Schlagwort-Archive: Hexe

Urban Fantasy (2) – Die Geburt eines Genres

Dieser Artikel ist Teil 12 von 17 der Reihe Fantasy-Literatur

Im vorigen Beitrag sprachen wir über die Definition der urbanen Fantasy und ihren Ursprüngen. Nun wollen wir mal sehen, wie dieses Genre entstanden ist und warum es so populär wurde.

Charles de Lint, der Pionier der urbanen Fantasy

Das allererste Werk der Urban Fantasy war wahrscheinlich der 1984 erschienene Roman “Moonheart: A Romance” von Charles de Lint. Den Begriff Urban Fantasy gab es damals allerdings noch nicht. Urban Fantasy wurde 1997 von John Clute und John Grant in ihrer Encyclopedia of Fantasy als Texte definiert,

„in denen die phantastische und die herkömmliche Welt interagieren, sich kreuzen und zu einer Geschichte verschränken, die sich signifikant um eine reale Stadt dreht.“

Ironischerweise war die Serie, die das Genre begründete, nicht in einer realen Stadt angesiedelt, sondern in einer imaginären. Newford, das von Charles de Lint erfunden wurde, stellt eine typisch amerikanische Stadt dar, mit seinen wohlhabenden Wohngebieten und Slums, seinen Stränden und Brachflächen und natürlich seinem ausgedehnten Netz von unterirdischen Tunneln. Die Newford-Serie begann mit der Kurzgeschichte “Uncle Dobbin’s Parrot Fair”, die 1987 zum ersten Mal in Isaac Asimovs Science Fiction Magazin erschien. 1993 wurden mehrere Kurzgeschichten von Charles de Lint, alle in Newford angesiedelt, von Terri Windling zusammengestellt und unter dem Titel “Dreams Underfoot” veröffentlicht.

“Dreams Underfoot” ist eine denkwürdige Lektüre. Wir treffen auf farbenfrohe Charaktere, lernen sie lieben und erforschen die Geheimnisse Newfords und ihrer Gesellschaft. Manche Geschichten grenzen an den Magischen Realismus oder den Surrealismus, zum Beispiel “Freewheeling”, wo ein Straßenkind Fahrräder klaut, um ihnen die Freiheit zu schenken. Für den Protagonisten haben selbst unbelebte Objekte eine Seele, einen eigenen Geist und verdienen es daher, frei zu sein. Ist er wahnsinnig, oder nimmt er etwas Reales wahr, eine Magie, die in weltlichen Objekten versteckt ist? Wir werden es nie erfahren. Während des gesamten Buches verflechten sich Realität, Mythos und Magie so eng miteinander, dass es manchmal unmöglich ist zu sagen, was real und was eingebildet ist. Ob die Magie echt ist oder nicht, ändert aber nichts an der Bedeutung der Geschichten. Wichtig ist, woran die Menschen glauben. Das ist die Theorie der einvernehmlichen Realität: Dinge existieren, weil wir wollen, dass sie existieren.

“Dreams Underfoot” wurde mit Werken literarischer Fantasy wie “Little, Big” (1981) von John Crowley und Mark Helprins “Wintermärchen” (1983) verglichen. In Übersetzung liegt kaum etwas von de Lint vor und schon gar nicht seine wichtigsten Werke.

Sex, das Übersinnliche und Rock and Roll!

Einige würden sagen, dass der erste urbane Fantasy-Roman “War for the Oaks” (1987) von Emma Bull war. Ich bin mir nicht sicher, ob ich dem zustimme, aber lasst uns über dieses Buch reden. Es erzählt die Geschichte von Eddi McCandry, einer jungen Sängerin, die in Minneapolis lebt. Sie hat einen schlechten Tag, oder besser gesagt, eine schlechte Nacht. Sie hat sich von ihrem Freund getrennt und verließ seine Band, und später begegnet sie einem finsteren Mann und einem riesigen Hund. Die beiden Geschöpfe sind ein und dasselbe: ein Phouka, ein Feenwesen, das Eddi zum Bauernopfer im jahrhundertealten Krieg zwischen den Höfen von Seelies und Unseelies auserkoren hat.

“War for the Oaks” ist nicht der passendste Titel für diesen Roman, da der Krieg der Feenhöfe nicht im Mittelpunkt der Geschichte steht. Rockmusik schon. Ein guter Titel für dieses Buch wäre “Eddi and the Fey “(der Name von Eddis Band) oder noch besser “Sex & Fey & Rock & Roll!” Emma Bull war Musikerin; sie spielte Gitarre und sang bei den Flash Girls, einem Goth-Folk-Duo, und war Mitglied von Cats Laughing, einer psychedelischen Folk-Jazz-Band. Zweifellos hat ihre Leidenschaft für die Musik den Krieg um die Eichen inspiriert.

Dieser Roman würde eher als paranormale Romanze denn als urbane Fantasy durchgehen. Die Handlung dreht sich um Eddi und ihr Liebesleben (und ihr Sexualleben, obwohl es keine expliziten Sexszenen gibt). Es gibt sogar eine Dreiecksbeziehung zwischen Eddi und zwei übernatürlichen Wesen, ein Erzählmuster, das später zu einem Markenzeichen paranormaler Romantik werden wird.

Insgesamt gibt es in diesem Buch nicht viel Action. Das meiste davon (vor allem der mittlere Teil) ist gefüllt mit Dialogen zwischen Eddi und dem Phouka oder anderen Mitgliedern ihrer Band. Obwohl es einige gute Ideen enthält, werden sie in diesem Roman nicht ausgenutzt. Auf der positiven Seite ist der Schreibstil begeisternd, und die Geschichte ist sehr einfallsreich, aber die Charaktere sind klischeehaft (der Preis des Tapferen, die edle Königin, die böse Hexe, usw.). Der Phouka ist eine Ausnahme, da er subtiler zu sein scheint als die anderen.

Ich erwähnte dieses Buch aus historischen Gründen, weil es die Voraussetzungen für jene erfolgreicheren Romane und Serien schafft, die urbane Fantasy mit paranormaler Romantik verbinden.

Der Vollständigkeit halber erwähne ich auch Bedlam’s Bard (1998) von Mercedes Lackey, das Ähnlichkeiten mit dem Krieg um die Eichen hat. Auch hier handelt es sich um eine Geschichte über Musik und Elfen in einer zeitgenössischen Umgebung. Es ist interessant zu sehen, wie urbane Fantasy-Autoren Folk- und Rockmusik in ihre Erzählungen integriert haben. Charles de Lint erzählt in seinen Geschichten oft von Musik, und das ist kein Zufall. In den 70er Jahren beeinflusste die Fantasy- und Horrorliteratur die Populärmusik in hohem Maße, weshalb es nicht verwunderlich ist, dass die Musik in den 80er und 90er Jahren sozusagen diese Gunst erwiderte, indem sie eine neue Generation von Fantasy-Geschichten inspirierte. Dieses riesige Thema verdient allerdings einen gesonderten Beitrag; denn nun wollen wir wieder zur Sache kommen und über Vampire sprechen!

Hier sind Vampire!

Heute sind Vampire aus der urbanen Fantasy nicht mehr wegzudenken. Sie sind überall. Anfang der 90er Jahre war dies jedoch nicht der Fall. Der Roman, der Vampire in die urbane Fantasy einführte, war 1993 “Bittersüße Tode” von Laurell K. Hamilton, der erste Teil der Anita Blake-Serie.

Wie ich bereits im Artikel über die Ursprünge der urbanen Fantasy erwähnt habe, ist es schwierig, die Grenzen zwischen Vampir-Fantasy (einem Subgenre der Horrorliteratur) und urbaner Fantasy zu ziehen. Meiner Meinung nach besteht der Unterschied zwischen Horror und Fantasy darin, dass ersteres eher introvertiert und letzteres eher extrovertiert ist. Horrorliteratur konzentriert sich oft auf das, was die Charaktere fühlen, mit einem Schwerpunkt auf starke negative Emotionen wie Ärger, Angst, Trauer, etc.. Fantasy stützt sich mehr auf den Sinn für das Wunder, und beinhaltet in der Regel einen umfangreichen Weltenbau, um diese Wirkung zu erzielen. Das ist keineswegs eine absolute Regel, aber sie gilt doch recht häufig.

“Bittersüße Tode” ist schwer zu kategorisieren, da es sich gleichermaßen an Horror-, Thriller- und Fantasy-Genres anlehnt. Der Roman spielt in einer Welt, in der Vampire den Lebenden ihre Existenz offenbarten. Wie zu erwarten war, sorgte eine solche Offenbarung für Aufregung, wenn nicht gar Panik. Schließlich sind Vampire für Menschen keine Opfer. Was sollte also der rechtliche Status eines Vampirs in unserer Gesellschaft sein? Sollten sie die gleichen Rechte wie die Lebenden haben?

Die Autorin überspringt gerne die sozialen und rechtlichen Aspekte dieses Problems, um sich auf die Handlung zu konzentrieren. Anita Blake hat einen ungewöhnlichen Beruf: Sie ist Animatorin und arbeitet für die Polizei. Sie erweckt die Toten, damit die Polizei sie verhören kann. Praktisch für die Polizei, nicht wahr? Ihre Hauptzeugen sind tot? Keine Sorge, Anita Blake wird sie für Sie wiederbeleben!

Ihr anderer Job ist noch gefährlicher: Sie richtet Vampire hin. Wenn sie einen Gerichtsbeschluss zur Hinrichtung hat, kann sie einen Vampir in aller Legalität töten. Wenn sie keinen Gerichtsbeschluss hat … Nun, sie tötet diese Blutsauger sowieso. Nicht alle Vampire werden im Roman als blutrünstige Monster dargestellt, aber es wird angedeutet, dass die meisten von ihnen genau das sind. Wir sind nicht weit von der TV-Serie Buffy – Im Bann der Dämonen (1997-2003) entfernt. Kurz gesagt, Anita Blake ist eine selbsternannte Agentin 007 mit einer Lizenz zum Töten, und sie benutzt diese Lizenz recht großzügig und eliminiert die bösen Jungs, ob sie nun leben oder untot sind. Mit „Jungs“ meine ich sowohl Männer als auch Frauen, denn der Hauptschurke des Romans ist ein weiblicher Vampir. Kein Sexismus hier.

“Bittersüße Tode” ist ein Roman, der den Leser von der ersten bis zur letzten Seite beschäftigt. Hamilton zeichnet sich durch die Kunst aus, Spannung zu erzeugen und aufrechtzuerhalten. Ihr Stil ist voller starker Empfindungen. Es wäre jedoch unfair zu sagen, dass der Roman nur sensationslüstern ist. Unter einer relativ flachen Vampirjägergeschichte kann man einige interessante Beobachtungen über die menschliche Psychologie ausmachen.

Hamilton ist wahrscheinlich die erste urbane Fantasy-Autorin, die sich in das Reich der weiblichen Fantasien vorwagt. Im folgenden Jahrzehnt werden wir vielen Schriftsteller/innen auf diesem Weg folgen. Diese Fantasien sind nicht so unschuldig, wie es sich männliche Autoren vielleicht vorgestellt haben. Zum Beispiel werden viele Frauen von Männern mit starken Persönlichkeiten angezogen. Das wussten wir spätestens seit Byron und seinen Gedichten über charismatische, aber gefährliche Männer. Seit Anfang der 40er Jahre beschäftigt sich das Kino mit diesem Thema. Gefahr und Romantik – eine gewinnbringende Kombination! Humphrey Bogarts Verkörperungen mögen hart, manchmal sogar gefährlich gewesen sein, aber keine von ihnen konnte sich in Raffinesse und Wildheit mit Anne Rices Lestat oder Hamiltons Jean-Claude messen.

Raffinesse, Wildheit und Sexappeal – das ist die siegreiche Kombination für einen Vampir in einem urbanen Fantasy-Roman. Hamilton verstand das und stellte Vampire als die Verkörperung der tiefsten weiblichen Wünsche dar. Obwohl diese Ansicht zunächst schockierend erscheinen kann, ist sie angesichts der jüngsten wissenschaftlichen Erkenntnisse überraschend aufschlussreich. (Für wissenschaftliche Informationen zu diesem Thema empfehle ich das Handbuch der Evolutionären Psychologie von D. M. Buss. Siehe insbesondere das Kapitel Sexuelle Interessen von Frauen über den gesamten Ovulationszyklus hinweg: Funktion und Phylogenie von S. W. Gangestad, R. Thornhill und C. E. Garver-Apgar.)

Sprechen wir nun über einen anderen urbanen Fantasy-Autor, der das Genre mitgestaltet hat. Er braucht keine besondere Vorstellung; meine Damen und Herren, hier ist Neil Gaiman!

