Kings unglaublichen Short-Schockern, geht es auch hier um die simpelste Abhandlung psychologischer Fragen. An Effizienz mit Sicherheit nicht zu schlagen.

“Ich weiß, was du brauchst” 1976, Cosmopolitan

Eine Geschichte, wie man sie sich auch sehr gut in einem Frauenmagazin vorstellen könnte. Romantik, ein wenig “thrill” durch den Stephen King-Touch, fertig. Man täte der Geschichte unrecht, wenn man sie als schlecht bezeichnen würde, sie ist nämlich – wie immer – gut geschrieben. King – wie man früher behauptete – würde auch dann gelesen, wenn er das Benutzerhandbuch zu einer Kaffeemaschine schreiben würde. Das sagt viel aus.

“Kinder des Zorns” 1977, Penthouse

Mit seinen dunklen Maisgöttern und verdrehten religiösen Ritualen erinnert auch diese Geschichte an den Einfluss Lovecrafts. Es gibt nicht wenige, die sich diese Story als Roman gewünscht hätten. Das mag der Grund gewesen sein, warum so viele unsägliche Filme sich an diesem Thema abarbeiteten. Keinem davon gelang es auch nur in die Nähe des Geheimnisses zu kommen, das da zwischen den einzelnen Sätzen mitschwingt und die ungeklärt bleiben müssen.

“Die letzte Sprosse” Bis dahin unveröffentlicht

Dies ist keine Horrorstory, aber ohne Zweifel die beste und engagierteste Geschichte der ganzen Sammlung. Hier zeigt King eindrucksvoll, welch herausragender Autor er eigentlich ist. und dass ihn bereits in seiner Frühphase kaum einer das Wasser reichen konnte, was sorgfältig ausgewählte Details, die Beherrschung des Spannungsbogens oder die fesselnde Atmosphäre betrifft. Vertrauen, Einsamkeit, Liebe. Das sind die zentralen Schlagworte – eine Episode aus der Kindheit eines Geschwisterpaars, die mit dem Selbstmord der Schwester als Erwachsene endet. King wird stets aufs neue den Beweis antreten, dass er das Übernatürliche dem Menschlichen unterordnet. Hier hat diese Formel einen ersten Höhepunkt zu verzeichnen.

“Der Mann, der Blumen liebte” 1977, Gallery

Eine simple Geschichte, die wohl mehr einer Fingerübung ähnelt. Eine, in der der Leser bis zum entscheidenden Moment getäuscht wird – oder besser, auf eine falsche Fährte geführt wird, bis der erzählerische Klimax der ganzen Erzählung seinen literarischen Effekt ausspielt.

“Einen auf den Weg” 1977, Maine

“Einen auf den Weg”  spielt – anders wie “Briefe aus Jerusalem” nach den Ereignissen, die in Brennen muss Salem geschildert werden. Es ist eine einfache Geschichte über eine Familie, die sich während eines Schneesturms in die mittlerweile verlassene Stadt verirrt, und wäre ein effektiver und sauberer Abschluss des Romans gewesen, der Hinweise darauf gibt, dass Ben und Mark ihre Mission am Ende von Brennen muss Salem erfüllt haben. Die Familie in dieser Geschichte trägt den Namen Lumley, und wenn wir uns jetzt “Briefe aus Jerusalem” noch einmal ansehen und mit Brian Lumleys Geschichte “Sie lauern in der Tiefe”, vergleichen, die drei Jahre vorher – also 1974 – erschienenen ist, entdecken wir Kings kleine Geste in Richtung des englischen Kollegen. Die Hauptfigur Booth scheint ein Probelauf für Stu Redman aus “The Stand” zu sein. An diesem Roman arbeitete King zeitgleich.

“Die Frau im Zimmer” Bis dahin unveröffentlicht

Den Schluss bildet eine weitere ambitionierte Geschichte über einen Mann, der seine krebskranke Mutter vergiftet. Ob sie es so will, bleibt dabei unentschieden. King sah seine eigene Mutter sterben und fing diese Details perfekt ein. Auch hier ist zu erkennen, dass es King in erster Linie um die Figuren geht und erst in zweiter Instanz um das Übernatürliche.

Mit seinen ganzen Höhen und Tiefen ist diese Sammlung Kings Kurzgeschichten-Klassiker schlechthin. Unter den ganzen epochemachenden Romanen, die er schrieb, ging stets fast ein wenig unter, dass King ein Meister dieser wichtigsten aller literarisch-phantastischen Formen ist. Zwischen echten Höhepunkten finden sich immer wieder einige B-Stories, die aber dennoch von einem erstaunlichen Handwerk zeugen. Und über Kings Fantasie müssen wir uns ohnehin nicht unterhalten.

Jim Butcher: Sturmnacht (Die dunklen Fälle des Harry Dresden #1)

Dieser Artikel ist Teil 1 von 2 der Reihe Dresden-Files

Harry Dresden gehört definitiv zu den besten Detektiven aller Zeiten. Dass er dabei noch ein Magier ist, mag ihm scheinbar hilfreich sein, aber das ist es nicht. Jim Butcher hat Harry ins Leben gerufen, ohne zu ahnen, dass er damit die beste und erfolgreichste Urban Fantasy-Reihe aller Zeiten zu Papier bringt, die mittlerweile zigfach kopiert wurde, ein Ende ist nicht in Sicht. Bei uns hat die Veröffentlichungspolitik dieser über alle Maßen erfolgreichen Bücher leider einen unglücklichen Weg genommen, der allerdings jetzt beendet scheint. Die ersten Bände wurden noch von Knaur herausgegeben, bevor der Verlag das Interesse verlor und Harry zu Feder & Schwert wechselte. Wäre der Verlag nicht bankrott gegangen, hätten er es fast geschafft, alle 17 Bände herauszugeben, aber dem war nicht so.

Die Neuauflage bei Blanvalet

Blanvalet

Ab dem 23. November 2022 wird die Serie nun endlich von Blanvalet neu aufgelegt, und ich bin mir ziemlich sicher, dass wir diesmal in den Genuss des gesamten Werkes kommen werden. Die Cover sind vielleicht nicht ganz so schick wie seinerzeit die von Feder & Schwert, aber sie sind auf keinen Fall so unterirdisch wie es bei uns fast schon Mode zu sein scheint. Den Auftakt machen an diesem Tag die beiden Bände “Sturmnacht” und “Wolfsjagd”. Man hat also auch die alten Titel stehen lassen, was auch nicht immer vorkommt.

Jim Butchers Dresden-Files sind eine perfekte Verbindung aus dem hartgesottenen Detektivgenre und der Urban Fantasy. Als einziger “beratender Zauberer” der Welt tritt Harry Dresden gegen eine Vielzahl von Wesen an – darunter Geister, Vampire, Werwölfe und andere Monster – und nimmt Fälle von menschlichen und nichtmenschlichen Klienten sowie von der Sonderermittlungseinheit der Polizei von Chicago an. Dem Strand-Magazine, jener Zeitschrift, die durch die Veröffentlichung vieler Sherlock Holmes-Geschichten Legendenstatus erreichte, sagte der Autor:

“Mir wurde klar, dass Zauberer und Privatdetektive genau das Gleiche tun. Sie spielen dieselbe Rolle und haben nur unterschiedliche Hüte auf. Ob sie nun in die kriminelle Unterwelt Chicagos oder in die buchstäbliche Unterwelt wie im Herrn der Ringe eintauchen, beide sind Menschen, die sich an dunkle Orte begeben und eine Bedrohung darstellen, nicht unbedingt wegen dem, was sie alles zu tun vermögen, sondern hauptsächlich wegen dem, was sie wissen. Als mir klar wurde, dass Zauberer und Privatdetektive auf demselben Konzept beruhen, wurde es ganz einfach.”

Mittlerweile gibt es viele dieser Dresden-Klones, ob es sich nun um Kevin Hearnes Eisernen Druiden oder Ben Aaronovitchs Peter Grant handelt, aber Harry Dresden ist für die Urban Fantasy das, was der Herr der Ringe für die High Fantasy ist.

Sturmnacht

Sturmnacht beginnt mit einem ganz normalen Tag, an dem die potenzielle Kundin Monica Sells bei Harry vorbei schaut. Sie macht sich Sorgen um ihren Mann Victor und befürchtet, dass er sich zu sehr in die Welt der Magie eingemischt hat. Sie möchte, dass Harry herausfindet, was mit ihm los ist.

Gleichzeitig bittet Leutenant Karrin Murphy von der Polizei in Chicago Harry Dresden wegen eines Mordes, der sich ereignet hat, um Hilfe. Das tut sie regelmäßig, wenn es um einen Fall geht, der mit dem Übernatürlichen zu tun haben könnte. Harry ist als Berater für die Polizei in Chicago tätig und wird für seine Arbeit auch bezahlt.

Als Harry die Fälle untersucht, wird ihm klar, dass sie beiden miteinander zusammenhängen und er sie unter einen Hut bringen muss, aber er muss auch Murphy bei Laune halten, ohne ihr alles zu erzählen, während er versucht, die beiden Fälle aufzuklären. Es gibt einen abtrünnigen Zauberer und einen Dämon, der bekämpft werden muss. Harry möchte Murphy nicht mit hineinziehen, um sie nicht in Gefahr zu bringen.

Im Laufe des Buches lernen wir Figuren kennen, die nicht nur in dieser Geschichte eine Rolle spielen, sondern auch in der weiteren Serie. Wir bekommen mehr von Harry und Karrin Murphys Interaktionen und wie sie zusammenarbeiten. Wie in eine ersten Band üblich, werden wir in dieser Geschichte gewissermaßen mit Murphy bekannt gemacht.