Niemalsland von Neil Gaiman

“Niemalsland” begann als Fernsehserie, die erstmals 1996 auf BBC Two ausgestrahlt wurde. Sie wurde von Neil Gaiman und Lenny Henry geschrieben und von Dewi Humphreys inszeniert. Im selben Jahr adaptierte Gaiman die Serie zu einem Roman. Und was für ein einflussreicher Roman das war!

Niemalsland ist eine Parallelwelt, die neben der unseren existiert, aber normalerweise von uns nicht gesehen werden kann. Manchmal fallen Menschen aus unerklärlichen Gründen „durch die Ritzen“ und werden Teil dieses unsichtbaren Universums. Gaiman benutzt dies als Metapher für soziale Ausgrenzung; diese Menschen sind nicht mehr Teil der zivilisierten Gesellschaft, verloren alles, was sie besaßen, sind obdachlos und müssen den rücksichtslosen Regeln der Unterwelt gehorchen. Doch so grimmig dieser Ort auch erscheint, er ist voller Abenteuer und Magie, was ihn für eine romantische Seele attraktiver macht als unsere scheinbar sichere und berechenbare technologische Welt.

Es gibt keine Vampire oder Werwölfe in Niemalsland, aber es gibt alle möglichen fantastischen Kreaturen, einige von ihnen sind dabei fremdartiger als andere. In diesem Roman entdeckt der Protagonist die Existenz eines unsichtbaren London, eines unterirdischen London. Hinter jeder Londoner U-Bahn-Station verbirgt sich eine geheime Welt, die an die mittelalterliche Vergangenheit der Stadt erinnert. Es gibt ein Kloster unter Blackfriars, am Earl’s Court lebt ein echter Graf mit seinem Hof, und unter Angel versteckt sich … na ja, ein Engel! Interessanterweise gibt es in Niemalsland keine paranormale Romanze, nicht einmal einen Hinweis darauf – das ist urbane Fantasy in ihrer reinsten Form.

Ich glaube, Niemalsland ist einer der besten urbanen Fantasy-Romane überhaupt. Witzig, fantasievoll, aber auch zum Nachdenken anregend – so sollte das Genre sein. Im Mittelpunkt einer urbanen Fantasy-Geschichte sollte die Stadt stehen, das urbane Leben mit seinen Gegensätzen und Paradoxien.

Urbane Fantasy mag ein eskapistisches Genre sein, aber dies ist ein zweideutiger Eskapismus, der uns immer wieder in die Realität zurückführt. In Niemalsland wird dieser zweideutige Eskapismus durch die Konflikte, die der Protagonist im oberen und auch im unterirdischen London hat, aufgezeigt. Ersteres repräsentiert die Realität, zweites die Fantasie.

Gaiman produzierte weitere bemerkenswerte Werke, insbesondere die Comic-Serie “Sandman” und den Roman “American Gods” (2001), für die er mehrere Preise erhielt, darunter Hugo, Nebula, Locus und Bram Stoker Awards.

Im nächsten Beitrag zur urbanen Fantasy werden wir über die Entwicklung des Genres im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts sprechen, beginnend mit Jim Butcher und Kelley Armstrong.

Unheimliche Gesellschaft

Carlos Fuentes: Unheimliche Gesellschaft

Als einer der grundlegenden Autoren des “Booms” hat der Mexikaner Carlos Fuentes in seinen wichtigsten Romanen – “Nichts als das Leben” (1962), “Terra Nostra” (1975), “Die Jahre mit Laura Diaz” (1999) u.a. – eine interessante Reflexion über die kulturelle Vielfalt und Geschichte seines Landes angestellt. Gleichzeitig hat Fuentes, wie jeder Autor von Rang, mit Erzählungen wie jenen, die in seinem ersten Buch “Verhüllte Tage” (1954) dargeboten werden, den Kurzromanen “Aura” (1962) und “Das gläserne Siegel” (2001), die Phantastik in seine Erzählungen einfließen lassen.

Fischer verlag

In diesem Sinne ist “Unheimliche Gesellschaft” (2004) eine Sammlung von Rätsel- und Horrorgeschichten, ein Band mit sechs Geschichten und einer Schlüsselfrage: “Ist Leben diese kurze Spanne, dieses Nichts zwischen Wiege und Grab?”

Das Ergebnis spaltete die Kritiker in jene, die sagen, die Sammlung sei nicht mehr als “ein Haufen mittelmäßiger Geschichten” (vornehmlich aus dem Schubladenlager des bürgerlichen Realismus), und jene, die sie als Beispiel für technisches Können, poetisches Staunen und nicht immer gelinden Horror sehen, und das – mit Verlaub – sollten alle sein, die zumindest ein kleines bisschen im Bilde sind.

Die sechs Geschichten in diesem Buch gehen von alltäglichen Situationen aus, um ins Unwirkliche zu führen, aber nicht in der Art der Phantastik von Jorge Luis Borges und Julio Cortázar, sondern durch die Aktualisierung der alten Tradition der Schauergeschichte mit seinen Villen, Gespenstern und düsteren Geheimnissen.

Hier kehrt Alejandro de la Guardia – ein in Europa lebender Mexikaner – in seine Heimat zurück, um das alte und große Familienhaus seiner Tanten María Serena und María Zenaida zu erben. Es sind so seltsame alte Frauen, so weit entfernt von der heutigen Welt, dass Alejandro sie für zwei Gespenster hält. Sehr spät entdeckt er, dass die alten Frauen echt sind, dass aber etwas anderes ganz und gar nicht stimmt.

Diese Geschichte – die den Erzählungen von Poe und Lovecraft nahe kommt – wird von Fuentes unter Beachtung der Regeln des Genres erzählt (in einem dunklen Ton, wobei er Elemente in der Zweideutigkeit belässt und das Innere des Hauses detailliert beschreibt), aber er fügt ihnen einige der Themen seiner “anderen” Erzählungen hinzu: die Übel der mexikanischen Bourgeoisie (Besitzer großer Villen), die Mischung aus Katholizismus und vorspanischem Glauben in der Volksreligiosität seines Landes, die rassistischen und sexuellen Vorurteile.

In der Geschichte “Die Katze meiner Mutter“, dreht sich das Spiel um die Verachtung einer alten Dame für ihre Haushälterin (die in Mexiko abfällig “gatas” – also Katzen – genannt werden, die indigene Guadalupe). Die Geschichte endet mit der Rache der Reinkarnation einer Hexe, die Jahrhunderte zuvor geopfert wurde.

Fuentes geht über das Altbackene und Immergleiche hinaus, indem er der klassischen angelsächsischen Gotik seine zeitgenössische und lateinamerikanische Version und einen didaktischen Hintergrund verpasst.

In der Geschichte “Calixta Brand” vollzieht ein Mann, der die intellektuelle Überlegenheit seiner Frau nicht ertragen kann, sobald sie im Rollstuhl sitzt und sich nicht mehr bewegen kann, einige erniedrigende sexuelle Praktiken. Sie wird schließlich von einem jungen Mann arabischer Herkunft gerettet, der sich als Engel entpuppt.

Das Herzstück dieser Sammlung ist jedoch “Vlad“, das zwar Teil dieser Sammlung ist, aber noch einmal als eigenständige Veröffentlichung kurz vor Fuentes Tod erschienen ist (2010). Wie unschwer am Titel zu erkennen ist, handelt es sich hierbei um eine Neuerzählung der Geschichte des Grafen Dracula, die in Mexiko-Stadt spielt. Die Metafiktionalisierung ist durch viele Details klar umrissen (Knoblauch, zugemauerte Fenster usw.) und beinhaltet auch die unschuldigen Figuren, die der Graf schließlich beherrscht. Sogar das Zitat “Ich trinke niemals … Wein” fehlt nicht.

Der wandernde Wald

Wolfgang Hohlbein: Der wandernde Wald | Enwor | Buch 1

Dieser Artikel ist Teil 11 von 17 der Reihe Fantasy-Literatur

Die Ursuppe heutiger Fantasy

In den 80er Jahren haben einige sehr interessante Werke der Fantasy ihren Ursprung. Stephen King begann sein gewaltiges Epos Der dunkle Turm, Stephen R. Donaldson legte seinen Thomas Covenant vor. Und es gab noch andere, die heute zur Grundlage dieses Genres zählen, alles in allem aber war es ein Tasten im Dunkeln. Die meisten Autoren zeigten sich von Tolkien inspiriert, der wie ein Magnet alle Ideen an sich zu reißen schien. Deutsche Autoren waren ohnehin nicht auf dieser Landkarte verzeichnet. Einer von ihnen machte aber gleich in seiner Anfangsphase dann doch von sich reden: Wolfgang Hohlbein. Und scheinbar brauchte der Mann keine Anlaufzeit, denn mit dem ersten Buch seiner Enwor-Saga brach er nicht nur mit der Tradition Tolkiens, sondern demonstrierte auch gleich jene ungeheure Fabulierlust, die ihm nicht nur Lob einbrachte. Was wenige wissen: unbeobachtet von der internationalen Entwicklung war er einer der ersten, die mit Enwor einen Erzählton einführten, der heute als Grimdark Fantasy in aller Munde ist und von Meistern wie Steven Erikson, George R. R. Martin, Scott Lynch oder Joe Abercrombie zu voller Blüte gebracht wurde. Heute gilt es als selbstverständlich, Glen Cook und seine „Black Company“ – Romane als Vorläufer des Genres zu betrachten, die ebenfalls in den 80ern ihren Ursprung haben, aber Wolfgang Hohlbein war ein ganzes Jahr früher dran. Und das ist noch nicht alles: Enwor ist sogar besser. Das zeigt vor allem eins: die schlechte Anbindung deutschsprachiger Literatur an die internationale – und vornehmlich die englischsprachige phantastische Literatur – zu jener Zeit. Wolfgang Hohlbein hat, bescheiden wie er ist, auch niemals darauf hingewiesen. Wahrscheinlich weiß er es nicht einmal.

Wenn es zum Thema Hohlbein kommt, wird man meistens auf eine geteilte Meinung treffen. Einerseits schreibt der Mann am Fließband und bedient so viele unterschiedliche Genres, dass man bereits von Massenfabrikware sprechen kann. Andererseits sind die Qualitätsschwankungen eben so gewaltig, dass sich von regelrechtem Abraum bis zum phantastischen Feuerwerk nahezu alles in seinem Werk wiederfindet. Hohlbein hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er zur reinen Unterhaltung schreibt. Wenn wir ehrlich sind, tut das jeder gute Schriftsteller, auch wenn einige das gar nicht gerne hören.

Hohlbein ist heute so erfolgreich, dass er hin und wieder – wenn ein Jubiläum oder grundsätzlich eine Neuauflage auf dem Programm steht – Hand an seine Klassiker legt, um entweder Fehler und Ungereimtheiten auszumerzen und sprachliche Patzer zu glätten. Das war der Fall bei seiner Hexer-Reihe, die ja im Groschenroman-Milieu entstand und zu seinen erfolgreichsten Outputs zählt, und ich bin mir sicher, das hat auch bei der vorliegenden Neuauflage der Saga bei Blanvalet stattgefunden. Vorwort oder Einführung gibt es nicht (anders wie beim “Hexer”).  Außerdem hat man wieder einmal die Gelegenheit verpasst, die vier zur Saga gehörenden Kurzgeschichten mitzuliefern, so dass auch diese Ausgabe am Ende nicht komplett sein wird. So bleibt dem Komplettlisten nichts anderes übrig, als nach “Das Vermächtnis der Feuervögel” (Piper) zu suchen, um die allererste Geschichte “Malicia” zu ergattern. “Vela, die Hexe”, “Der Tag vor Harmageddon” und “Der Tempel der Unsterblichkeit” finden sich in “Von Hexen und Drachen” (Bastei-Lübbe).

Bei dieser Neuausgabe aus dem Hause Blanvalet gibt es aber zur Abwechslung auch mal etwas Positives zu vermelden: wir bekommen eine farbige Gesamtsicht Enwors geliefert, und das ist in der heutigen Zeit ja nun auch nicht mehr Standard.

Lovecraft statt Tolkien

Jetzt sind wir schon beim Hauptpunkt angelangt: Ist der Hexer ganz offensichtlich von Lovecraft inspiriert, ist es Enwor nicht minder, wenn auch auf eine ganz andere Weise. Und diese Art und Weise ist so eindrucksvoll, dass Enwor bis heute die beste Fantasy-Serie ist, die aus deutschen Landen kommt. Ich beziehe mich hier allerdings auf die ersten zehn Bände, die ich mehrmals gelesen habe, während ich Buch 11 und alles andere bisher nicht angefasst habe. Ob es diesmal anders wird, kann ich noch nicht sagen, aber ich habe vor, die gesamte Neuauflage zu begleiten.