Wir lernen den Gangsterboss und gelegentlichen Gentleman Johnny Marcone kennen, und wie er in diese Geschichte verstrickt ist. Marcone spielt in der gesamten Serie eine Rolle und Harry muss sich immer wieder mit ihm und seiner Bande auseinandersetzen.

Wir erhalten auch bereits Hinweise auf den Weißen Rat der Zauberer, und wir lernen den Aufseher dieses Rates, Donald Morgan, kennen, der Dresden bei seinen Verfehlungen gerne auf frischer Tat ertappen will. Harry wurde aufgrund seiner Vergangenheit, die ebenfalls in die Geschichte einfließt, an die kurze Leine gelegt. Morgan soll dafür sorgen, dass Harry sich an die Regeln und an die strengen Gesetze hält, was ihm nicht leicht fällt. Morgan würde nichts lieber tun, als Harry dabei zu erwischen, wie er eines der Gesetze der Magie bricht, um ihn vor den Weißen Rat zu bringen und ihn daraufhin hinrichten zu lassen.

Susan Rodriguez hat in dieser Geschichte ebenfalls ihren ersten Auftritt. Sie ist Reporterin für die Zeitung Arcane, die über übernatürliche und magische Dinge berichtet. Susan sieht Harry als ihren wichtigsten Kontakt und nervt ihn ständig mit den neuesten Gerüchten. Susans Geschichte beginnt hier, und ihre und Harrys Beziehung entwickelt sich im Laufe der Geschichte von beruflich zu freundschaftlich und dann zu einem Liebesverhältnis. Am Ende hat Susan einen großen Einfluss auf die gesamte Serie und auch auf Harry.

In einem Kellerlabor haust Harrys Assistent Bob, ein alter und intelligenter Geist, der in einem Schädel gefangen ist und ihn ohne Harrys Erlaubnis nicht verlassen kann. Bob hilft Harry bei seinen Zaubersprüchen und der Herstellung von Tränken und bringt ihm neue magische Techniken bei. Natürlich versucht er jede Gelegenheit zu nutzen, den Schädel zu verlassen und ab und zu lässt Harry ihn für 24 Stunden heraus. Die Beziehung zwischen Harry und Bob ist unterhaltsam und entwickelt sich im Laufe der Serie auch weiter.

Wir bekommen auch einen ersten Blick auf Mac und seine Taverne McAnally’s, die ein lokaler Treffpunkt für Harry und andere aus dem magischen Reich ist. Mac ist der starke, schweigsame Typ, der einen neutralen Ort für alle bietet, um sich zu treffen. Er ist ein Teil von Harry und hilft ihm oft, wenn er in Schwierigkeiten steckt.

Eine der magischen Kreaturen, die wir in dieser Geschichte kennen lernen, ist eine Tautropfen-Fee namens Toot Toot. Er ist eine Hilfe für Harry und erledigt oft Aufgaben für ihn im Tausch gegen Pizza. Er taucht von Zeit zu Zeit in der Serie auf und hier sehen wir ihn zum ersten Mal.

Eine groß angelegte Serie wie die Dresden-Files benötigen eine kluge Einführung, und das bekommen wir hier. Trotzdem wird die Geschichte der Sturmnacht abgeschlossen und aufgelöst, so dass auch bei jenen kein Frust entsteht, die nicht weiter in diese fantastische Welt eintauchen möchten. Alle anderen lernen die Protagonisten kennen, die im weiteren Verlauf eine wichtige Rolle spielen werden. Wir lernen Harrys magisches Systhem kennen und lesen ein wenig über seine Vorgeschichte, seinen Mentor und seine Familie, die später in der Serie ebenfalls eine Rolle spielen wird.

Allen, die dabei bleiben, kann ich versprechen, dass sie einen Höllenritt vor sich haben, der seinesgleichen sucht.

Jim Butcher: Wolfsjagd (Die dunklen Fälle des Harry Dresden Nr. 2)

Dieser Artikel ist Teil 2 von 2 der Reihe Dresden-Files

Hallo Freunde draußen an den Radiogeräten. Wir kommen heute zum zweiten Teil der beliebtesten und wahrscheinlich besten Urban Fantasy-Serie der Welt. Es geht um die dunklen Fälle des Harry Dresden, im Original Dresden-Files. Der Titel: Full Moon, bei uns: Wolfsjagd. Blanvalet legt die Bände, die bei uns nie vollständig erschienen, wieder neu auf – und das ist ein echter Glücksfall. Auch wenn man ganz leicht in die Serie reinkommt, empfiehlt es sich doch, am Anfang anzufangen. Und wer sich dafür interessiert, der kann sich hier im Phantastikon bereits die Sendung zu Sturmfront anhören.

Bevor wir ins Geschehen hüpfen – möglichst Spoilerfrei, obwohl sich das nicht gänzlich vermeiden lässt – noch ein kleiner Nachtrag zum Autor selbst. Wer ist Jim Butcher überhaupt?

Am 26. Oktober 1971 in Missouri geboren, wurde sein Interesse an Science Fiction und Fantasy schon früh geweckt, als er sich nämlich von einer Halsentzündung erholen musste. Seine ältere Schwester versorgte ihn während seiner Genesung mit J.R.R. Tolkiens “Herr der Ringe” und Brian Daleys “Han Solos Abenteuer”. Das beflügelte seine Fantasie und er begann nach Geschichten zu suchen, die keiner zu dieser Zeit schrieb. Also machte er es selbst.

1995 machte Butcher seinen Abschluss an der University of Oklahoma in den Fächern Englisch und kreatives Schreiben. Außerdem absolvierte er ein Journalismus-Studium. Laut Butcher wurde das Schreibprogramm dort von bereits etablierten Autoren unterrichtet. Deborah Chester, die in den Genres Science Fiction und Liebesromane schrieb, war dort seine Lehrerin und wurde schließlich zu seiner Mentorin. Während dieses Journalismus-Studiums schuf Butcher also Harry Dresden. Jahrelang hatte seine Mentorin versucht, ihm beizubringen, wie man ein professioneller Schriftsteller wird, aber Jim, der immerhin einen Abschluss in Englisch hatte, hörte ihr einfach nicht zu. Um ihr zu beweisen, dass ihre Ideen Mist sind, entschloss er sich allerdings dazu, all das zu tun, was sie ihm sagte. Und zu seiner Verblüffung hatte sie völlig recht gehabt.

Butcher schrieb das, was schließlich Storm Front, das erste Buch der Dresden Files, werden sollte, aber er hatte größere Pläne. Statt mit dem Entwurf des restlichen Buches, kam er mit einem Entwurf für eine zwanzigbändige Serie.

Das Publikum jedoch mochte die Idee einer langfristig angelegten Geschichte. Bei der Erschaffung von Dresden hat Butcher die klassischen Zauberer Merlin und Gandalf aus Herr der Ringe (LOTR) und Privatdetektive wie Sam Spade von Dashiell Hammett “zerhackt” und zu Harry Dresden “zusammengeschustert”. Auch Spider-Man hatte einen Einfluss. Tatsächlich schrieb Butcher 2006 den Spider-Man-Roman The Darkest Hours.

Ursprünglich wollte Butcher die Dresden Files in Kansas City spielen lassen, aber Chester riet ihm davon ab und sagte ihm, er würde damit Laurell K. Hamilton auf die Füße treten. Zur Erinnerung: Hamilton ist die Autorin der Anita-Blake-Serie, die bei uns leider im Bastei-Verlag erschien, ein Verlag, der dafür bekannt ist, Serien einfach mittendrin abzubrechen.

Die titelgebende Protagonistin ist Nekromantin und Vampirjägerin. Und auch diese Serie verbindet hartgesottene Krimis mit Elementen des Übernatürlichen; die Ähnlichkeit liegt zwar auf der Hand, aber Anita Blake ist mehr eine Erotik-Thriller-Serie als irgendetwas anderes, Vampire hin oder her.

Für Butcher kamen vier andere amerikanische Großstädte infrage. Da war einmal Washington DC. Allerdings wollte er Harry nicht dort spielen lassen, weil die Hauptstadt der Nation ein Synonym für Politik ist und wenn man über Politik schreibt, verliert man unweigerlich einen Teil seines Publikums.

Das nächste Ziel war New York City. Aber auch das schied aus, weil alle Redakteure in New York leben. Und dann war da noch Los Angeles. Das schied wiederum aus, weil alle Geschichten im Fernsehen und im Film dort spielen. Und dann war da noch Chicago, eine Gangsterstadt.

Laut Butcher stellte sich diese Wahl als großes Glück heraus, als er anfing, sich mit der Geschichte und der Folklore von Chicago zu beschäftigen, mit den Geistern, die Spukgeschichten, die Serienmörder und die großen Tragödien. Ganz offensichtlich war das die richtige Entscheidung, wie immer sie auch zustande gekommen sein mag.

14 ästhetisch herausragende Horrorfilme

Die Kameratechnik ist eines der wichtigsten Elemente eines Horrorfilms. Mit ihren wegweisenden technischen Innovationen, surrealen Bildern und der Kraft der Subjektivität veränderten diese 14 Meisterwerke den Lauf der Filmgestaltung – und das Horrorgenre für immer. Warum diese Filme einen ästhetischen Mehrwert bieten, ist nicht Teil dieses Artikels, für Ästheten aber nicht schwer zu verstehen.