Was diese Serie so besonders macht, ist natürlich ihr Setting. Das erste Buch erschien 1983. Man kann sich denken, dass die Fantasy-Landschaft damals eine gänzlich andere war als heute. Horror war groß (heute findet er als starkes Genre so gut wie überhaupt nicht mehr statt), und Figurenzeichnungen wie in der modernen Fantasy üblich, gab es eigentlich nicht. Alles richtete sich nach Tolkien aus, er war so gesehen magnetisch Nord, auf fast jedem neuen Fantasybuch war zu lesen: “Der neue Tolkien” oder “In der Tradition Tolkiens”, und ähnliches. Enwor hat nichts mit Tolkien zu tun. Überhaupt nichts. Aber, wie bereits erwähnt, eben mit Lovecraft. Das mag nicht gleich ins Auge springen, denn Hohlbein entwarf hier mit seinem Freund Dieter Winkler eine eigenständige Welt und griffelte nicht am Lovecraft-Mythos herum, wie es heute schon fast üblich geworden ist. Die Idee zu Enwor hatten die beiden bereits seit ihrer Jugend, und während Hohlbein diese Welt an den nordamerikanischen Kontinent anpasste, entwarf Winkler die beiden Satai und ihr unzerstörbares Schwert Tschekal. Skar wurde nach seinen zahlreichen Narben benannt und Del ganz einfach nach der “Delete”-Taste der Computertastatur, schließlich sprechen wir von einer Zeit, in der diese Dinge noch faszinierten.

Es gibt keine Große Alten und keine fischköpfigen Rednecks, aber es gibt etwas ähnliches. Es gibt starke Reminiszenzen, und schließlich gibt es die Sternengeborenen. 

Interessanterweise macht Hohlbein im vormals EndWorld genannten Kosmos das, was Stephen King später mit seinem Dunklen Turm machen sollte (auch wenn man beide Welten nun wirklich nicht miteinander vergleichen kann); er verlässt unsere Erde nicht, um sein Setting zu entfalten, sondern setzt seine Abenteuer in die Zukunft, direkt in eine Zeit hinein, da es unsere Zivilisation schon seit vielen Zehntausend Jahren nicht mehr gibt. Aber das war nicht das einzige Innovative.

Heute spricht man gerne von Grimdark, wenn es sich um eine Geschichte handelt, die ein gewissen Maß an “Realismus” in sich birgt. Mit diesem Realismus ist keineswegs ein Mangel an Fantasie gemeint (ich glaube, wir können uns darauf einigen, dass es Hohlbein daran garantiert nicht mangelt), sondern vor allem das Beiseitelegen eines schwarzweiß-Denkens. Das war zumindest in Deutschland 1983, als “Der wandernde Wald” erschien, ein Novum. Die Gewaltdarstellungen sind hier brutal und detailliert. Zwar wird Hohlbein bei der Entwicklung der Grimdark-Fantasy nicht erwähnt, aber er war durchaus der erste, der etwas Neues versuchte. Und diese Welt, die er gemeinsam mit seinem Freund entwarf, war für damalige Verhältnisse definitiv das Ding der Stunde. Ich selbst bekam Enwor erst zehn Jahre später in die Finger und es war die erste Fantasy-Saga, die ich (nach dem Herrn der Ringe) überhaupt gelesen hatte. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: ich las alle zehn Bücher innerhalb eines Monats. Etwas Vergleichbares war mir zu diesem Zeitpunkt nur mit Stephen King passiert.

Der wandernde Wald

Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht klar, dass Enwor ein ganzer Zyklus werden würde, und so ist Buch 1 für all jene geeignet, die einfach mal in diese Welt hineinschnuppern wollen. Ohne gleich das ganze Werk zu lesen. Der wandernde Wald funktioniert nämlich als eigenständige Geschichte, die keine weiteren Erkenntnisse benötigt oder am Ende mit einem saftigen Cliffhanger aufwartet. Das geschieht dann erst ab Band 2.

Dennoch sind hier alle Zutaten vorhanden: Die beiden Satai Skar und Del, die einer sehr interessanten Kriegerkaste angehören, laufen eigentlich immer im roten Bereich. Dass wir sie hier als Freunde kennen lernen, macht die spätere Entwicklung um so tragischer. Hohlbein hat das Spannungsfeld dieser beiden Krieger so aufgebaut, dass es einen wichtigen roten Faden durch den ganzen Zyklus zieht. Skar selbst ist eine Blaupause für Logen Neunfinger aus Abercrombies Klingen-Trilogie. Hätte Hohlbein sein Werk heutzutage verfasst, würde das vermutlich ganz genau so gesehen werden – nur umgekehrt. Ein Krieger, der über die Möglichkeiten seines Körpers zu gehen gelernt hat und der im Kampf von einem Furor erfasst wird, den er gar nicht mehr kontrollieren kann.

Über Enwor wurde viel geschrieben, aus diesen Gründen verzichte ich auf eine Nacherzählung. Es soll Leute geben, die Enwor noch nicht kennen. Wer sprachlich ein paar Abstriche machen kann, sollte das ändern.

Hexenvolk

Fritz Leiber – Hexenvolk

Er war ein brillanter Schachspieler, Prediger, Lehrer, ein Meister im Fechten, Theaterschauspieler (vornehmlich für Shakespeare-Rollen), und hatte sogar einen Film mit Greta Garbo zusammen gedreht. Der große Wurf allerdings gelang ihm im Zusammenhang mit einem Spiel: Dungeons & Dragons, dem Klassiker des Rollenspiels, für das die bahnbrechende epische Heldengeschichte von Fafhrd und dem Grauen Mausling Pate stand. Bis heute sind deren Abenteuer die bekanntesten Geschichten des großen amerikanischen Autors.

Dabei legte Leiber den Fokus gar nicht so sehr auf das Schreiben, begann damit erst in seinem dreißigsten Lebensjahr, freilich unter dem Einfluss von Autoren wie Lovecraft (der sein Mentor wurde), Carl Jung, Robert Graves oder Joseph Campbell.

Sein Debut, Conjure Wife (Die zaubernde Ehefrau; übersetzt mit “Hexenvolk”, ungekürzt erschienen in der Edition Phantasia – siehe Artikelende) erblickte 1943 das Licht der Welt und gilt heute als eines der einflussreichsten Werke moderner Horror-Literatur. Alle paar Jahrzehnte kommt es zu einer filmischen Adaption (1944, 1961 u. 1980). United Artist hat sich die Rechte an einer vierten Variante gesichert.Und damit begrüße ich euch zu einer weiteren Buchbesprechung und einem unumstößlichen Klassiker der phantastischen Literatur.

Der Roman beginnt mit John Saylor, Professor an einem kleinen College in New England, der sich, eher spontan und zufällig, etwas im Ankleidezimmer seiner Frau umsieht. Zwischen allerlei kosmetischen Artikeln findet er Friedhofserde, Paketchen voller Haar oder abgeschnittener Fingernägel, Beschwörungsformeln, die in ein Buch gekritzelt wurden, Hufnägel, ungewöhnliche Pflanzenextrakte … und noch einiges mehr. Kurz gesagt: Tansy Sailor ist eine Hexe.

Sailors Frau überrascht ihn mitten in seiner Entdeckungsreise durch ihre magischen Utensilien. Während der nachfolgenden Konfrontation gibt sie ihre Besessenheit von Zauber und Magie zu. Die Ironie an der Sache ist, dass ihr Mann, Professor für Soziologie, ein engagierter Rationalist ist, der seine Karriere dem Entlarven primitiven Aberglaubens gewidmet hat, und der jetzt erfahren muss, dass seine Frau seine Forschungen und Exkursionen dazu in Anspruch genommen hat, ihr Arsenal an magischen Praktiken zu entwickeln. Die Gegenüberstellung verschiedener Versionen einer Wirklichkeitsauffassung ist eine der Freuden konzeptioneller Literatur (jener Non-realistischen Tradition der Literatur), und Leiber macht in diesem Roman wirklich eine Menge aus den sich widerstreitenden Welten. Die Überlagerung der wissenschaftlichen Methode mit der grassierenden Zauberei in ein und derselben Erzählung lässt die Darwin-versus-Kreationismus-Debatte wie einen Kaffeehausstreit wirken. Und obwohl sich Meister der Pulp Fiction wie Leiber in der Regel mehr mit Handlung als mit philosophischen Resonanzen beschäftigen, gelingt ihm die Überraschung, beides in einem kompakten Roman unterzubringen.

Unter dem Druck ihres Ehemanns, akzeptiert Tansy ihr Verhalten als pathologisch und stimmt der Vernichtung ihrer Utensilien zu. Eine schlechte Entscheidung! Gleich nach der flammenden Reinigung geschehen Professor Sailor die merkwürdigsten Dinge. Falsche Anschuldigungen werden vorgebracht, neue Gegnerschaften entstehen, alte Geheimnisse werden aus der Versenkung geholt. Noch schlimmer aber: das tödlichste Spiel von allen – Fakultätspolitik – richtet sich nun gegen ihn. Hat er einen Fehler bei der Beseitigung des ganzen Schutzzaubers begangen? Oder hat sein tadellos rationelles Denken Schaden durch die verrückten Überzeugungen seiner Frau genommen? Mittlerweile scheint sie glücklich ohne ein Leben mit Magie zu sein, und würde er mit ihr über seine zunehmenden Probleme sprechen, könnte sie das wieder zu ihrem ungesunden Verhalten zwingen. Aber trotzdem …

Leiber entwickelt die Geschichte mit viel Geschick, hält in diesem Drama die Waage zwischen Humor und Ironie. Vierzig Jahre vor Updikes Hexen von Eastwick, das wie Leibers Hexenvolk in schöner Regelmäßigkeit für andere Genres bearbeitet wurde, fängt Leiber die pikanten Details einer Geschichte über Zauberei ein, die in einem modernen New England spielt. Fern also von jedem Gothic-Touch.

Der Erfolg solcher Geschichten ist kaum verwunderlich, denn der Aberglaube hat unsere Welt nie wirklich verlassen. Fast zur gleichen Zeit mit dem Erscheinen von Updikes Buch, erklärte ein US-Gericht “Wicca” zu einer Religion, was “Hexerei” zu einer interessanteren Geschichte machte als andere New-Age-Bewegungen.

Erschienen ist dieses Buch in Joachim Körbers Edition Phantasia. Und dort natürlich auch die überragenden Abenteuer von Fafhrd und dem Grauen Mausling, denen wir uns noch gesondert widmen dürfen.

Timeline

Hexenkiel

Noch einmal wiederhole ich: Schwärzer als die Textur der Nacht schält sich ein Symbol aus der dunklen Leere.

Die Gesichter der Vergangenheit sind am besten dort aufgehoben, aber ich sehe sie manchmal auf den Straßen. Es könnte sein, dass sie mich gar nicht bemerken, wie ich zusammenfahre. Es könnte aber auch sein, dass ihre Blicke, die in eine völlig andere Richtung gehen, genau so platziert sind, dass ich denken könnte, eine Wahl zu haben, mich also nicht zu erkennen gebe. Der Vergangenheit kann man sich nicht offenbaren, eine gefährliche Begegnung ist das, die Zeit lässt nicht zu, dass man sich versöhnt.

Bilder sind nicht wirklich, sie sind nur eine Erscheinungsvariante. Das Szenario wird beherrscht von der Traumsubstanz. Ob ein Ding fest erscheint oder durchlässig ist, ist ganz und gar unerheblich.

Halloween

Halloween – Ursprünge und Überlieferungen

Hallowe’en, auch bekannt als All Hallows’ Eve, ist ein Feiertag, der sich an jedem 31. Oktober fast vollständig in die amerikanische – und damit in die globale – Kultur eingegraben hat.

Ich begrüße euch zu unserem Halloween-Spezial. Ich hoffe, ihr habt alle eure Kürbisse parat. Wir tauchen heute etwas in die Ursprünge dieses beliebten und sehr alten, aber auch sehr widersprüchlichen Festes ein. (Wenn ihr euch für die an Halloween gern erzählte Legende vom kopflosen Reiter interessiert, findet ihr hier eine Analyse).

Das Halloween Amerikas

Während Halloween heute auf unterschiedliche Weise gefeiert wird, hat die Tradition, dass Kinder von Tür zu Tür gehen und ihre Nachbarn um Süßigkeiten bitten, ihren Ursprung im frühen 20. Jahrhundert. Und das alles ist einer Frau zu verdanken, die ihren Garten liebte.