1. Der Fuhrmann des Todes (Victor Sjöström, 1921)

Dieser schwedische Film hat alle nachfolgenden Regisseure stark beeinflusst – vor allem Ingmar Bergman, dessen Film Das siebte Siegel eine direkte Hommage an Der Fuhrmann des Todes darstellt, und Stanley Kubricks Shining, der zahlreiche thematische und visuelle Ähnlichkeiten (wie z.B. die berühmte Axt-Szene) aufweist. Um die Geschichte eines geisterhaften Kutschers zu erzählen, der nach Mitternacht die Seelen der Toten stiehlt, verwendeten Regisseur Victor Sjöström und DP Julius Jaenzon Doppelbelichtungen, damals ein hochinnovativer Spezialeffekt. Diese Doppelbelichtungen wurden bis zu viermal übereinander gelegt, was die Illusion erweckt, dass Geister durch die aufwändigen Sets des Films wandern. Jeder “Geist” wurde mit einem Filter unterschiedlich beleuchtet. Jaenzon folgte ihnen mit einer Handkamera, die in der Lage war, außergewöhnlich tief zu fokussieren – höchst ungewöhnlich für diese Zeit.

Der Film zeigt auch komplexe narrative Strukturelemente, wie Meta-Flashbacks (oder Rückblenden innerhalb von Rückblenden), die vom linearen Erzählen abweichen, und damit Vergangenheit und Gegenwart zu einer ätherischen Realität verschmelzen.

2. Das Kabinett des Dr. Caligari (Robert Wiene, 1920)

©Deutsches Institut für Filmkunde DIF

Das Kabinett von Dr. Caligari gilt als das Kernwerk des deutschen Expressionismus und ist die Geschichte eines gestörten Hypnotiseurs, der einen Schlafwandler dazu benutzt, Morde zu begehen. Der Kameramann Willy Hameister setzte mit schnörkellosen Kamerafahrten die aufwändigen, handgemalten Bühnenbilder des Films mit verdrehten Stadtlandschaften, spiralförmigen Straßen und alptraumhaften Formen in Szene. Die Sets wurden in verzerrten Perspektiven gestaltet – sie haben keinen einzigen rechten Winkel -, um eine desorientierte und verwirrende Welt zu schaffen. Vollständig in einem kleinen Studio aufgenommen, war jedes Bühnenbild auf 20 Meter in Breite und Tiefe begrenzt.

Neben der phantastischen Nutzung des Bühnenbildes hat Robert Wienes Film eine große historische Bedeutung; Dr. Caligari repräsentiert das brutale deutsche Kriegsregime, während der Schlafwandler für den einfachen Mann eintritt, der sich vor einer mörderischen Autorität zu hüten versucht.

3. Nosferatu (F. W. Murnau, 1922)

Nosferatu ist nicht nur ein bahnbrechender Horrorfilm, sondern auch einer der einflussreichsten Filme der Stummfilmzeit – und einer der ersten großen Rechtsfälle geistigen Eigentums. Da der Film auf Bram Stokers Dracula-Roman basiert (obwohl sich Charakternamen, Einstellung und Plotdetails geändert hatten), reichten Stokers Nachlassverwalter Klage wegen Urheberrechtsverletzung ein. Das Gericht kam zu dem Schluss, dass Nosferatu tatsächlich ein abgeleitetes Werk sei und ordnete an, alle Kopien des Films zu vernichten, aber die Kopien waren bereits weltweit verbreitet worden; Nosferatu wurde anschließend durch eine massive Anhängergerschaft wiederbelebt.

©Transit-Film GmbH

Im Gegensatz zu den expressionistischen Techniken, die im Kabinett des Dr. Caligari durch Studiobeleuchtung und aufwändige Bühnenbilder angewandt wurden, drehte man Nosferatu fast ausschließlich vor Ort; die natürliche Umgebung des Schlosses, der Landschaften und der Stadt wurde mit verfremdeter Beleuchtung kontrastiert. Der Kameramann Fritz Arno Wagner führte einige neue Kameratricks wie die innere Montage ein – einige Aufnahmen wurden im Negativ-Modus entwickelt, während andere Szenen unterbelichtet wurden, und wieder andere nutzten die Stop-Motion-Fotografie, wie in der berühmtesten Aufnahme des Films, in der Graf Orlock aus einem Sarg springt.

“Nosferatu von F.W. Murnau zu sehen”, schrieb der Filmkritiker Roger Ebert 1997, “bedeutet, den Vampirfilm zu sehen, bevor er sich seiner selbst überhaupt bewusst wurde …. der Film zeigt die Ehrfurcht vor seinem Material. Er scheint wirklich an Vampire zu glauben.”

4. Vampyr (Carl Theodor Dreyer, 1932)

©Star Film GmbH

Mit viel Dunst und wallendem Nebel geschmückt, hinterlässt Carl Theodor Dreyers hypnotischer Film Vampyr ein überwältigendes Gefühl der Beklemmung. Der verwaschene Weichzeichner von Rudolph Matés Kamera unterstreicht die eindrucksvollen Bilder, die alle im Morgengrauen aufgenommen wurden. Aber die größte ästhetische Leistung in diesem Film geschah durch Zufall. Zu Beginn der Produktion, als Dreyer zum ersten Mal die Einstellungen einer Szene sichtete, bemerkte er einen grauen Glanz bei einer der Aufnahmen. Bei weiteren Untersuchungen stellten er und Maté fest, dass ein falsches Licht auf das Objektiv projiziert worden war. Sie mochten den Look so sehr, dass sie dieses Licht bewusst nachahmten, indem sie einen Scheinwerfer so einstellten, dass er gemeinsam mit einem Schwarzlicht auf die Linse einwirkte.

5. Psycho (Alfred Hitchcock, 1960)

©Paramount Pictures

Hitchcocks berühmte Duschszene war so kompliziert zu drehen, dass 78 Kameraeinstellungen und sieben Tage für die Ausführung erforderlich waren. Das Badezimmer wurde aus zusammenklappbaren Wänden gebaut, um die nutzbaren Kamerawinkel zu maximieren; im letzten Schnitt erzeugen 90 Schnitte in Sekundenbruchteilen aus verschiedenen Winkeln den nervtötenden Effekt in dieser Szene. Der Kameramann John L. Russell verwendete einen schnellen Rückwärtslauf, um den Eindruck zu erwecken, dass das Messer in Lilas Bauch drang. Er nutzte im gesamten Film auch eine Vielzahl von subjektiven Nahaufnahmen, wie z.B. Lilas Hand, die eine Tür öffnet, um das Gefühl unmittelbarer Gefahr zu verstärken.

6. Kwaidan (Masaki Kobayashi, 1964)

©Columbus

Kwaidan, was übersetzt “Geistergeschichten” bedeutet, ist ein Kompendium von vier klassischen japanischen Geistergeschichten, die mehr wie ein Fiebertraum wirken als wie ein Horrorfilm. Regisseur Masaki Kobayashi und Kameramann Yoshio Miyajima verpassten jeder Geschichte ein eigenes handgemaltes und aufwändig gestaltetes Bühnenbild, um die wechselnde Stimmung und den narrativen Bogen jeder Aufnahme widerzuspiegeln. In einem Flugzeughangar gebaut (der einzige Raum, der groß genug war, um alles unterzubringen), sind die Bühnenbilder selbst Werke der expressionistischen Kunst. Kobayashis Akribie zeigt sich in jedem Detail. In Verbindung mit Miyajimas kreativen Beleuchtungstechniken (wie z.B. Hintergrundbeleuchtungen aller Farben) erscheint der Film wie eine unheimliche alternative Realität.

7. Ekel (Roman Polanski, 1965)

©Alive Vertrieb und Marketing

Roman Polanskis Horror-Meisterwerk wurde mit einem Budget von 300.000 Dollar gedreht. Begeistert von der Aussicht, die Ästhetik von seinem Erstling Das Messer im Wasser verbessern zu können, von dem er der Meinung war, dass er “absolut schrecklich aussah …. wischi-waschi, ohne echte Schwarzfärbung”, lehnte der Kameramann Gilbert Taylor sogar einen Bond-Film ab, um Polanskis Zweitfilm zu drehen.

Ekel ist in der Tat durch extrem kontrastreiches Schwarz-Weiß gekennzeichnet. Der Film nimmt zunehmend die Perspektive seiner gestörten Protagonistin ein; als sie einen massiven psychotischen Einbruch erleidet, wechselt Taylor die Kamera. Er drehte den Großteil des Films mit einer tragbaren Arriflex mit einer sehr weiten Linse und: “einer winzigen Tabakdose auf der Vorderseite, die mit einer kleinen Glühbirne ausgestattet war, um ein wenig Leuchtkraft hinzuzufügen – gerade genug, um Catherine Deneuves Haut im Schatten zu sehen, bevor ich alles in einer Nahaufnahme auflöste”. Polanski erinnert sich, dass Taylor hauptsächlich reflektiertes Licht verwendete, das von der Decke oder den Wänden abprallte, ohne einen Lichtmesser in Anspruch zu nehmen.

8. Blutgericht in Texas (Tobe Hooper, 1974)

©Drop-Out Cinema eG

Eine weitere bemerkenswerte Low-Budget-Sensation. The Texas Chain Saw Massacre wurde mit 300.000 Dollar und größtenteils unbekannten Schauspielern aus dem Großraum von Texas gedreht, wo er auch spielt. Der Kameramann Daniel Pearl verwendete dabei einen feinkörnigen Film, der viermal mehr Licht benötigte als moderne Digitalkameras, und drehte mit niedriger Geschwindigkeit. Die letzte Aufnahme des Films, in der Leatherface seine Motorsäge im ersten Morgenlicht mit urwüchsiger Wut schwingt, ist zu einer der ikonischsten Momente der Kinogeschichte geworden.

9. Shining (Stanley Kubrick, 1980)

©Warner Bros.

John Alcotts Kamera betont Isolation und Paranoia durch beunruhigend kalte, symmetrische Bilder. Das ist durchweg atemberaubend, aber in die Geschichte der Kameratechnik ging der Film augrund des innovativen Einsatzes von Garrett Browns Steadicam ein, für den Kubrick Brown selbst engagiert hatte. Brown fuhr in einem Rollstuhl, um Dannys Blickwinkel einzufangen, als der auf einem Dreirad durch die Hallen des Overlook Hotels fuhr, und verfeinerte seine Einstellungen durch permanente Wiederholung. Die Technik wurde vor allem für die Szene im Heckenlabyrinth verwendet, für die er eine Vielzahl von Spezialhalterungen baute.

10. Suspiria (Dario Argento, 1977)

©Gloria

Dario Argentos surrealer Giallo-Film, der vor allem für seine Verwendung von satten Farben mit psychedelischem Effekt bekannt ist, spielt sich wie ein gewalttätiger Neonalptraum ab. “Ein[Horror-]Film bringt einige unserer Urängste ans Tageslicht, die wir tief in uns verbergen”, sagte der Kameramann Luciano Tovoli, “und Suspiria hätte nicht die gleiche kathartische Funktion gehabt, wenn ich die Fülle und tröstende Süße des Vollfarbenspektrums genutzt hätte.” (Er hatte jede Grundfarbe mit Gelb “verunreinigt”.)

Argento bat Tovoli mit einem veralteten IB-Bestand von Kodak mit einer hohen Gelschicht bei 30/40 ASA zu filmen. Um die Schauspieler zu beleuchten, benutzte Tovoli eine große Bogenleuchte und platzierte Gestelle mit Tissue- und Velourspapier sehr nah an den Gesichtern der Schauspieler. Um die aufwändigen Sets und Orte zu beleuchten, reflektierte er Licht durch einen Spiegel. Das machte die Bilder schärfer, als wenn sie direkt beleuchtet würden.

Nachdem der Film fertig gedreht war, gab Argento den Negativabzug an Technicolor weiter, die das Farbnegativ dann in drei getrennte Schwarzweißfarben aufteilten: eines für Rot, eines für Blau und eines für Grün. Die Entwicklung einer Farbe auf einer anderen gab dem Film einen schimmernden Look mit lebendiger Farbdefinition, der den Druck auf Emulsionsbasis bei weitem übertraf.

11. Halloween (John Carpenter, 1978)

©Warner-Columbia

Um eine der gruseligsten Eröffnungsszenen aller Zeiten zu schaffen, nutzten John Carpenter und der Kameramann Dean Cundey die Chance auf die zu dieser Zeit neueste Technologie: die Steadicam. Die Vorrichtung, die dann Panaglide genannt wurde, ermöglichte es, die Kamera an den Kameramann zu montieren, um weitreichende und ununterbrochene Aufnahmen zu gewährleisten. Die Eröffnungsszene, die von drei Seiten als eine einzige flüssige Aufnahme gefilmt wurde, musste aufgrund des Budgetmangels an einem Drehtag fertig werden.

“Wir hätten es ohne die Steadicam nicht geschafft”, sagte Cundey. “Es gab kein anderes Gerät, das in der Lage gewesen wäre, damit über die Straße zu gehen, ins Haus zu schauen, die Küche zu betreten, die Treppe hoch, in ein Schlafzimmer und wieder runter.”

Die markante POV-Aufnahme aus der Halloween-Maske des Killers heraus wurde in der Postproduktion optisch ergänzt. Der eingeschränkte Blick schafft die unerträgliche Spannung dieser Szene.

12. Blair Witch Project (Daniel Myrick und Eduardo Sánchez, 1999)

©Arthaus

Obwohl Nackt und zerfleischt technisch gesehen der erste Film war, der die Found Footage-Technik einsetzte, baute das Blair Witch Projekt diese Grundlage in einem erschreckenden Ausmaß aus. Der Co-Regisseur und Kameramann Neal Fredericks, der im Alter von 35 Jahren bei einem Flugzeugabsturz tragisch ums Leben kam, entschied sich für Found Footage, weil diese Technik der pseudodokumentarischen Erzählung des Films am besten diente und eine radikale Erste-Person-Perspektive ermöglichte. Die Kameraführung ist wackelig und komplett handgehalten; oft schauen die Schauspieler direkt in die Kamera. Obwohl die Dreharbeiten nur acht Tage dauerten, brauchte der Film mehr als acht Monate bis zum Schnitt. Mit einem Budget gegen Null, spielter er schließlich mehr als 250 Millionen Dollar ein, und ist somit einer der größten Independent-Kassenerfolge aller Zeiten.

13. Silent House (Laura Lau, Chris Kentis, 2011)

Silent House wurde in einer scheinbar einzigen Aufnahme gedreht und ist eigentlich das Produkt von 12-minütigen Sequenzen, die in der Postproduktion zusammengefügt wurden. Die Aufnahmen waren auf 12 Minuten begrenzt, da sich das Team für die Canon EOS 5D Mark II entschied, die ein 12-minütiges Dateiaufzeichnungslimit hat. Aber das “In-einem-Take-Gimmick”, inspiriert von Hitchcocks 1948er Cocktail für eine Leiche, ist praktisch nahtlos.

Die Co-Regisseure und Kameramann Igor Martinovic perfektionierten die Illusion, indem sie zwei Wochen lang in dem verlassenen Haus probten, das sie nur mit Taschenlampen, Laternen und Kerzen beleuchteten.

“Das Konzept hier war, die Kamera in einen so subjektiven Winkel wie möglich zu bringen, um wirklich in die Perspektive der Hauptfigur zu kommen”, sagte Martinovic. “Als wir den Film drehten, war die 5D Mark II die einzige Kamera, die uns das geben konnte, was wir brauchten. Sie ist sehr klein, hochwertig, erschwinglich, und wir konnten sie auf engstem Raum platzieren, uns leicht damit bewegen, sie bei Bedarf von einem Bediener auf einen anderen übertragen – sie gab uns die nötige Flexibilität.”

14. Under the Skin (Jonathan Glazer, 2013)

©Senator

Vieles von Under the Skin wurde mit einer versteckten Kamera namens OneCam aufgenommen, die Jonathan Glazer speziell für den Film gebaut hatte. “Wir brauchten eine Kamera, die klein genug war, um sie zu verstecken”, sagte Glazer, “aber sie sollte eine gute Qualität haben. Sie existierte nicht, also haben wir sie gebaut.” Tatsächlich ließen Glazer und der Kameramann Daniel Landin insgesamt 10 Kameras bauen; manchmal benutzten sie zwei, manchmal sogar alle 10.

Die OneCam ist ein CCD in Streichholzschachtelgröße, auf die 16mm-Objektive aufgebracht werden konnten. “Wir haben einen Großteil des Films so gedreht, dass wir die Kameras in das Armaturenbrett ihres Autos einbauen oder in Straßeneinrichtungen verstecken konnten, um sie beim Gehen auf der Straße zu beobachten und die Öffentlichkeit nicht darüber informieren zu müssen, dass überhaupt Filmaufnahmen gemacht wurden”, fuhr Glazer fort. “Ein Großteil des Films wurde heimlich so gedreht.”

Der Seidenspinner

Robert Galbraith: Der Seidenspinner (Cormoran Strike #2)

Es ist fast unumgänglich, dass nahezu jede Besprechung von Rowlings großartiger Krimireihe, die 2013 mit Der Ruf des Kuckucks ihren mehr als soliden Start markierte, mit Hinweisen auf Harry Potter gespickt ist. Es ist fast zu schade, dass ihr Pseudonym Robert Galbraith so früh schon gelüftet wurde, die Rezensionen sähen anders aus. Und wie man sieht, komme auch ich nicht umhin, ihre berühmten Kinder- und Jugendbücher zu erwähnen.

Dass Rowling eine herausragende Autorin ist, kann nur ein Dummkopf bestreiten. Dass sie einen soliden Krimi schreiben kann, war deshalb keine große Überraschung.

Im ersten Roman folgten wir Cormoran und seiner neuen Sekretärin Robin Ellacott, wie sie den mysteriösen Tod des Models Lula Landry aufklärten. Strike litt noch unter der Trennung von seiner verlobten Charlotte und sein Detektivgeschäft ging gerade den Bach runter. Im “Seidenspinner” geht es aufwärts: Das Geschäft boomt, es gibt jede Menge Kunden, und Cormoran kann es sich sogar leisten, nicht mehr in seinem Büro wohnen zu müssen.

In “Der Seidenspinner” begibt sich die Autorin auf ein Terrain, das dunkler und verstörender ist als dieser – bereits gelungene – Auftakt. Rowling hat nicht lange gebraucht, um sich in diesem Genre nicht nur umzusehen, sondern auch gleich ein Spitzenwerk abzuliefern, das viele ihrer langjährigen Kollegen auf die Plätze verweist.

Strike wird hier von der Frau des verschwundenen Autors Owen Quine (Kwein) engagiert, um ihn zu finden und er nimmt an, obwohl er weiß, dass es sich womöglich nicht auszahlen wird.

Quine verschwand, als er die Nachricht erhielt, dass sein neuestes Manuskript nicht veröffentlicht werden kann, weil er dort verschiedene Berühmtheiten aus der Welt der Literatur in bösartiger Weise porträtierte. Was folgt, ist ein sadistischer Mordfall, und damit sind Cormoran und Robin gezwungen, sich ihren Weg durch den trüben Sumpf der Verlagsbranche zu bahnen, während im ersten Band die Paparazzi ihr Fett weg bekamen. Rowlings Lebenserfahrung ist also nicht zu übersehen. Sowohl “Der Ruf des Kuckucks” als auch “Der Seidenspinner” dekonstruieren die Vorstellungen von Erfolg, Ruhm und einem Leben im Rampenlicht.