Am 1. November 1912 wachte Elizabeth Krebs auf und musste feststellen, dass ihre Blumenbeete und Anpflanzungen von den Kindern der Umgebung zerstört worden waren. Die Kinder, die den Guy Fawkes Day feierten, waren durch die Stadt gezogen und hatten die Häuser und das Eigentum der Leute verwüstet. Elizabeth, die sich von diesem Vorfall nicht beirren ließ, entwickelte einen Plan für das nächste Jahr, der vorsah, die Kinder während der Halloween-Nacht zu beschäftigen, damit sie nicht durch die Stadt zogen, um das Eigentum der Leute zu zerstören und ihren preisgekrönten Garten zu verwüsten. Doch auch im nächsten Jahr wurde ihr Garten in der Halloween-Nacht zerstört. Die wilden Störenfriede setzten sogar einen Postboten in Brand.

Doch Krebs ließ sich nicht entmutigen und beschloss, dass mehr getan werden musste, um die randalierenden Kinder zu beschäftigen. Im Jahr 1914 wurde eine Parade veranstaltet, an der die Kinder mit Spielen und anderen lustigen Aktivitäten teilnehmen konnten. Angriffe auf hilflose Gärten oder Häuser der Stadtbewohner gingen dank Krebs’ Bemühungen bei den örtlichen Behörden und der Stadtverwaltung drastisch zurück. Außerdem gefiel die Veranstaltung den Menschen so gut, dass die Tradition im folgenden Jahr fortgesetzt wurde und Kostümfeste in Kansas zur Tradition wurden. Außerdem entwickelte sich der Feiertag mit dem Zustrom von Einwanderern, insbesondere der Iren. Sogar der Name Halloween hat sich im Laufe der Zeit geändert.

Woher stammt der Name “Halloween”?

Der Name des Feiertags “Halloween” hat seine Wurzeln im Christentum, beginnend mit dem schottischen Begriff Hallow e’en, was übersetzt Heiliger Abend bedeutet.

Altsächsisch nannte man diesen speziellen Tag “Helagon”, Mittelniederländisch “Heligen” und Altnordisch “Helga”.

Daraus entstand die altenglische Form: “Halgia”, was “Hallow” bedeutet, das wiederum mit “zu heiligen” (dem Verb) zu übersetzen ist – als auch “heilig” (dem Substantiv).

Daraus ergibt sich der Name “All Hallows’ Day” (was wir als Allerheiligen kennen), dem Fest am 1. November zum Gedenken an die christlichen Heiligen, und natürlich “All Hallows’ Evening” am 31. Oktober. Eine der frühesten Formen des Wortes findet sich laut dem Merriam Webster-Lexikon in Shakespears Stück “Maß für Maß” als “Allhallond-Eue”.

Natürlich wurde der Ausdruck Hallow Evening (also der Heilige Abend) in All Hallows’ Even umgewandelt und dann weiter zu Hallow-e’en verkürzt, wobei das Even zu e-en wurde und das All aus dem Begriff verschwand. Heute nennen wir es Halloween, aber in seiner modernen Form tauchte es erst im 16. Jahrhundert auf, als es erstmals in einem Gedicht von Robert Burn mit dem Titel “Halloween” erschien.

Jetzt, wo wir wissen, wie sich der Name Halloween entwickelt hat, stellt sich die Frage, wo alles begann? Dazu müssen wir weit zurückgehen, noch bevor das Christentum in Europa Fuß fasste. Zu einem alten Fest, das von den Heiden gefeiert wurde.

Die Wurzeln von Halloween

Die Wurzeln dessen, was wir heute als Halloween bezeichnen, gehen auf das alte keltische Fest Samhain (ausgesprochen “sow-in”) zurück, was “Sommerende” bedeutet. Die Kelten glaubten, dass der “Schleier” zwischen der Welt der Lebenden und der Toten in der letzten Nacht des Oktobers dünn ist. Für die Kelten begann in dieser Nacht das neue Jahr, und damit eine Zeit, in der die spirituelle Kraft zunahm. Gleichzeitig markierte diese Nacht das Ende der Viehzucht und den Beginn des Winters.

Ein Großteil der Quellen, die uns zu Samhain vorliegen, geht auf Aufzeichnungen aus dem Römischen Reich und der christlichen Kirche zurück. Die von den Römern als Besatzer gesammelten Informationen, die von Historikern wie Publius Cornelius Tacitus verfasst wurden, schufen eine für ihre politischen Zwecke verzerrte Darstellung. Die Kelten und ihre Druiden wurden als die “Anderen” oder “Minderwertigen” dargestellt, deren Traditionen als barbarisch und animalisch angesehen wurden.

Um eine Vorstellung von dieser verzerrten Sichtweise auf die alten Kelten zu geben, hier ein solcher Bericht, den Tactitus aufgezeichnet hat und der wahrscheinlich aus Militärberichten stammt:

“Am Strand stand das gegnerische Aufgebot, ein dichtes Gewirr von Waffen und Männern, mit Frauen, die zwischen den Reihen umherhuschten. Im Stil der Furien, in totenschwarzen Gewändern und mit zerzaustem Haar, schwenkten sie ihre Fackeln, während ein Kreis von Druiden, die ihre Hände zum Himmel erhoben und Verwünschungen ausstießen, die Truppen angesichts des außergewöhnlichen Schauspiels so sehr in Ehrfurcht versetzten, dass sie, als wären ihre Glieder gelähmt, ihre Körper den Wunden aussetzten, ohne den Versuch einer Bewegung. Dann stürmten sie, von ihrem Feldherrn ermutigt und sich gegenseitig anstachelnd, niemals vor einer Bande von Frauen und Fanatikern zurückzuschrecken, hinter die Standarten, schlugen alle nieder, die ihnen begegneten, und hüllten den Feind in seine eigenen Flammen ein.” (Tacitus Annalen, 14).

Churchills Zitat “Geschichte wird von den Siegern geschrieben” trifft hier zu, denn die Druiden haben ihre Praktiken und ihren Glauben nie aufgeschrieben, sondern ihre Traditionen nur mündlich an die nächste Generation weitergegeben. Wir wissen nur dank solcher Historiker und Mönche von diesem “Flüstern der Geschichte”. Alle Informationen, die sich auf Samhain und seine Bräuche beziehen, sind mit Vorsicht zu genießen und nicht als hundertprozentige Tatsachen zu betrachten.

Samhain – also “So-win” – war ein keltisches Fest, mit dem man das Ende des Sommers feierte und sich auf die dunklen, ungewissen Wintermonate vorbereitete. Einem Artikel der Brown University in Providence zufolge war der alte keltische Feiertag Samhain ein landwirtschaftliches Fest, bei dem die Lebensmittelvorräte überprüft wurden, damit sich die Bevölkerung auf die Wintermonate vorbereiten konnte. Abgesehen davon, dass es das Überleben sicherte, glaubte man auch, dass der “Schleier zwischen den Welten” dünn wurde, so dass die Geister mit den Lebenden in Kontakt treten konnten.

Auch diese alten Heiden haben ihre alten Praktiken nicht aufgeschrieben, so dass man nur vermuten kann, was sie wirklich am 31. Oktober und am 1. November taten, basierend auf Quellen der christlichen Mönche und dem, was im Mittelalter noch praktiziert wurde.

In spirituellen Angelegenheiten wurden Freudenfeuer entzündet, um die Götter zu besänftigen. Außerdem wurden Feuer oft als Mittel zur Abwehr böser Geister verwendet, oder sie dienten in Wirklichkeit der Abwehr von Krankheiten, wie der englische Historiker Ronald Edmund Hutton erklärt:

“Es wurde geglaubt, dass … böse Geister frei herumlaufen würden und das Feuer sie abwehren würde … [und] ein Feuer, das ganz aus Knochen gemacht ist, ist ein Knochenfeuer, daher kommt das Wort Lagerfeuer. Diese Feuer riechen fürchterlich und der stechende Rauch vertreibt die bösen Geister”.

Doch selbst die Theorie, dass die Kelten riesige Lagerfeuer anlegten, um ihre Götter zu besänftigen, stößt bei Historikern auf Skepsis. Bestimmte Regionen Irlands, insbesondere die schottischen Highlands, der größte Teil der Hebriden und andere Regionen, erwähnen keine Lagerfeuer in der irischen Folklore. Es ist also plausibel, dass Lagerfeuer zu Samhain gar nicht üblich waren.

Man kann nur vermuten, dass der Feiertag von einer starken Furcht geprägt sein musste. Angst vor der kommenden Kälte und davor, dass Freunde und Familienmitglieder im Winter und zu Beginn des Frühlings durch bösartige Feen oder Geister ums Leben kommen könnten. Zu dieser Angst trug auch die Bedrohung durch eine Invasion bei, so dass es sehr gut möglich ist, dass das Fest dazu diente, Stress abzubauen und ein letztes “Hurra” zu geben, bevor sich die Bevölkerung für die Wintermonate einkuscheln musste.

Eine falsche Vorstellung von Samhain, die heute in den Medien verbreitet wird, ist, dass es sich um einen Gott oder einen bösen Geist und nicht um ein Fest handelt. Dieses Konzept taucht in einer Reihe von Filmen auf, z. B. in “Halloween II”, wo Samhain ein “keltischer Herr der Toten” ist. Dieser Glaube geht auf Charles Vallencey zurück, einen britischen Militärvermesser, der nach Irland reiste, um deren Geschichte aufzuzeichnen.

Ein weiterer Irrglaube ist, dass die keltischen Heiden ihren Göttern Menschenopfer darbrachten, um eine gute Ernte zu erzielen. In dem Text “The Dindshenchas – Dinnsheanchas” (Die Erzählung der Orte) wird behauptet, dass sie dem Gott Cromm Cruaìch  an einem Ort namens Magh Slecht (die Ebene der Niederwerfung) in der Grafschaft Cavan, Irland, Opfer darbrachten. Angeblich beendete St. Patrick die Praxis der Menschenopfer, indem er das Cromm-Götzenbild zerstörte, denn “die Christen betrachteten Götzenbilder als wertlos” und als Bedrohung für die christliche Ideologie. Zugegeben, es gibt Hinweise darauf, dass Cromm ein Fruchtbarkeitsgott war, dem die Heiden ihre Erstgeborenen opferten, aber auch hier wurde die Praxis von den gegnerischen Glaubensrichtungen als “andersartig” dargestellt und sollte nicht als Tatsache betrachtet werden.

Letztlich war Samhain die Zeit, in der die Schafe von der Weide in ihr Winterquartier gebracht wurden, wo sie mit ihren Hütern Schutz suchten, um die Kälte zu überstehen. Außerdem wurde behauptet, dass es eine Zeit war, in der man versuchte, böse Geister zu verscheuchen, indem man sich als Geist verkleidete, den Toten Trost spendete oder sie um Rat für das kommende Jahr bat.

Anhand dieser alten heidnischen Bräuche können wir erkennen, wie sich Halloween zu seinem modernen Fest entwickelt hat. Doch bevor unser heutiges Halloween entstand, musste sich Samhain aufgrund der Ankunft des Christentums ändern und wurde schließlich zum Allerheiligenfest.

Allerheiligen (Halloweens christliche Wurzeln)

Was hat es mit den christlichen Wurzeln von Halloween auf sich und was ist Allerheiligen überhaupt?

Laut Ephraem Syrus gab es am 13. Mai ein Fest, das jedoch den Märtyrern und der Jungfrau Maria gewidmet war und nicht alle Heiligen einschloss. Erst Papst Gregor III. veranlasste, dass der Feiertag auf den 1. November verlegt wurde, um sowohl Märtyrer als auch Heilige zu ehren. Aber was hat die neue Tradition möglicherweise von der alten, keltischen Tradition übernommen? Man kann nur vermuten, dass sich die Art und Weise, der Toten zu gedenken oder sie zu ehren, in das Backen von Seelenkuchen verwandelte, um für die im Fegefeuer Gefangenen zu beten.

Das sogenannte “seelen” war eine Tradition aus dem Mittelalter, bei der die Menschen zu den örtlichen Bauernhöfen und Dörfern reisten und ein “Seelen-Lied” sangen, um etwas zu essen zu bekommen, in der Regel Äpfel, Bier oder Seelenkuchen. Diese Tradition fand an Allerheiligen, Allerseelen und Weihnachten statt.

Man kann leicht zu dem Schluss kommen, dass aus dem “seelen” in den Vereinigten Staaten und anderen Ländern das “Trick-O-Treating” entstanden ist.