Als Cormoran im Zeitschriftenregal nach einer Ausgabe des Tatler sucht, in dem seine Ex-Verlobte abgebildet ist, entdeckt er Emma Watson auf dem Titelblatt der Vogue – ein echter Agatha-Christie-Witz.

Im ersten Band wurde sehr eindringlich beschrieben, wie er in einer Limousine sitzt und von Paparazzi verfolgt wird. Diesmal gibt es einige besondere Seitenhiebe auf die zweifelhaften Literaturwelt.

Ein Autor erklärt Strike: “Wer lebenslange Freundschaft und selbstlose Kameraderie sucht, sollte zur Armee gehen und das Töten lernen. Wer sich ein Leben voller temporärer Allianzen mit Kollegen wünscht, die sich im Versagen des anderen sonnen, muss Romane schreiben”. Es ist unmöglich, hier nicht Rowlings ganz persönliche Erfahrung herauszulesen. Und es ist leicht zu verstehen, warum sie sich dafür entschied, unter einem Pseudonym zu veröffentlichen: Sie wollte wegen ihrer schriftstellerischen Arbeit und nicht wegen ihrer Berühmtheit wahrgenommen werden. Während die hochnäsigeren Schichten der literarischen Welt sie vielleicht belächeln, weil sie im Grunde nicht so viel von Literatur verstehen wie sie vorgeben, zeigt sie dem echten Verständigen einmal mehr, welch überragende Gabe zur Beschreibung sie hat.

Rowling hat es sich bei der Entwicklung ihres Privatdetektivs nicht einfach gemacht, weil es diese Art vom Ermittler heute nicht mehr gibt. Ein Privatdetektiv hat kaum die Möglichkeit, in einem Mordfall zu ermitteln und man muss sich schon etwas einfallen lassen, um ein glaubhaftes Szenario zu entwerfen, bei dem das gelingen kann. Nicht, dass mich das in irgendeiner Weise interessieren würde, aber Rowling gelingt es, Strikes Fälle legitim darzustellen. Dabei hat sie mit Cormoran Strike auch noch einen höchst interessanten Detektiv entworfen. Er ist als uneheliches Kind eines alternden Rockstars sogar selbst eine kleine Berühmtheit und schafft es unter all den zahlreichen Ermittlern, die es mittlerweile gibt, zu den besten ihrer Zunft aufzusteigen.

Die Beziehung zwischen Cormoran und Robin entwickelt sich hier auf interessante Weise, und einer der Haupthandlungsstränge hier betrifft die Ausweitung ihrer bisherigen Rolle. Robins Beziehung zu ihrem langjährigen Verlobten Matthew steht weiterhin unter seinem rigorosen Unmut, dass seine baldige Frau, die als Sekretärin anderswo bei weitem mehr Geld verdienen könnte, für einen – für ihn – windigen Detektiv arbeiten will.

Strike weist in einer seiner Überlegungen den Leser darauf hin, dass die Bedingung dafür, dass Robin mit ihrem Verlobten zusammenbleibt, darin besteht, dass sie “nicht sie selbst ist”, und es gibt eine allgemeinere Betrachtung über die Schwierigkeiten, sich von einer langjährigen Liebe zu trennen.

Es gibt eine ganze Reihe dysfunktionaler Paare in “Der Seidenspinner”, von den trunksüchtigen Waldegraves über die kaltblütige Arroganz der Fancourts, der repressiven Chards bis hin zu den überaus seltsamen Quines. Leonora Quine ist eine wunderbar gezeichnete Figur: verkorkst und mürrisch, nur mit ihrer Tochter beschäftigt und ziemlich desinteressiert an ihrem Mann. Sie las seine Bücher nur, sobald sie einen ordentlichen Einband hatten, und sie weigert sich hartnäckig, von der Entwicklung der Ereignisse schockiert zu sein. In beiden Teilen von Cormoran Strikes Abenteuern ging es mehr um die Beziehungen zwischen den Figuren als um das Endziel, und in der Tat scheint der wahrhaftigste Bösewicht von allen Cormorans ehemalige Verlobte Charlotte zu sein, die so etwas wie die Irene Adler für Holmes ist. Dabei wird sie zwar andauernd erwähnt, ist aber noch nicht wirklich in Erscheinung getreten.

Wie geschickt Rowling darin ist, die Entwicklung ihrer Figuren zusammen mit einem interessanten Fall zu präsentieren, und nicht nur nebeneinander, zeigt sie hier mit einer Grandezza, die eigentlich alle Kritiker zum Verstummen bringen müsste. Wie wir wissen, ist das natürlich nicht der Fall. Mindere Geister werden ihr ihren Erfolg weiterhin neiden.

Horror

Wird es mich erschrecken?

Dieser Artikel ist Teil 2 von 24 der Reihe Was ist Horror

Das scheint die Gretchenfrage in Sachen Horror zu sein. Wenn du dir den neuesten Film über Geister oder Serienkiller angesehen hast, einen weiteren Horror-Roman gelesen hast, oder eine gruselige Geschichte irgendwo im Netz gefunden hast, ist das die erste Frage, mit der du möglicherweise konfrontiert wirst. In diesem ewigen Kampf, die Bedeutung dieses riesigen und oft widersprüchlichen Feldes namens Horror zu finden, werden wohl die meisten Schriftsteller “Es soll dich erschrecken” als Arbeitsformel ausgeben.

Vor noch gar nicht so langer Zeit stritten sich Fans und Kritiker darüber, ob oder ob nicht Guillermo del Toros Huldigung an das Gothic-Romance-Genre Crimson Peak als Horrorfilm durchgehen sollte. Die Hauptmeinungen gehen dahin, dass der Film nicht besonders unheimlich ist, stattdessen aber verzweifelt versucht, unheimlich zu wirken. Das bringt uns zum Thema zurück, zur Idee nämlich, dass all das, was Horror vielleicht sonst noch sein mag, er versuchen sollte, dich zu erschrecken. Daran wird er sich wohl messen lassen müssen: ob es im gelingt, und wenn ja, wie gut er da macht.

Selbst wenn wir akzeptieren, dass die Definition von Horror die ist, zu erschrecken, gibt es eine Menge unterschiedliche Arten der Furcht und verschiedene Möglichkeiten, Angst zu haben. Wenn jemand fragt, ob etwas erschreckend ist, ist das Thema meist der übliche “Jump-Scare”, der in den meisten populären Hollywood-Horror-Produktionen angewandt wird, wo plötzlich jemand aus dem Gebüsch springt und “Buh!” ruft. Aber auch wenn das die offensichtlichste Variante des Erschreckens ist, ist das bestimmt nicht die einzige.  Es gibt wesentlich intelligentere Ängste, die in der Literatur und im Film vorkommen, angefangen vom kosmischen Nihilismus eines Lovecraft, Ligotti, und Barron bis hin zum “gefälligen Terror” eines M.R. James und E.F. Benson. Filme wie John Carpenters Das Ding kombinieren den körperlichen Horror mit der Paranoia einer existentiellen Angst. Selbst Crimson Peak, wenn auch nicht besonders erschreckend, trägt eine schwere Fracht aus Zwangsläufigkeit und Verfall.

Die extreme Schwierigkeit, die jeden Versuch, den Horror zu definieren, begleitet, ist genau auch der Grund, warum er so gut funktioniert, und ein Argument, warum wir ihn lieben. Horror gedeiht an den Rändern von jedem anderen Genre, dort, wo auf der Karte steht: Unbekanntes Gebiet. Das ist der Grund, warum Gremlins nicht in der selben Liga wie Texas Chainsaw Massacre spielt, aber dennoch dorthin verweist. Horror bedeutet Unterschiedliches für unterschiedliche Leute, jeder hat seine eigenen Interessen und Obsessionen, seine eigenen Schwächen und Vorlieben. Für die einen ist Horror die Frage, wie sie sich erschrecken werden und wie gut es den Machern gelingt, während für andere Horror eine Reihe von Maßstäben und Traditionen ist, etwas, das unsere Fantasie auf die Sprünge hilft, und wo die Rechnung nicht immer aufgeht.

Den Horror jedoch auf all das herunterzubrechen, was uns ängstigt, würde uns jedoch einige der besten Arbeiten des Genres vorenthalten. Horror ist nämlich vieles mehr, unter anderem Schönheit, Unbegreiflichkeit, Humor und Hoffnung – das Erschrecken ist nur ein Trick, der aus dem Ärmel geschüttelt wird.

Als ich damit begann, Geschichten zu veröffentlichen, haderte ich mit dem Begriff “Horror-Schriftsteller”, vor allem, weil ich diese Geschichten nicht geschrieben hatte, um andere Leute zu erschrecken. Allenfalls strebte ich einen angenehmen Schauder an, wie man ihn etwa bei M.R. James finden kann, diese kleine kalte Raupe, die dir über den Rücken krabbelt. Meistens bin ich an den Metaphern und der Atmosphäre des Horrors interessiert, dem Phänomen des Übersinnlichen oder des Unheimlichen. Beängstigend zu sein ist weniger mein Ding. Also rückte ich davon ab, mich selbst als Horror-Schriftsteller zu betrachten, obwohl Horror das Genre ist, das ich am meisten liebe, und das ich am häufigsten lese.

Ich mag alle Spielarten des Horrors, aber einige meiner Favoriten sind Vintage-Horrorfilme. Diese knarrenden Streifen aus den 30ern und 40ern, die Monster von Universal, den Gothic Horror der Hammer-Studios, die Arbeiten von William Castle, die Panikfilme der 50er, Roger Corman und Vincent Price, die mit ihren losen Adaptionen Poe auf lebendiges Technicolor bannten. Sind das gute Filme? Absolut! Sind sie erschreckend? Nun, vielleicht nicht für uns in der Gegenwart, nicht mehr. Müssen sie das sein? Verdammt, nein!