Kürbislaternen

Neben den Seelenkuchen und dem Gesang trugen die Menschen auch andere Gegenstände mit sich herum, die die Seelen der im Fegefeuer gefangenen Angehörigen darstellten, z. B. ausgehöhlte Rüben oder Mangoldwurzeln. Diese Laternen gehen auf eine alte irische Legende zurück, in der es um den geizigen Jack geht, der den Teufel betrunken immer wieder austrickst und am Ende eine Abmachung trifft, die ihn davor bewahrt, in den Himmel oder die Hölle zu kommen. Er trägt eine Laterne bei sich, um im Dunkeln sehen zu können, und ist dazu verdammt, für immer durch die Lande zu ziehen, daher der Begriff “Jack mit der Laterne” oder einfach Jack-O-Lantern.

Man nimmt an, dass der Mythos auf den Volksglauben an Irrlichter zurückgeht, die in Torfmooren häufig vorkommen. Natürlich handelt es sich bei den Irrlichtern in Wirklichkeit um Gase, die durch die Oxidation von Phosphor und anderen organischen Dämpfen bei der Verwesung freigesetzt werden, was als Chemilumineszenz bekannt ist. Mit der Einwanderung der Iren in die USA hat der amerikanische Kürbis den Platz der Rübe als Laterne eingenommen, denn Kürbisse lassen sich viel leichter schnitzen als die wachsartigen, schweren Rüben.

Mummenschanz, Verkleidungen und Monster

Mummenschanz ist ein volkstümliches Spiel, das von männlichen Schauspielern in Kostümen im Austausch gegen Leckereien aufgeführt wird, und es ist nicht schwer zu verstehen, wie es zu Halloween passt. Der Brauch des Mummenschanz oder Verkleidens wurde erstmals 1911 in Ontario, Kanada, begründet. Trick-or-Treating war hauptsächlich eine kanadische und amerikanische Angelegenheit. In den späten 40er und 50er Jahren wurde es durch die Radiosendungen “The Baby Snooks Show” und später “The Peanuts Comic Strip” immer beliebter. Die beliebten Verkleidungen von Vampiren, Hexen, Werwölfen, Gespenstern und Frankensteins Monster lassen sich natürlich auf die viktorianische Schauerliteratur und frühere Romane wie Walpoles “Das Schloss von Otranto” , Stokers “Dracula”  oder Irvings “Die Legende von Sleepy Hollow”  zurückführen und wurden in der Filmindustrie weiter popularisiert.

Andere Traditionen und Überlieferungen zu Halloween

Die Farben von Halloween sind Orange, das für Verfall und Ernte steht, und Schwarz, das den Tod, das Böse und die Dunkelheit symbolisiert. Heute werden auch Lila und Grün mit dem Feiertag in Verbindung gebracht, wobei die beiden Farben die düstere Farbpalette für Marketingstrategien auf ein freundliches Erscheinungsbild abmildern. Man könnte sagen, dass die Farben Grün und Violett dazu beitragen, die Aufmerksamkeit der Kunden beim Einkaufen im Supermarkt zu wecken. Interessanterweise ist in den letzten Jahren eine neue Halloween-Tradition entstanden, bei der die Tür lila gestrichen wird, als Hinweis auf eine Hexe, die im Haus wohnt.

Nicht zu vergessen ist die Tradition des Apfelschnappens, die schon von den alten Römern praktiziert wurde. Als sie in Britannien einfielen und ihre Apfelbäume mitbrachten, versuchten die alleinstehenden Männer und Frauen, die Früchte mit den Zähnen zu fangen, um als nächstes verheiratet zu werden.

Auch wenn Halloween und seine Ursprünge immer noch umstritten sind, sind wir uns doch alle einig, dass es eine schöne Zeit im Jahr ist. Mit den sinkenden Temperaturen, dem Laubfall in den nördlichen Staaten und der Suche nach neuen, sichereren Wegen, den gruseligen Feiertag zu begehen, können wir alle die Freude zu schätzen wissen, die uns dieser Tag in diesen unruhigen Zeiten bringt.

Horror

Sind Märchen die ursprünglichen Horrorgeschichten?

Dieser Artikel ist Teil 11 von 24 der Reihe Was ist Horror

Ich war nicht auf ein bestimmtes Genre fixiert, als ich mit dem Schreiben begann, aber auf eine merkwürdige Weise hatte mich dabei mein fünfjähriges Selbst in der Hand. Ich war ein verträumtes kleines Kind, das es liebte, zu lesen und das in der Fantasie seine eigenen Bücher herstellte. Mehr als alles aber liebte ich Märchen. Es mag sich seltsam anhören, aber ich glaube, das ist der Grund, warum ich Horror schreibe. Es gibt viele Gründe, die dafür sprechen, Märchen als die ersten Horrorgeschichten zu betrachten. Sie sind voller Schrecken wie zum Beispiel Tod eines Elternteils, lebendig verspeist oder verlassen zu werden.

In Hänsel und Gretel werden die Kinder ihrem Schicksal im Wald überlassen, weil es für die Familie nicht genug zu essen gibt. Die Eltern in Rapunzel und Rumpelstilzchen verkaufen ihre Kinder. Blaubart testet den Gehorsam seiner Frauen und tötet sie, wenn sie versagen. Es gibt genug Verrat, Eifersucht, Mord, Kannibalismus und Grausamkeit in diesen Geschichten, um jeden Horrorfan zu befriedigen.

Bevor jetzt irgendwelche besorgten Eltern ihren Kindern Märchen verbieten, möchte ich hinzufügen, dass ich all diese Dinge zu dieser Zeit nicht sonderlich erschreckend fand. Als die Gebrüder Grimm ihre gesammelten Märchen herausgaben, erwähnten sie im Vorwort, dass sie nicht für Kinder geeignet seien; und doch schwelgen Kinder in diesen makabren Geschichten, oder etwa nicht? Ich kann mich nicht daran erinnern, Angst gehabt zu haben, stattdessen war ich von diesen Geschichten absolut begeistert. Tatsächlich war die einzige Geschichte, die mich erschütterte Die kleine Seejungfrau von Hans Christian Andersen, in der die Heldin alles opfert, um die Liebe eines Prinzen zu erringen, der sie seinerseits jedoch nicht liebt. Allerdings brachte mich die Geschichte eher zum weinen als dass sie mich erschreckte, ich liebte sie und sie brach mir das Herz in gleichem Maße. Das Grauen und das Blut in den Märchen war kein Thema. Schließlich waren das nur Geschichten, sicher zwischen den Seiten eines Buches aufgehoben. Und vielleicht war das ihr ursprünglicher Zweck, als Märchen noch Teil einer oralen Tradition waren, um näher ans Feuer zu rücken, während die Leute ihre entsetzlichen Geschichten von Wölfen und Hexerei und anderen Gefahren zum Besten gaben, die in jener Zeit noch präsenter waren als heute.

Märchen waren nie sicher

Damals waren Märchen keineswegs sicher. Sie wurden nicht von den Seiten eines Buches festgehalten. Es waren Zeiten, in denen man an Feen oder das Kleine Volk glaubte, die in ausgehöhlten Hügeln lebten; manchmal halfen sie den Menschen, manchmal aber schädigten und hintergingen sie diese. Leute, die ihre Grenzen nicht anerkannten, konnten von den Feen geschlagen werden, was uns zum Ursprung der Redewendung „vom Schlag getroffen“ führt. Junge Frauen oder Babys konnten gestohlen und gegen Wechselbälger ausgetauscht werden, die sich nicht normal verhielten oder krank wurden und starben. Das Konzept ist faszinierend – so sehr, dass ich einen Roman darüber schreiben musste: The Hidden People. Was wäre, wenn die Menschen, die du liebst, nicht diejenigen sind, die du glaubst zu kennen? Das ist weit entfernt von den süßen und luftigen Versionen von Walt Disney.

Ich glaube, dass sogar heute noch gilt, dass Märchen auf Erwachsene, für die sie ursprünglich geschrieben wurden, wesentlich verstörender wirken als auf Kinder, und das nicht nur wegen der Morde und der Verstümmlungen, die oft darin enthalten sind. Ich war ein wenig schockiert, als ich vor kurzem Die roten Schuhe von Andersen wieder las, nicht wegen der Darstellung des armen Kindes, das gezwungen ist, zu tanzen, bis es einen Holzfäller darum bittet, ihr die Füße abzuhacken, sondern weil all dies als eine Strafe gedacht war für Kinder, die sich in der Kirche nicht konzentrierten. Wir sind an solche moralischen Lehrstücke nicht gewöhnt. Ein anderes Beispiel ist Perraults Version von Rotkäppchen von 1697, die die Spannung widerspiegelt, die entsteht, wenn sich eine mündliche Geschichte für Erwachsene in eine geschriebene Geschichte für Kinder verwandelt. Das erfindungsreiche Rotkäppchen entweicht nicht länger durch ihre Schläue, sondern wird vom Wolf gefressen. Perrault macht keinen Hehl aus seinen Beweggründen. Er fügt seine eigene “Moral” in die Geschichte ein, die daraus besteht, junge Mädchen davor zu warnen, mit Fremden zu sprechen.

Natürlich hat Rotkäppchen einen weitaus unheimlicheren Unterton, denn der Wolf repräsentiert einen Sexualstraftäter, aber als Geschichte für Kinder scheint das noch immer eine harte Strafe zu sein, die einen ereilt, wenn man den Pfad zu Großmutters Haus verlässt. Welcher Horror im Vergleich zu einer kleinen Unaufmerksamkeit oder eines kleinen Ungehorsams! Und doch wurde Perraults Version als lehrreiche Geschichten für junge Damen und Herren herangezogen. Auch die Gebrüder Grimm reicherten ihre gesammelten Märchen mit christlichen und moralischen Elementen an und schrieben so die ursprünglichen Fassungen um.

Märchen und Horrorliteratur

Es gibt eine Parallele zur Horrorliteratur, die oft beschuldigt wird, in Hinblick auf das Gute, das gegen das Böse triumphiert, das konservativste Genre überhaupt zu sein. Tatsächlich ist es schwierig, sich den Fragen der Moral zu entziehen, wenn es sich bei ihrem Thema um so fundamentale Fragen wie Verlust, Tod, und was danach kommt, handelt. Ich habe Geschichten gelesen (und tatsächlich auch geschrieben), in denen das Gute nicht über das Böse siegt, aber ich hatte immer das Gefühl, dass die Sympathie der Leser richtig liegt. Und vergessen wir nicht die Slasher-Streifen, in denen Sex zu haben der sicherste Weg ist, unter dem Messer des Killers zu landen.

Als Märchen Teil der literarischen Tradition wurden, waren es nicht nur die moralischen Aspekte, die in den Vordergrund rückten. Sie wurden adaptiert und bearbeitet, um die garstigen Szenen zu entfernen – oder wie einige sagen würden – sie wurden zensiert und gesäubert. Einige der Originale waren für die Rädelsführer dieser Zensur zu nahe an der Horrorliteratur gelagert. Die Geschichten, die für Kinder umgeschrieben wurden, wurden emotional sicherer gemacht. In den früheren Versionen von Hänsel und Gretel oder Schneewittchen sind es die eigenen Eltern, die versuchen, ihre Kinder zu töten. Später erfand man die Figur der bösen Stiefmutter, um die Grausamkeit ein wenig zu filtern.

In einer frühen Version von Aschenputtel schneiden die Stiefschwestern ihre Zehen und Versen ab, damit ihnen der Glaspantoffel besser passt. Aber sie bekommen die Quittung als ihnen Vögel die Augen aushacken. In unterschiedlichen Versionen von Schneewittchen hat der Jäger den Auftrag, die Heldin zu töten und unterschiedliche Körperteile mitzubringen, um den Tod des Mädchens zu beweisen: manchmal ist es eine Flasche voll Blut, ihr Herz, ihre Eingeweide, oder ein blutgetränktes Hemd, oder ihre Lungen, die Leber, die dann von der Königin gekocht und gegessen wird. Die Gewalt ist dabei nicht nur auf die Bösewichte beschränkt. In einer der ersten Versionen von Hänsel und Gretel nehmen der Teufel und seine Frau die Stelle der Hexe ein, und die Kinder entkommen, indem sie ihr die Kehle aufschlitzen.

Natürlich gab es auch eine sexuelle Zensur. In der Version von Dornröschen von 1634 des Italienischen Dichters Basile, hält sich der König, der sie  findet, nicht mit Küssen auf, sondern vergewaltigt sie, während sie schläft. Sie erwacht erst, als sie bereits Zwillinge zur Welt gebracht hat und einer von ihnen ihr einen verhexten Splitter aus ihrem Finger saugt.