Wenn ich schreibe oder anderweitig Horror konsumiere, halte ich Ausschau nach etwas, das “Türen zu Licht und Schatten aufstößt, und uns etwas entdecken lässt, das sonst im Verborgenen bliebe”, wie es Joe R. Lansdale einmal auf den Punkt brachte. Das ist der Grund, warum ich über Monster und Geister schreibe, über Dinge, die vielleicht gar nicht existieren.

Dinge, die mich wirklich erschrecken, interessieren mich nicht wirklich. Sie sind banal, langweilig, und alltäglich. Denn wie die meisten Leute habe ich Versagensängste, Angst vor finanzieller Not, davor, krank zu werden, meine Lieben zu verlieren. Es gibt wirklich schreckliche Dinge im Leben, die dein Herz nicht im Hals schlagen lassen; sie drücken nur deine Stimmung nach unten, Tag für Tag. Sie begraben dich unter Steinen, immer einen nach dem anderen. Einer davon wäre nichts, aber alle zusammen  drücken dir die Luft aus der Lunge, so dass jeder Atemzug zur puren Qual wird. Das sind die Dinge, die mich erschrecken, aber ich bin mir verdammt sicher, dass ich darüber nicht schreiben will. Ich schreibe lieber über Monster.

Alles Geisterhafte war mir von Anfang an vertraut

Dieser Artikel ist Teil 4 von 54 der Reihe Gespenstersuite

Sobald man das Verschwinden zum ersten Mal beobachtet hat, weiß man einiges von der Welt. Doch wirklich reizvoll wird es erst dann, wenn die Erinnerung einsetzt und ihre Kapriolen dreht. Wenn man nicht einmal sicher sagen kann, was man eigentlich gesehen hat, ist es nahezu unmöglich, die Vergangenheit lückenlos und in richtiger Reihenfolge heraufzubeschwören. Das sind die wahren Gespenster, und die Vergangenheit ist das wirkliche Jenseits. Besessen von der Idee zurückzukehren, ging ich die Wege rückwärts. Sie wurden verbraucht und lange nicht mehr benutzt, denn eines muss man wissen: Alle Wege werden geteilt und nur die Anordnung aller Gassen, die man halbblind durchstieß, ergeben schließlich den eigenen Weg. Die meisten vergisst man und so lässt sich niemals auf das Ganze schließen.

Alles Geisterhafte ist mir von Anfang an vertraut. Kein Ort, an dem ich jemals war, der nicht von einem Spuk heimgesucht worden wäre, auch wenn ich längst und viele Jahre schon mein eigener Dämon bin. Doch es könnte sein, dass Geister auch mit der Jugend verschwinden; sie verschwinden vor allem dann, wenn man sie nicht mehr sucht, weil man ein Teil von ihnen geworden ist. Dadurch kehrt eine äußerliche Ruhe ein.

Im Gefüge herumkratzen. Es ist wie einen Körper betrachten. Es hat einen Grund, warum wir ausgerechnet diese Gestalt haben und keine andere. Wir sind immer und zu jeder Zeit, wer wir sein wollen. Und das Schöne ist: Nichts existiert wirklich, alles wird nur von Gedanken aufrecht erhalten, von unseren Beschreibungen und Erzählungen. Die aber wirken, weben also Welt.

Es ist schon wahr: ich wusste nie, wer ich war; vor allem deshalb nicht, weil jemand zu sein abhängst von einer Illusion, die man in anderen implementieren kann. Wir lernen also, jemand zu sein, indem wir jemand für andere sind. Doch das haben wir nicht in der Hand. Irgendwann konnte ich mir unter all den Modellen, die es von mir gab, das aussuchen, zu dem es mich am meisten hinzog. Doch es gab keines, mit dem ich mich identifizieren konnte. Mein eigenes Modell war dabei ebenso falsch wie das all jener, die sich große Mühe mit einem Abbild von mir gaben. Wir scheiterten alle.

Als ich noch zur Schule ging, wunderte ich mich bereits über die Welt, die daraus bestand, die Frage nach dem Alter zu beantworten. Wusste man das, war das Sternzeichen dran. Natürlich wäre es unsinnig anzunehmen, man bekäme als dreijähriger die Frage nach dem Jenseits gestellt. Kannst du dich daran erinnern, wie es war, bevor du geboren wurdest? Die Antwort wäre ohnehin nein gewesen, denke ich mir jetzt. Aber was wäre gewesen, wenn man sie mir damals gestellt hätte? Hätte ich etwas dazu sagen können? Weißt du, wo du dich befindest? Ich wusste nur, dass alles verschwimmt, wenn man es zu lange anstarrt. Ich wusste, dass ich wie in einem bierseligen Rausch umher lief, ohne wirklich besoffen zu sein. Ich träumte, wie ich lebte, da gab es keinen nennenswerten Unterschied. Ich lag im Bett, schloss die Augen und war immer noch draußen vor dem Haus. Die einzige Ausnahme war vielleicht, dass ich im Traum schwerelos war und herumfliegen konnte. Es war mir ein leichtes, über die Telefonleitungen zu hüpfen. Das ging soweit, dass ich bei Tag Angst bekam, wie ein Ballon aufzusteigen und nicht mehr nach unten zu kommen. Träumen oder Wachen waren tatsächlich dasselbe, aber wenigstens hatte ich bei Tag etwas Gewicht. Selbst wenn ich nur ein Kilo gewogen hätte, sagte ich mir, bliebe ich unten, denn ein Milchbeutel schwebt auch nicht einfach davon. Aber davon wollten die Leute nichts wissen, sie fragten mich nur, wie alt ich sei und warum mich meine Eltern nicht zum Friseur schleppten. Nun, es waren die 70er, da gab es keine Friseure.

Samanta Schweblin: Sieben leere Häuser

Im Grunde ist die ganze phantastische Literatur geprägt von der kurzen Form. Hier sind die eigentlichen Meisterwerke zu finden. Viele Literaturkritiker weltweit sind davon überzeugt, dass Samanta Schweblin zu diesen Meistern gehört. Man hat die Autorin bereits in eine Reihe mit Borges und Cortázar gestellt, hat David Lynch bemüht und – fast schon konsequent – Kafka. Sicher, diese ganzen Aussagen werden vom Feuilleton getroffen und entsprechen selten der Realität (was jedem klar sein muss); man möchte den Verlagen in erster Linie Futter für ihren Umschlagtext liefern, aber auf ein paar dieser kanonischen Meister hat Schweblin als Einfluss selbst hingewiesen.

Meiner Ansicht nach wäre es dennoch besser gewesen, Schweblins eigenen Ton herauszustellen, ihre Eigenheit, ihr Können, tatsächlich ihre Meisterschaft. Ihren Charakteren passieren Dinge, gegen die sie nichts tun können. Sie verstehen nicht, was um sie herum vor sich geht oder wie sie aus dieser Situation herauskommen, in der sie sich befinden, denn es gelingt ihnen fast nie. Schweblin zeigt in der Tat einen gewissen Pessimismus auf, was unsere Fähigkeit betrifft, unser eigenes Leben zu kontrollieren. Vielleicht ist das gemeint. Das und die präzise und klare Struktur ihrer Texte, die völlig ohne Verzierungen daherkommen. Was Schweblin wirklich tut, ist, das Seltsame und Unheimliche an menschlichen Beziehungen herauszuarbeiten. Hören wir uns an, was die Autorin selbst darüber zu sagen hat:

Ich denke, eine Geschichte beginnt immer mit etwas wirklich Ungewöhnlichem. Normalität ist eine große Lüge, eine der schmerzhaftesten Lügen, mit denen wir konfrontiert werden. Wir versuchen Tag für Tag, normal zu sein, aber Normalität ist eine Illusion. Es gibt eine Kluft zwischen zwei Menschen, aber niemanden, der diesen Raum einnimmt. Er ist leer. Wenn man eine Beziehung zu den Menschen um sich herum aufnimmt, dann entsteht diese Verbindung nicht aufgrund der guten Momente. Man baut diese Verbindung über Trauer und Vergebung auf, über die Akzeptanz, dass der andere wirklich anders ist als man selbst. Die Idee der Normalität trennt uns. (Schweblin im Pen Transmissions Magazine)

Sieben leere Häuser

In den Geschichten ihres dritten Buches gibt es hinter der angespannten und leicht melancholischen Atmosphäre, den Charakteren, die durch Räume wandern (in Vororten, Städten, Hintergärten von Häusern, Wohnungen, U-Bahnen, Krankenhäusern, Aufzügen), ein größeres Narrativ, das langsam konfiguriert, was einst als Kosmovision bezeichnet wurde und was wir heute etwas zurückhaltender als Ahnung oder Impuls identifizieren können: In Schweblins Geschichten kann alles passieren.

Samanta Schweblin hat eine klassische Vorstellung des Geschichtenerzählens. Sie hat in mehreren Interviews gesagt, dass sie bei ihrem Ausgangspunkt an Intensität oder gar Angst und Unerbittlichkeit denkt. Es gäbe eine Art Zaubertrick in der Gattung der Kurzgeschichte. Diese Vorstellung korrespondiert nicht nur mit den kanonischen Traditionen der Meister des phantastischen Genres, sondern auch mit der Theorie über die literarische Form, die Edgar Allan Poe mit seinem Urteil über den Effekt der Kurzgeschichte mit fast mathematischer Präzision aufgezeigt hat. Schweblin hat auf ihre Einflüsse hingewiesen: Franz Kafka, Ray Bradbury, Cortázar. Sie nimmt den narrativen Ton Kafkas, der mit völliger Natürlichkeit etwas erzählt, das schmutzig, schrecklich, oder einfach nur traurig sein mag; sie bewundert den unbändigen Optimismus Bradburys; und wie Cortázar betont sie die unaufhörliche Suche nach neuen Wegen des Erzählens.