Als ich meinen Roman Mädchenmorde (Path of Needles) schrieb, beschäftigte mich weitgehend die Frage, was wäre, wenn solche Dinge nicht von den Seiten eines Buches festgehalten würden, sondern in unserer Welt geschähen? Es geht nicht nur um Märchen, aber um ihren Hintergrund; der Protagonist hat die unterschiedlichen Varianten der Erzählungen zu entwirren, um die Handlung freizulegen. Ich entdeckte während meiner Recherche Blut noch und nöcher, und das in Geschichten, die mir einigermaßen vertraut sind. Dabei begann ich nicht einmal bei jenen, die sich der Bearbeitung über all die Zeit hinweg widersetzt hatten, aber irgendwie ins Undeutliche abgedrängt wurden; wie zum Beispiel Wie Kinder Schlachtens miteinander gespielt haben, das in Jack Zipes Übersetzung The Original Folk and Fairy Tales of the Brothers Grimm enthalten ist. Hier spielen zwei Brüder Metzger und Schwein. Der Metzger sticht das Messer in des Bruders Hals. Die zornige Mutter kommt angerannt, schnappt sich das Messer und sticht es dem mörderischen Bruder ins Herz. Als sie ins Bad zurückging, wo sie ein anderes Kind allein gelassen hatte, musste sie erkennen, dass dieses mittlerweile in der Wanne ertrunken war – aus Traurigkeit darüber, erhängte sie sich selbst. Was sollte sie auch sonst tun?

Ob sie nun mit dieser Blutrünstigkeit übereinstimmten oder nicht, es gibt viele Autoren, die diese wilden, bösen, gefährlichen Feen zurück brachten und sie gegen Erwachsene richteten, wie etwa Angela Carter in Blaubarts Zimmer, oder A. S. Byatt in Der verliebte Dschinn. Außerdem haben wir Anthologien von Ellen Datlow und Terri Windling, und das Werk von Neil Gaiman, Sarah Pinborough, Angela Slatter, S. P. Miskowski, Tanith Lee, und dem schmerzlich vermissten Graham Joyce. Feen weigern sich, zu verschwinden, und sie widerstehen dem Versuch, sie sicherer zu machen, vielleicht weil sie das Wilde, Sinnliche, Gefährliche, Unbezähmbare, Geheimnisvolle, den mysteriösen kreativen Teil von uns selbst repräsentieren.

Zweimal Carrie im Film

Merkwürdig, es war erst neulich, dass mir auffiel, dass mein Lieblingsroman von Stephen King, Das Mädchen, im Grunde nichts anderes ist, als eine Version von Rotkäppchen. King kehrt darin zu einer ursprünglichen Heldin zurück; eine kleine Protagonistin, die sich im Wald verirrt, hat keinen Holzfäller, der kommt und sie rettet, aber sie muss einen Weg finden, zu überleben. Und Carrie kann man getrost als Version von Aschenputtel betrachten. Sie ist ein unterdrücktes und einsames Mädchen, die glaubt, sie habe eine Chance, eine Prinzessin zu werden, zumindest in ihrer kleinen Highschool-Welt, auf diesem unseligen Ball. In einem Buch von Tony Magistrale über Stephen King, sagt dieser: “Wenn ich es genau betrachte, sind die Geschichten, die ich schreibe, nichts weiter als Märchen für Erwachsene.”

Ich kann dem nur beipflichten, aber ich würde auf das “nichts weiter” verzichten. Ich liebe Märchen noch genauso wie als begeistertes fünfjähriges Mädchen. Sie enthalten so viel von dem, was ich an der Literatur liebe: Schönheit, Dunkelheit, die wildesten Räume der Fantasie, Geheimnisse, das Unbekannte, und natürlich das Potential für ein bisschen Magie, das in der Welt existiert. Und es ist wirklich nur ein kleiner Schritt von den magischen Märchen bis zur dunklen, übersinnlichen Fremdartigkeit meiner bevorzugten Horrorgeschichten; denn Märchen waren zu allen Zeiten verdammt düster.

Carrie

Stephen King Re-Read: Carrie

Willkommen zu Stephen Kings Carrie, der Nachbesprechung des Romans von 1974, der allerdings erst 1977 in deutscher Übersetzung bei Schneekluth erschien. Das ist gleichzeitig der erste Teil einer Beschäftigung mit dem Stephen-King-Multiversum. Im Laufe der Zeit werden so die tragenden Teile eines einzigartigen und gigantischen Lebenswerks offenbar werden.

Der Archetpy

Vielleicht mag man sich fragen, was an Stephen Kings Erstlingswerk Carrie so besonders sein könnte, dass es überhaupt zu seinem Erstling werden konnte. Der Großteil der Legende liegt in der Tatsache begründet, dass dieser Roman bereits Kings vierter war, den er an Verlage geschickt hatte. (Bei den ersten drei Büchern handelt es sich um Amok, Todesmarsch und Qual, die alle in späteren Jahren unter dem Pseudonym Richard Bachmann veröffentlicht wurden). Gerne wird auch die Geschichte erzählt, dass King den einzigen Entwurf in die Mülltonne warf, bis ihn seine Frau davon überzeugen konnte, ihn doch bitte wieder herauszuholen und ihn fertigzustellen. Tatsächlich hatte er nicht nur das Manuskript in den Papierkorb geworfen, er wollte das Schreiben überhaupt an den Nagel hängen. King konnte einfach nicht glauben, dass eine Geschichte über ein dünnes blasses Mädchen mit Menstruationsproblemen die Leute interessieren könnte. Das wäre auch sicherlich die richtige Einschätzung gewesen, aber Carrie passte völlig zum damaligen Zeitgeist. Der Roman erschien etwa zur gleichen Zeit wie Rosemary’s Baby und Der Exorzist, und in den Kinos lief Wenn die Gondeln Trauer tragen und The Wicker Man. Es war die Zeit, in der sich die Leute mehr für die seltsame, paranormale Seite der menschlichen Existenz zu interessieren begannen und nichts mehr mit Gespenstern und Spuk anfangen konnten.

Was sie wohl nicht wussten, ist die Tatsache, dass es sich hier um ein archetypisches Motiv handelt, das uns durch Märchen transportiert wird. Unsere Romane wimmeln davon, ob sie nun als Horror empfunden werden oder nicht. Carrie erinnert an Elemente aus Aschenputtel und Rapunzel. Darauf wies zuerst der Professor für Orientalistik und klassische Studien Alex E. Alexander im Jahre 1979 in seinem Essay “Stephen King’s Carrie – A Universal Fairy Tale hin”. Er zitiert dort Schiller mit den Worten:

Tiefere Bedeutung liegt in den Märchen meiner Kinderjahre als in der Wahrheit, die das Leben lehrt.

Das Stephen-King-Phänomen

Wohin hätte es den arbeitslosen Englischlehrer gebracht, der Nachts in einer Industriewäscherei arbeitete und zusammen mit seiner Frau und zwei Kleinkindern in einem Wohnwagen hauste, wenn nicht so etwas wie ein Wunder geschehen wäre? Diese Frage wird er uns in Shining beantworten, aber noch war es nicht so weit. Dass King quasi im Alleingang ein völlig neues Marktsegment schuf, das in dieser Zeit mit Bloch, Matheson und Bradbury vor sich hin dümpelte, konnte zu diesem Zeitpunkt niemand ahnen. Es klingt noch heute regelrecht absurd.

Manchmal jedoch reihen sich die Dinge so aneinander, dass man gemeinhin vom Zufall spricht. Dem jungen Bill Thompson, Redakteur bei Doubleday, gefiel das, was er da las und er setzte sich massiv dafür ein, das Buch zu verlegen. Vorher lag bereits Amok auf seinem Schreibtisch, das er mit sanften Worten ablehnte. Aber auch für Menschenjagd und Sprengstoff sah Thompson zu diesem Zeitpunkt bei Doubleday keine Möglichkeit der Veröffentlichung. Für Carrie aber kämpfte er innerhalb des Verlagshauses, die für einen Anfänger nicht mehr als 5000 verkaufte Exemplare erwarteten.

Carrie erschien am 5. April 1974 dann aber in einer Auflage von 30 000 Exemplaren. Davon wurden 13 000 verkauft, was dann doch recht beachtlich war. Das Buch gesellte sich schnell zu den verbotenen Büchern der Vereinigten Staaten. Gerade an den Schulen war man aufgrund von Carries Gewalt, den Flüchen, dem Sex unter Minderjährigen und der negativen Sicht auf die Religion in eine Art Schockstarre verfallen. Viel Werbung machte Doubleday nicht, sie schämten sich wohl insgeheim für das, was sie da angerichtet hatten, aber die Mund-zu-Mund-Propaganda machte die mangelnde Werbung mehr als wett. Dadurch wurde die New American Library hellhörig und sicherte sich die Taschenbuch-Rechte für 400 000 Dollar, belächelt von Doubleday, die Stephen King nie so richtig ernst nahmen. Das war damals ein Rekordbetrag und wird auch heute kaum erreicht. Irgendwas musste den Lektoren der NAL gesagt haben, dass sie auf einer Goldgrube saßen, und so kam es dann tatsächlich auch. Das Buch ging zu Beginn in mehreren Auflagen rund zweieinhalb Millionen Mal über den Ladentisch der USA und der Chicago Tribune brachte zum ersten Mal die Frage nach dem King-Phänomen zur Sprache. King bekam die Hälfte des Geldes und hatte seine finanziell gravierenden Nöte von da an tatsächlich ausgestanden.

Carrie

Das Buch erzählt die Geschichte der Carietta White aus der Carlin Street in der fiktiven Stadt Chamberlain, Maine. King hatte zu Beginn noch nicht zu seinem ikonischen Derry oder Castle Rock gefunden. Das Buch spielt in der damaligen Zukunft von 1979, die Veröffentlichung des Buches “Ich heiße Susan Snell” von Susam Snell, das in Auszügen in den Roman eingewebt wurde, ist sogar auf 1986 datiert.

“Sie war ein dickliches Mädchen mit Pickeln an Hals, Rücken und Gesäß; ihr nasses Haar war vollkommen farblos.”

Wie in den meisten Volkskulturen wird die Initiation durch den Erwerb besonderer Weisheit oder Kräfte gekennzeichnet. King setzt Carries sexuelle Blüte mit der Reifung ihrer telekinetischen Fähigkeiten gleich. Sowohl verflucht als auch mit rechtschaffenem Zorn ausgestattet, wird sie gleichzeitig Opfer und Monster, Hexe und Weißer Engel der Zerstörung. Wie King erklärt hat, ist Carrie “eine Frau, die zum ersten Mal ihre Kräfte spürt und, wie Samson, am Ende des Buches die Trümmer des Tempels auf alle, die in Sichtweite sind, herunterregnen lässt”.

Carrie ist eine Parabel auf die Adoleszenz. Die siebzehnjährige Carrie White ist ein einsames, hässliches Entlein, misshandelt zu Hause und gedemütigt in der Schule. Ihre Mutter, eine religiöse Fanatikerin, bringt Carrie mit ihrer eigenen “Sünde” in Verbindung; Carries Altersgenossen hassen sie geistlos und machen sie zur Zielscheibe ihres Spotts. Bei Carrie geht es um die Schrecken der High School, einem Ort des “bodenlosen Konservatismus und der Bigotterie”, wie King erklärt, wo es den Schülern “nicht mehr erlaubt ist, sich über ihren Stand zu erheben als einem Hindu” über die Kaste. Der Roman handelt auch von den Schrecken des Übergangs zur Weiblichkeit. In der Eröffnungsszene erlebt Carrie im Duschraum der Schule ihre erste Menstruation; ihre Altersgenossinnen reagieren mit Abscheu und Spott, bewerfen sie mit Damenbinden und schreien: “Stopf es zu!” Carrie wird zum Sündenbock der Angst vor der weiblichen Sexualität, die sich am Geruch und Anblick von Blut äußert. (Das Blutbad und die Opfersymbolik werden auf dem Höhepunkt des Romans wiederkehren). Als Sühne für ihre Teilnahme an Carries Demütigung in der Dusche überredet Susan Snell ihren beliebten Freund Tommy Ross, Carrie zum Abschlussball einzuladen. Carries Konflikt mit ihrer Mutter, die ihre aufstrebende Weiblichkeit mit Abscheu betrachtet, wird von einer neuen Verschwörung der Mädchen gegen sie begleitet, angeführt von der reichen und verwöhnten Chris Hargenson. Ihre Clique arrangiert, dass Tommy und Carrie zum König und zur Königin des Balls gewählt werden, nur um sie mit Eimern voller Schweineblut zu übergießen. Carrie rächt diese Taufe telekinetisch, zerstört die Schule und die Stadt und lässt Susan Snell als eine der wenigen Überlebende zurück.