Das krönende Beispiel für diese Einstellung zur Kurzgeschichte in dieser Sammlung ist “Ein Mann ohne Glück”. Die Erzählung wurde 2012 mit dem Juan-Rulfo-Preis ausgezeichnet und ist ein kristallklares Modell seiner Art. In ihr findet man Spannung und Geheimnis, spielerischen Geist und strukturelle Strenge, Wahrhaftigkeit, Seltsamkeit und ein vollendetes Ende, mit einem kleinen Mädchen, das ein Stück Papier schluckt, auf das ihr mysteriöser Begleiter seinen geheimen Namen geschrieben hat, den sie schweigend wiederholt, damit “sie ihn nie vergessen würde”.

In der Geschichte dieses kleinen Mädchens und eines Mannes, die sich zufällig in einem Wartezimmer eines Krankenhauses treffen, und er ihr am Ende ein neues Paar Unterhosen kauft, weil sie Geburtstag hat – und aus vielerlei anderen Gründen – steckt all das, was Schweblin als Schriftstellerin interessiert: Missverständnisse, unterschiedlich einsame Menschen, die sich in ihrer Entfremdung begegnen, Familiengeschichten und Hysterien, kleine Übertretungen, etwas exzentrische Charaktere, die Liebe zum Detail in Bezug auf die schwarzen Unterhosen, die sie stehlen. Die Geschichte ist in ihrer Zirkularität fast zu perfekt und wurde in die Originalfassung des Buches nicht aufgenommen, weil es keine Geschichte mit einem Haus ist. Allerdings wurde Schweblin gebeten, sie aufzunehmen, weil sie damit zwei Preise gewonnen hatte.

Die zweite Geschichte des Bandes, “Meine Eltern und meine Kinder” behandelt ein ziemlich merkwürdiges Ereignis. Erzähler und Protagonist ist hier Javier, der die Ereignisse so wiedergibt, als ob er sie selbst nicht ganz verstanden hätte. Diese Perspektive bringt die Dichotomie zwischen Kindern und Erwachsenen zur Geltung. Javiers Eltern, etwas senil, haben sich ausgezogen und springen wie spielerische Kinder nackt im Garten umher. Seine Ex-Frau Marga stellt ihm Charly, ihren neuen Freund, vor; die Spannung wächst. Und etwas passiert: Die Kinder verschwinden. Das Trio sucht nach Kindern und Großeltern. Marga verliert die Kontrolle und greift Javier an; Charly trennt sie voneinander, und wir Leser wissen, dass wir eigentlich vom Haupträtsel abgelenkt werden: Ist das ein Spiel oder ein schrecklicher Unfall? Die Polizei kommt und während sie mit dem Auto nach den vermissten Personen entlang der Straße suchen, entdeckt Javier die Wahrheit.  Auch die dritte Geschichte, “Es passiert immer wieder in diesem Haus”, ist von seltsamen Ritualen geprägt. Die Erzählerin spürt das Klopfen an der Tür wie Hammerschläge gegen ihren Kopf. Die Zutaten sind: das Paar nebenan, ein totes Kind, er traurig und resigniert, sie scheinbar gewalttätig wirft die Kleider ihres toten Sohnes immer wieder in den Garten der Erzählerin, die sich fragt, ob nun der Mann oder die Frau hinter dieser Tat steckt. Das andere Paar besteht aus der Erzählerin und ihrem Sohn, dem Vernünftigen, der sagt: “Die sind komplett durchgeknallt”, der damit droht, die Kleider zu verbrennen, wenn sie das nächste Mal in den Garten geworfen werden. In diesem Buch ist Gewalt immer als vager Schimmer präsent, eine Finte, die manchmal zu einer tieferen Verbindung führt.

In “Die Höhlenatmung” ist die Protagonistin wieder Teil eines älteren Paares. Hier finden wir alle Zutaten von Schweblins literarischem System: Geister (ein toter Junge, der der kranken Lola erscheint, ersetzt metaphorisch ihren eigenen Sohn, tot wie in “Es passiert immer wieder in diesem Haus”), Räume, die andere Dimensionen zu enthalten scheinen (das Haus nebenan, in das die ärmlichen neuen Nachbarn ziehen, Lolas Garten, in dem sich der Nachbarsjunge immer mit ihrem Mann traf, der Graben, in dem sie den toten Körper des Jungen finden), rätselhafte und bedeutsame Details (das Kakaopulver, das zur Besessenheit Lolas wird, ihre kontinuierliche Zusammenstellung von Kisten, Lolas Listen:  “Sich auf den Tod konzentrieren. Er ist tot. Die Frau von nebenan ist gefährlich. Wenn du dich nicht erinnerst, warte, warte ab”).

Wir sehen alles durch die Augen der alten Frau, die ihr Unwohlsein hinauszieht, damit sich ihr Mann schuldig fühlt, bis er vor ihr stirbt: “Er hatte sie mit dem Haus und den Kisten allein gelassen. Er war für immer gegangen, nach allem, was sie für ihn getan hatte.” Hier liegt das Herz der Geschichte, getragen von ihrer höhlenartigen Atmung.

Die Geschichten aus diesem und anderen Büchern Schweblins scheinen oft Alpträume im Text zu materialisieren, das ist auch der Fall in den abschließenden Geschichte “Weggehen”. Fast wie ein Kurzfilm erzählt, sehen wir in der ersten Einstellung ein Paar mit der weiblichen Erzählerin, die ihre Wohnung mit nassen Haaren und Pantoffeln verlässt. “Ich habe keine Schlüssel, sage ich zu mir, und ich bin mir nicht sicher, ob mich das beunruhigt. Ich bin nackt unter dem Bademantel.” Jeder, der in einem Mehrfamilienhaus wohnt, weiß, dass der Aufzug ein unvermeidlicher Treffpunkt ist. Die Frau trifft dort einen Mann, der ein Teil des Gebäudes zu sein scheint, jemanden, der dort etwas tut. Was folgt, ist eine Komplizenschaft, die durch den rätselhaften Satz des Mannes – “meine Frau wird mich umbringen” – und eine Reise im Auto in Buenos Aires auf der Calle Corrientes mit langsamer Geschwindigkeit gekennzeichnet ist. Wie in den Fällen von “Es geschieht immer wieder in diesem Haus” und “Ein Mann ohne Glück” wird die Verbindung zwischen zwei seltsamen, aber nicht voneinander entfremdeten Wesen in konspirativen Dialogen subtil umrissen, um sich dann aufzulösen. Es ist kein Zufall – nichts ist es jemals bei Schweblin -, dass der Mann behauptet, ein “Eskapist” in einer Geschichte zu sein, deren Protagonistin das Ziel, das sie selbst verfolgt, nicht erreicht.

Die erste Geschichte des Bandes, “Nichts von all dem” beginnt gleich bedeutungsvoll:

“Wir haben uns verfahren”, sagt meine Mutter.”

Dieser Verlust ist wörtlich und metaphorisch zu verstehen, denn die richtungslose Mutter gehört keinem Ort an und zieht deshalb ihre Tochter in die Invasion (das Leitmotiv des Bandes) fremder Räume hinein, zuerst im Auto, indem sie “einen doppelten Halbkreis aus Schlamm” zeichnet, und dann außerhalb davon zu Fuß in jene teuren Häuser eindringt, die nicht wie ihre sind, die von Bäumen umgeben sind, die weißen Marmor und luxuriöse Räume haben.

Wie in “Die Höhlenatmung” ist der Unterschied in der sozialen Schicht spürbar: “Wo bekommt man all diese Dinge her? . . Es macht mich so traurig, dass ich sterben möchte.”

Aber in diesem Fall ist der Kontrast mit dem Humor der Verwechslung und des Absurden überzogen, gekrönt durch das Bild der Mutter, die mit dem Gesicht nach unten auf dem Teppich des fremden Hauptschlafzimmers liegt. Die Tochter-Erzählerin, ihre verärgerte Komplizin, tritt an die Stelle des verantwortlichen und vernünftigen Erwachsenen: “Was zum Teufel machen wir in den Häusern anderer Leute?” fragt sie, und dann ein wenig später, “Was zum Teufel hast du in diesen Häusern verloren?” Das Ende erinnert in seiner Konfrontation an das von “Die Höhlenatmung”, aber was in Erinnerung bleibt, ist das Bild der Mutter, die die Zuckerdose, die sie gestohlen hat, im Garten ihres eigenen Hauses begräbt.

“Vierzig Quadratzentimeter” wiederum inszeniert ein komplexes Schema von kleinen Geschichten, die sich kaum miteinander verbinden: die Geschichte der Schwiegermutter der Protagonistin, Marianos Frau, und den Verkauf ihres Eherings; die Geschichte der Abreise nach Spanien und der Rückkehr der Jüngsten nach Buenos Aires, die Geschichte der Beziehung zwischen Schwiegertochter und Schwiegermutter, die Geschichte der Begegnung mit dem mysteriösen Bettler in der U-Bahnstation und die Geschichte der Aspirinpackung. Die Geschichte ist eine Reise und ein Abenteuer von jemandem, der, wie alle Charaktere des Buches, verloren ist und sich an etwas klammert: in diesem Fall, wie Lola, an einer Reihe von Kisten, die eine bereits veraltete Identität enthalten. Die Offenbarung kommt nicht durch die Anekdote, sondern durch Nachdenken: Die Schwiegermutter erklärt, dass sie, nachdem sie ihren Ring verkauft hat, an einer Bushaltestelle auf einer Bank saß und nichts tat. Sie verstand, dass sie auf vierzig Quadratzentimetern saß “und dass das der einzige Raum war, den ihr Körper auf dieser Welt einnahm”. Und so kann die Protagonistin auf der Karte, die sie dem Bettler zeigt, ihre eigene Adresse nicht finden.