Der Schwarze Mann

Es bietet sich an, bei jeder King-Lesung nach den gemeinsamen stilistischen Details und den wiederkehrenden Bildern in seinen Romanen zu suchen. Carrie ist natürlich interessant, weil es Kings erste Veröffentlichung war und ein paar Techniken enthält, die er im Laufe seiner Karriere ausbauen sollte. Da wäre zum Beispiel der innere Monolog. King hat die Angewohnheit, die Gedanken seiner Charaktere durch Klammer-Einschübe oder Kursiva in den Haupttext einzubringen (Sehen Sie, was ich getan habe?). Das ist eine effektive und elegante Methode, um das platte “Sie dachte” zu umgehen. Bis zum Ende des Romans dominiert das Stilmittel des inneren Monologs sogar über den Erzähltext, auch wenn King diese Technik erst in den folgenden Arbeiten verfeinern und eleganter präsentieren sollte.

Carrie enthält bereits deutlich jene kingspezifischen Themen, die er später noch einmal durchdenken und dann mit noch größerer Wirkung aufbieten wird. Zum Beispiel Carries Gespräche mit ihrer Mutter – es sind die gleichen Stimmen, die in späteren Romanen wie Misery, Dolores oder Der dunkle Turm wieder auftauchen werden.

Die Inspiration

Während die meisten von uns mit der Geschichte nur allzu vertraut sind, wissen nicht viele, welche Inspiration tatsächlich dahinter steckt. King, der das Manuskript 1973 schrieb (an einem provisorischen Schreibtisch in der Wäscherei), modellierte Carrie White nach zwei Mädchen, an die er sich aus der Grundschule erinnerte.

Jahre später sagte Stephen King:

“Eine war besonders auffällig, weil sie jeden Tag die gleiche Kleidung in der Schule trug und von Klassenkameraden verspottet wurde. Ich erinnere mich noch gut an den Tag, an dem sie unerwartet mit einem neuen Outfit in die Schule kam, das sie sich selbst gekauft hatte… sie hatte den schwarzen Rock und die weiße Bluse – also alles, womit man sie je gesehen hatte – gegen eine knallbunte karierte Bluse mit Puffärmeln und einen damals modischen Rock getauscht. Und alle machten sich noch schlimmer über sie lustig, weil sie niemand sehen wollten, der sein Aussehen veränderte”.

Das andere Mädchen, eine introvertierte Epileptikerin, hatte eine fundamentalistische Mutter, die ein riesiges Kruzifix an der Wohnzimmerwand hängen hatte, ein Bild, das direkt in den Roman wanderte.

Der Rest der Handlung ergab sich, als King sich an einen Artikel erinnerte, den er in der Zeitschrift Life gelesen hatte und der andeutete, dass einige junge Leute, insbesondere heranwachsende Mädchen, telekinetische Kräfte besitzen könnten.

Als King anfing, die Seiten zu schreiben, waren beide Mädchen nicht mehr da: die eine von einem Anfall hingerafft, die andere hatte sich nach einer Wochenbettdepression erschossen. Die tragischen Schicksale seiner ehemaligen Klassenkameraden und die skrupellose Art, wie sie behandelt wurden, machten das Schreiben von Carrie gelinde gesagt schwierig. “Sehr selten in meiner Karriere habe ich ein geschmackloseres Gebiet erkundet”, sagte King über die Konfrontation mit den Geistern seiner Vergangenheit.

Links:

“Mein Name ist Susan Snell”

Ed und Lorraine Warren oder: Die Heimsuchung

Das Forschungsgebiet – Geister und Dämonen

Wenn wir an ein Theater denken, stellen sich die meisten von uns eine Bühne vor, komplett mit Vorhängen, grellen Lichtern und einem aufmerksamen Publikum, das sorgfältig hinter einer „vierten Wand“ positioniert ist. Wir denken an Schauspieler, Schriftsteller und Regisseure, die alle das nächtliche Treiben einer unbestimmten Aufführung leiten. Was aber wäre, wenn diese Barrieren nicht mehr existieren würden? Was wäre, wenn dein Zuhause zur Bühne würde? Gibt es irgendwo mehr Privatsphäre oder Intimität als in deinem Zuhause? Als im Zimmer deines Kindes? In deinem Bett? Unsere Häuser scheinen auf einer anderen Ebene der Vorstellung zu existieren. Sie atmen, knarren, knacken und pfeifen. Manche haben sogar Gesichter mit bedrohlichen Fenstern, die wie Augen aussehen. „Wenn diese Wände sprechen könnten“, sagen wir; aber wollen wir wirklich wissen, was sie zu sagen haben? Könnte es vielleicht doch Geister geben? Böse Geister? Etwas, das wir nicht sehen können? Gibt es solche Dinge überhaupt, oder ist das alles nur in unserer Einbildung präsent? Niemand verstand sich auf diese Fragen besser als Ed und Lorraine Warren.

Als selbsternannte Dämonologen und Geisterjäger sind die Warrens heute berühmt für die Arbeit, die sie in den späten 1940er Jahren begonnen hatten. „Glaubst du an Gott?“, fragten sie. „Weil man ohne Glauben nicht verstehen kann, was wir tun.“ Auf der Website des Paares, warrens.net, gibt es ein Zitat von Ed:

„Die katholische Kirche bezeichnet Gott als ein übernatürliches Wesen, und die Bibel ist voll von Dämonengeschichten, Teufeln, Heiligen und Engeln.“

Während diese Aussage die Existenz dieser Entitäten noch lange nicht beweist, bringt Ed die kardinale Frage auf den Punkt:

„Wenn wir an ein übernatürliches Wesen glauben können, warum dann nicht an alle?“

Natürlich waren Ed und Lorraine Warren schon lange vor ihrer Darstellung als liebevolles und frommes katholisches Paar in The Conjuring (2013) eine Schau und ständig auf Achse. Über mehr als 60 Jahre hinweg schrieb das Paar unzählige Bücher, die Tausende von „Fällen“ dokumentierten, die sich mit Dämonen, Geistern, Werwölfen und Phantomen beschäftigten. Vielleicht kennt ihr ihre Beteiligung an The Amityville Horror oder an Das Haus der Dämonen (The Haunting in Connecticut). Vielleicht habt ihr von ihrem okkulten Museum oder ihrer dämonischen Puppe Annabelle gehört. Wenn ihr auf Horror stehet, werden sich eure Wege irgendwann einmal mit denen der Warrens gekreuzt haben.

Die Geisterjäger

Ed wurde als Edward Warren Miney am 7. September 1926 in Bridgeport, Connecticut geboren. Sein Vater arbeitete nachts als Polizist, während seine Mutter, angeblich Alkoholikerin, oft abwesend war und ihn allein mit seiner Schwester zurückließ. Später behauptete er, dass ihr Zuhause heimgesucht worden sei und dass er seinen toten Großvater nachts durch das Haus laufen gehört habe, wobei sein Stock mit schweren Schlägen auf den Boden schlug.

Eds Verbündete wurde Lorraine Rita Moran, am 31. Januar 1927 geboren. Sie besuchte die renommierte katholische Mädchenschule Lauralton Hall. Die Auswirkungen ihrer Erziehung sind in Lorraines poliertem, hochklassigem Aussehen und Eds unhandlicher, investigativer Stimmung deutlich zu erkennen. Beide waren fantasievoll und in rauen katholischen Umgebungen aufgewachsen, was zweifellos ihre Arbeit beeinflusste.

Das Paar traf sich zum ersten Mal im Jahr 1943. Ed war ein Platzanweiser im örtlichen Kino. Es war das Jahr, in dem Frankenstein den Wolfsmenschen, gespielt von Bela Lugosi, traf. Lorraine war eine Schülerin, die bereits vor einer französischen Lehrerin zugegeben hatte, dass sie „Lichter“ um einzelne Personen sehen könne. Und wie Lorraine uns erzählt, war es Liebe auf den ersten Blick.

Sie heirateten mit 17 und 18 Jahren, begannen ihre Karriere als Geisterjäger und suchten nach Zeitungsartikeln in den Zeitungen, in denen es um Gespenstergeschichten und paranormale Aktivitäten ging. Sie nahmen dann Kontakt mit den Familien auf, um ihre eigene Neugier zu befriedigen. Ed erklärt ihr Vorgehen so:

„Ich gehe auf die Mitte der Straße hinaus, wo mich alle sehen können, und ich fange an, das Haus zu skizzieren, mit Vorhängen, die hin und her flattern. »Was macht er denn da?«, fragen sich die Leute. Ich mache eine wirklich schöne Skizze des Hauses mit all den Geistern, die daraus hervorkommen, und ich gebe sie Lorraine, sie klopft an die Tür, und mit ihrer irischen Persönlichkeit sagt sie: ‚Oh, mein Mann liebt es, Spukhäuser zu skizzieren und zu malen. Und er hat das hier für Sie gemacht.‘

Eds Kunstwerke und Lorraines Charme brachten sie ins Haus. Ed würde dann als Ermittler fungieren und sein Notizbuch öffnen, um seine Ergebnisse festzuhalten, während er die Bewohner interviewte. Unterdessen würde Lorraine Warren allein gelassen werden, um das Haus zu durchsuchen. In einem Schlafzimmer würde sie auf den Betten von Familienmitgliedern sitzen, wo sie „den besten Kontakt bekam“. Und wenn sie einer Familie „helfen“, mit ihrem Spuk fertig zu werden, würden die Warrens niemals etwas für ihre Dienste verlangen. Stattdessen verwandelten sie ihre Geschichten in Fallstudien und begannen, sie zusammen mit Eds Gemälden zu verkaufen, während sie am Northeast College Vorträge und Kurse über Dämonologie gaben. Mit ihren Erfindungen schafften sie es, ein bescheidenes Leben führen zu können.

Die Heimsuchung

Im Jahr 1952 gründeten sie die New England Society for Psychic Research und ihr okkultes Museum im hinteren Teil ihres Hauses. Mit Schnickschnack, Masken und Tarot-Karten gefüllt, ähnelt es den staubigen Eingeweiden eines Theaters, randvoll mit wertlosen Requisiten aus vergangenen Produktionen. Das Museum spielt eine kleine Rolle in The Conjuring, das sich auf die Erfahrungen der Warrens mit der Familie Perron konzentriert. Während sie den Film promotete, erklärte Lorraine Warren: „Vieles ist genau so passiert.“ Aber die Realität des Perron-Falles erzählt eine andere Geschichte.

Carolyn Perron hatte sich spontan für das Rhode Island Farmhouse entschieden. Sie und ihr Mann hatten nur das wenige Geld, das Roger von seinen langen Arbeitsfahrten erhielt, wobei er Carolyn und ihre fünf Töchter allein im neuen Haus zurücklassen musste. Die Warrens tauchten ungebeten vor Carolyns Haustür um Halloween 1974 herum auf. Damals teilte Carolyn ihre Recherchen über das Haus mit Lorraine Warren, einschließlich ihrer Entdeckung der vermeintlichen „Küchenhexe“ Bathsheba Sherman. Ihre akribischen Notizen und ihr Tagebuch wurden von Lorraine Warren „ausgeliehen“ und von ihr nie zurückgegeben.

In dem Bemühen, Werbung zu machen, hielten die Warrens Vorträge über den Fall und enthüllten die tatsächliche Adresse der Familie, was dazu führte, dass Scharen von Geisterjägern und religiösen Fanatikern vor dem Bauernhaus auftauchten. Dies befeuerte nur Rogers Abneigung gegen die Warrens, die er oft als billige Scharlatane bezeichnete. Er warnte seine Frau: „Sie werden dich nur wegen ihrer traurigen Berühmtheit benutzen, für ihre eigenen Zwecke“. (Andrea Perron, House of Darkness, House of Light: The True Story, S. 358-62). Und: „Merkst du nicht, wenn mit dir gespielt wird?“.

Aber Carolyn war bereits im Netz. Je mehr ihr Mann protestierte, desto mehr wurde sie auf die Seite der Warrens gezogen. Die Kinder heizten diese Situation mit ihren Streichen zusätzlich auf, und ihre eigenen Forschungen hatte das Ganze am Leben erhalten – dieses Bedürfnis nach etwas, das es geben muss. Als die Warrens im Haus eine Séance abhielten, durften die Kinder endlich ihre angestaute Energie in einer erschöpfenden Aufführung hervorbringen. Wie ein Sünder vor einem Fernsehprediger warf sich Carolyn in ihre Trance. Sie gab vor, besessen zu sein und erreichte bald den psychologischen Klimax, nach dem sie sich gesehnt hatte, den Höhepunkt des „Warren Home Theatre“. Roger beendete die Show abrupt, indem er Ed ins Gesicht schlug. Er prügelte beide Warrens beinahe aus dem Haus.