Auf den ersten Blick sind die Häuser dieses Buches nicht leer. Vielmehr sind sie voller Objekte. Die Leere von “Sieben leere Häuser” ist eine andere: Das langsam und unvermeidlich zusammenbrechende Haus ist die innere Wohnstätte. Es ist die Welt der Erwachsenen, die uns konditioniert und antreibt, und angesichts dieser Welt leisten wir eine Art Widerstand, um nicht in resignierte Häuslichkeit zu fallen. Zwar ist das Samanta Schweblins am wenigsten phantastisches Buch, aber wir müssen Wege finden, um aus den einfachen und platten Kategorien zu entkommen. Anders können wir ihr Werk nicht beschreiben. Wichtiger ist es, von einer eigenen Syntax zu sprechen, die von der Wirkung des Exils und vielleicht einem gewissen Wunder vor der Existenz besessen ist.

Das Buch ist bei Suhrkamp erschienen.

Rebecca, von Daphne DuMaurier

Rebecca ist zweifellos der beste Roman, den DuMaurier in ihrem Leben verfasst hat. Er wurde 1938 unter großem Beifall veröffentlicht und ist auch heute noch begehrt. Das Original war nicht ein einziges Mal vergriffen, außer natürlich bei uns.

Gekonnt webt die Autorin eine Geschichte voller Geheimnisse und Spannung, die sich um das schöne Haus Manderley dreht – ein Geheimnis, das auch nach der letzten Seite nicht ganz gelöst wird.

Der immense Erfolg, den Rebecca im Laufe der Jahre hatte, ist auf die brillant einfache Erzählkunst der Autorin zurückzuführen, mit der es ihr gelang, jeden Absatz spannungsgeladen zu halten.

Und damit begrüße ich euch zu einer weiteren Klassikerbesprechung. Weiterführende Sendungen, wie etwa eine kleine Geschichte des Kriminalromans oder die Anfänge der Schauerliteratur findet ihr hier neben vielen weiteren Artikeln, die ihr auch als Podcast hören könnt.

Du Maurier war nicht die intellektuellste aller Schriftstellerinnen. Sie schuf emotionale Landschaften, die man nach Belieben betreten konnte und wo sie ihren unbezähmbaren Sehnsüchten freien Lauf ließ. Vielleicht war sie gerade aufgrund ihres angespannten Verhältnisses zu den Geschlechtern in der Lage, Welten zu erschaffen, in denen Menschen wie auch Häuser geheimnisvoll und wandelbar sind und niemals so, wie sie zunächst erscheinen; Spukräume, in denen körperlose Geister manchmal in völliger Freiheit tanzen.

Die Geschichte selbst ist raffiniert um eine Welt voller Geheimnisse gewebt, mit dem wunderschönen Manderley als Kulisse. Mit jeder Zeile, die du Maurier schreibt, steigert sich die Spannung, bis der Leser sich danach sehnt, die Wahrheit zu erfahren. Gleichzeitig ist es nicht ganz so klar, ob man dieser Wahrheit dann überhaupt trauen kann.

Diese Ungewissheit rührt zum Teil von der Ich-Erzählweise, die du Maurier in diesem Roman gewählt hat. Sie schrieb ihn aus der Perspektive einer jungen, namenlosen Erzählerin, die den schneidigen, aber unglücklichen Max de Winter kennenlernt, während sie als Begleiterin einer Dame in einem Grandhotel in Monte Carlo arbeitet. Das Mädchen ist ängstlich, aufmerksam, verträumt, furchtbar romantisch, eine ewige Phantastin, deren Ängste und Unsicherheiten außer Kontrolle geraten, als sie Herrin über das gespenstische Manderley wird. Es bleibt den Lesern überlassen, sich Informationen über die Erzählerin selbst zu erschließen, eine Vorgehensweise, die das Rätsel noch verstärkt.

Die Erzählerin ist roh wie ein Ei, praktisch ein Schulmädchen, mit ihrem “schlaksigen” Haar und ihren abgebissenen Nägeln, ihrer Unfähigkeit, mit Bediensteten zu sprechen oder ein Haus zu führen. Rebecca hingegen ist komplett: geleckt und exquisit wie der unbezahlbare Porzellan-Amor, den die ungeschickte Erzählerin zerbricht. Es war Rebecca, die Manderley erschaffen und das schöne alte Haus zur Apotheose weiblicher Talente und Tugenden gemacht hat.

Jede Figur hat ihre eigene Version der Ereignisse, was es unmöglich macht, die Erzählung einer Person als vollständig “wahr” zu akzeptieren. Zwar hat Maxim de Winter seine Ex-Frau wegen ihrer Affäre mit einem anderen Mann umgebracht, aber da Rebecca tot ist, können wir nie sicher sein, ob Maxim tatsächlich die Wahrheit sagt oder nicht. Als Leser müssen wir uns einfach auf sein Wort verlassen.

Im Laufe des Romans werden die Dinge immer undurchsichtiger. Selbst die Justiz ist nicht in der Lage, der Wahrheit auf die Spur zu kommen, und der örtliche Richter stuft Rebeccas Tod zu Unrecht als Selbstmord ein.

Erstaunlicherweise wird der Leser irgendwie manipuliert oder überredet, zu glauben, dass der Mord an Rebecca und seine Verheimlichung notwendig, ja sogar romantisch sind; dass es ein weitaus schlimmeres Schicksal ist, betrogen zu werden als den Tod einer Frau in Kauf zu nehmen. Es ist eine grimmige Umarbeitung von “Blaubart”, in der der Mörder plötzlich zum Opfer wird, das trotz seiner blutigen Hände bewundert wird.

Es gibt Parallelen zwischen Daphne du Mauriers “Rebecca” und Charlotte Brontes “Jane Eyre”. Du Maurier scheint generell stark von den Bronte-Schwestern beeinflusst worden zu sein, was man auch an “Jamaica Inn” sehen konnte – einem anderem Buch von du Maurier, das bereits von Emily Brontes “Sturmhöhe” inspiriert wurde. Das dürfte auch der Grund sein, warum man Rebecca unter anderem zur späten Schauerromantik zählt, während der Roman ebenfalls auf allen Krimi-Bestenlisten auftaucht.

Ein großer Teil von Rebecca ist jedoch von du Mauriers eigenem Leben inspiriert – insbesondere von ihrer Beziehung zu ihrem Vater. Die Kindheitserinnerungen der Autorin an Cornwalls Menabilly, sowie ihre Besuche im Haus Milton Hall der Familie Wentworth-Fitzwilliam scheinen die Inspiration für das berüchtigte Haus Manderley gewesen zu sein.

Die namenlose Erzählerin wurde als “Studie der Eifersucht” nach ihrem eigenen Vorbild gestaltet. Es lassen sich also mehrere Parallelen zwischen der Beziehung der Erzählerin und ihrem Mann ziehen – und zwischen Daphne du Maurier und ihrem eigenen Mann Tommy Browning. Du Maurier konnte freilich nie den Verdacht abschütteln, dass ihr Mann sich zu seiner Ex-Frau, der dunkelhaarigen und glamourösen Jan Ricardo, hingezogen fühlte – was sich auch in der Handlung von Rebecca widerspiegelt.

Einer der größten Vorwürfe, mit denen sich Daphne du Maurier zu Lebzeiten auseinandersetzen musste, waren Plagiatsvorwürfe. Nach der Veröffentlichung von Rebecca in Brasilien behauptete der populäre Kritiker Álvaro Lins, du Maurier habe ihr Buch an “A Successora” der brasilianischen Schriftstellerin Carolina Nabuco angelehnt. Die Ähnlichkeiten in der Handlungsstruktur der beiden Romane sind unübersehbar. Die Autorin Nina Auerbach hat sogar kühn behauptet, du Maurier habe ihren Bestseller direkt auf “A Successora” aufgebaut, nachdem sie die englische Übersetzung gelesen hatte. Daphne du Maurier wies diese Behauptungen jedoch entschieden zurück und bezeichnete die Ähnlichkeiten in der Handlungsstruktur als reinen Zufall.

Was stimmt, ist, dass du Maurier sich von den Bronte-Schwestern inspirieren ließ – deshalb wenden sich ihre Fans in der Regel ebenfalls den Werken von Charlotte und Emily Bronte zu.

Daphne du Maurier veröffentlichte 1938, kurz nach Erscheinen des Romans das “Rebecca Notebook and Other Memories”. Dieses Buch ist im Grunde nichts anderes als das Tagebuch, das sie während der Planung des Romans führte, ein Werk, das von Schriftstellern auf der ganzen Welt sehr geschätzt wird, da es die künstlerische und konzeptionelle Entwicklung der Handlung und der Figuren des Bestsellers genau wiedergibt.

Für Rebecca-Fans ist es interessant zu wissen, dass die Figur der Mrs. Danvers in Stephen Kings “Sara” und Jasper Ffordes “Thursday Next” jeweils eine Anspielung erfährt. Rebecca hat im Laufe der Jahre verschiedene Fortsetzungen inspiriert, darunter Diane Setterfields “Die dreizehnte Geschichte” und Sally Beaumans “Rebeccas Geheimnis”.

Rebecca war ein Roman, der beinahe zu einem Code-Schlüssel wurde, den die Deutschen im Zweiten Weltkrieg verwenden wollten – ein Kunststück, das letztendlich nie vollbracht wurde, aber in Ken Folletts “Der Schlüssel zu Rebecca” fiktionalisiert und in Michael Ondaatjes “Der englische Patient” angedeutet wurde.