Einige Skeptiker glauben, dass die ganze Heimsuchung nur von einer fantasievollen Mutter verursacht wurde, die allein in einem alten Haus zurückgelassen wurde, mit fünf Kindern, die ständig Streiche spielten. Roger glaubte nie, dass Geister oder Dämonen im Haus waren. Aber die Warrens brauchten niemals echte Beweise, um eine gute Geistergeschichte zu entwickeln. Zum Beispiel wurde der Enfield-Poltergeist, der prominent in der Fortsetzung The Conjuring 2 vorgestellt wird, als das Werk von zwei sehr klugen Mädchen weithin akzeptiert, die ihrer Mutter Streiche spielten, aber die Warrens holten aus der Geschichte mit ihren eigenen fantasievollen Spekulationen noch wesentlich mehr heraus.

Es wurden niemals echte Beweise erbracht, um die Behauptungen der Warrens zu stützen. Und Guy Lyon Playfair, einer der Chefermittler des Falles Enfield-Poltergeist, behauptet, die Warrens seien plötzlich ungebeten aufgetaucht, blieben nur einen Tag und versuchten einfach „Geld aus der Sache zu machen“.

Wenn die Warrens jedoch berühmt werden wollten, würden sie mehr als kindische Streiche und Gerüchte über eine Hexe brauchen – sie würden etwas Größeres, Schrecklicheres und Fesselndes brauchen. Und diese Gelegenheit würde sich bald in dem ruhigen Seeuferdorf von Amityville, New York, präsentieren. Ed und Lorraine Warren arbeiteten seit etwa 30 Jahren von Tür zu Tür; jetzt waren sie bereit für die Primetime.

Der Amityville-Horror

Es gab nirgendwo Beweise dafür, dass die Residenz in der 112 Ocean Avenue heimgesucht wurde. Das Einzige, was man sicher wusste, war, dass am Morgen des 13. November 1974 sechs Menschen dort ermordet worden waren: Vater, Mutter und vier Kinder. Der älteste Sohn, Ronald „Butch“ DeFeo, Jr., wurde für schuldig befunden und bekam sechsmal Lebenslänglich. Sein Anwalt, ein Mann namens William Weber, behielt die Akten bei sich und wollte die weit verbreitete Bekanntheit seines Klienten ausnutzen.

Dreizehn Monate nach den Morden kauften George und Kathy Lutz das Haus für 80.000 Dollar. Ein Großteil der DeFeo-Möbel befand sich noch darin, als sie einzogen. Kathy hatte drei kleine Kinder aus einer früheren Beziehung, und George war der Besitzer und Betreiber der Vermessungsbranche seiner Familie in der dritten Generation. Angeblich war das Anwesen ihr Traumhaus, aber sie blieben nur 28 Tage.

Während dieser Zeit arbeiteten sie eng mit Weber und dem Schriftsteller Paul Hoffman zusammen, um eine Geistergeschichten zu entwickeln und sie zu überarbeiten. Aber als sie bemerkten, dass sie durch die Zusammenarbeit mit Weber und Hoffman so gut wie nichts fertig bekamen, gaben sie die Zusammenarbeit auf, zogen nach Kalifornien und engagierten Jay Anson, um das Buch zu fertig schreiben. Im September 1977 veröffentlicht, wurde The Amityville Horror ein sofortiger Bestseller, und als der Film 1979 erschien, spielte er ungefähr 86,4 Millionen Dollar ein.

Aber vor der Hollywood-Version und nur Monate nachdem die Familie Lutz im Januar 1976 die 112 Ocean Avenue verlassen hatte, kamen die Warrens mit einem Nachrichtenteam von Channel 5 New York an. Lorraine Warren erkundete das Haus alleine und sagte später, dass sie „der Hölle nie näher gewesen war“. Die Kamerateams sagten das Gegenteil und gaben an, dass sie nichts Ungewöhnliches miterlebt oder erlebt hätten. Trotzdem behaupteten Ed und Lorraine Warren, dass das Haus tatsächlich heimgesucht wurde. Sie wurden interviewt, traten im Fernsehen auf und wurden als Experten und Autoritätspersonen auf diesem Gebiet angesehen.

Als die Geschichte Berühmtheit erlangte, begannen immer mehr Menschen, ihre Authentizität in Frage zu stellen, und verwiesen auf die Ähnlichkeiten, die der Fall mit dem Exorzisten teilte, eine internationale Sensation, die ein paar Jahre zuvor veröffentlicht wurde. In einem Versuch, die Skeptiker zu beschwichtigen, während sie 1979 die Filmversion von The Amityville Horror vorstellten, veröffentlichten die Warrens ein Foto, das ein Freund angeblich im Haus aufgenommen hatte und das einen „dämonischen Jungen“ zeigte. Die Warrens behaupteten, dass das Foto Beweis genug sei, dass das Haus heimgesucht wurde, und Lorraine Warren schwor, dass sie nie dorthin zurückkehren würde.

Im selben Jahr räumte Weber selbst ein, die ganze Geschichte sei eine Erfindung. Er sagte dem People Magazine:

„Ich weiß, dass dieses Buch ein Schwindel ist. Wir haben diese Horrorgeschichte während vieler Flaschen Wein kreiert.“

Aber der Schaden war bereits angerichtet. Jetzt war die amerikanische Öffentlichkeit hungrig nach „wahren“ Horrorgeschichten, und die Warrens hatten ihren ersten echten Ruhm bekommen. Aber wie würde es ihre Fälle beeinflussen? Wie weit waren sie bereit, die Wahrheit für ihre eigenen Zwecke zu verbiegen?

Jetzt war die amerikanische Öffentlichkeit hungrig nach „wahren“ Horrorgeschichten, und die Warrens hatten ihren ersten echten Ruhm bekommen.

Laut Dr. Joe Nickell, einem Mitglied des Komitees für Skeptische Untersuchungen, sind die Warrens „berüchtigt für das Übertreiben und sogar das Auslösen von Vorfällen.“ Als er 1992 mit den Warrens in Bezug auf den Snedeker-Spuk (Das Haus der Dämonen) auftrat, fügte er hinzu, dass die „Warrens nie ein Haus gefunden hätten, von dem sie nicht glaubten, dass es dort spuke.“ Nickell sagte, dass der „Ermittler“ und die „Hellseherin“ lediglich einen von Weber und den Lutzes mit The Amityville Horror begonnenen Prozess verfolgten. Mit dem Ziel und Ergebnis eines Bestsellers.

Schritt eins: Finden Sie ein Haus, in dem es einen Todesfall gab. Es kann ein Bestattungsinstitut sein, Ort eines Massenmordes, das Zuhause einer ehemaligen Hexe, die ihr Kind getötet hatte usw.. Schritt zwei: Bringen Sie ein paar „Ermittler“ mit – ein paar Dämonologen, die beweisen, dass Sie es ernst meinen. Dritter Schritt: Stellen Sie einen professionellen Autor ein, um die Story „beängstigend“ zu machen. Schritt vier: Behaupten Sie, dass es sich um eine wahre Geschichte handelt. Schritt fünf: Bringen Sie es nach Hollywood. Und schließlich, Schritt sechs: Werden Sie reich.

Carmen Snedeker entschied sich dafür, diese Strategie mit Hilfe der Warrens zu verfolgen. Die ehemalige Bowling-Kellnerin hatte vier Kinder und war für zwei ihrer Nichten gemeinsam mit ihrem Ehemann Allen verantwortlich, einem Steinbruch-Vorarbeiter. Bei ihrem Sohn Philip wurde mit 13 Jahren Morbus Hodgkin diagnostiziert. Sie waren vor fast zwei Jahren in das ehemalige Hallahan-Beerdigungsinstitut eingezogen und somit bei oben genanntem Schritt eins angelangt.

Im zweiten Schritt begrüßten die Snedekers die Warrens zusammen mit Ed und Lorraines Enkel und Neffen in ihrem Haus. Die vier paranormalen „Ermittler“ lebten neun Wochen lang bei der Familie. Während dieser Zeit änderten sie die ursprüngliche Geschichte von Philip, der angeblich Geister sah, in eine komplette dämonischen Präsenz (während sie unter dem Einfluss von pharmazeutischen und Freizeitdrogen standen).

Im dritten Schritt wurde der Romanautor Ray Garton vorgestellt, der annahm, dass er in einem Sachbuch ein wahres Gespenst dokumentieren sollte. Stattdessen fand er heraus, dass es den Snedekers schwer fiel, ihre Geschichten widerspruchsfrei zu halten. Er wandte sich an Ed Warren, der ausrief:

„Sie sind verrückt. Alle Leute, die zu uns kommen, sind verrückt. Deshalb kommen sie zu uns. Benutze einfach was du brauchst und erfinde den Rest. Du schreibst gruselige Bücher, richtig? Nun, mache es auch diesmal und mache es unheimlich. Deshalb haben wir dich engagiert.“

Garton war unter Vertrag, also schrieb er den Roman, protestierte aber dagegen, dass er als wahre Geschichte oder Sachbuch beworben wurde. Wie auch immer: Die Geschichte eines wahren Spuks wurde unter beiden Aspekten verkauft und erfüllte die Voraussetzung für den vierten Schritt. Natürlich hatte Hollywood es mit Handkuss genommen und der Film Haus der Dämonen spielte 2009 über 55 Millionen Dollar ein. Schritt Fünf war damit ebenfalls abgehakt.

Was aber hat die Snedeker-Familie aus all dem herausbekommen? Nun, Carmen musste in ihrer neuen roten Jacke in einer Talkshow auftreten und hielt eine brandneue Bibel in der Hand, außerdem einen einfachen hölzernen Rosenkranz, während sie ihre früheren Nachbarn im Publikum beschimpfte. Kathy Altemus, die auf der anderen Straßenseite wohnte, präsentierte ihr Gästebuch mit Nachbarschaftsveranstaltungen und diskreditierte jeden ernsthaften Anspruch der Snedekers. Philipps Drogenkonsum wurde öffentlich gemacht. Carmen sah zu, wie ihre Nichte weinte und erklärte, wie ein Geist sie berührt hatte, während sie gleichzeitig die Tatsache verheimlichte, dass es ihr Sohn Philip war, der die Mädchen tatsächlich belästigte.

Dann, in einem letzten verzweifelten Versuch, Skeptiker zu beschwichtigen, kletterten Carmen und ihr Ehemann auf die Bühne und erklärten, wie sie zu verschiedenen Gelegenheiten von einem Geist ohne Geschlecht in einem Bett bei klassischer Musik vergewaltigt wurden. Sie erschufen auf der Bühne die Szene neu. „Es war keine normale Vergewaltigung“, erklärte Allen. Carmen fügt hinzu, dass sie einmal die Straße runterlief, während sie den ganzen Weg über „sodomiert“ worden war. Sie brachte diesen Satz kaum ohne ein sichtbares Grinsen hervor.

Schließlich wurden die Warrens auf die Bühne gebeten. Lorraine Warren war die personifizierte Stille, das Auge des Sturms, mit Ed zu ihrer Linken und Carmen zu ihrer Rechten. Beide griffen die Skeptiker verbal an, ließen sie nicht zu Wort kommen und benutzten die katholische Kirche als Schutzschild. Dr. Joe Nickell argumentierte, dass der Snedeker-Fall dem gleichen Muster wie der Amityville-Schwindel folgte. Ed Warren sah ihm ins Gesicht und drohte mit Gewalt. Er argumentierte, dass der Schwindel nicht bewiesen sei. Carmen kam herein und bezeichnete Nickell als einen Atheisten, der nichts von diesen katholischen Angelegenheiten wisse.

Es ist dieser Moment, in dem man erkennt, dass die Warrens nicht wie ihre Interpretationen in The Conjuring waren. Ja, Lorraine Warren scheint ausgeglichen und poliert, aber Ed war kein Heiliger. Er war aggressiv, argumentativ und geradezu kindisch. Schlimmer noch: Keiner von ihnen schien gebildet oder raffiniert genug zu sein, um ein Meisterstück zu verwirklichen. Das ist der Grund, warum die Snedekers nie reich wurden und warum die Warrens noch immer versuchten, Geld aus ihrem geheimnisvollen Museum zu ziehen und etwas bei ihrer Warrenology-Tour zu verdienen.

Ed starb 2006, und Lorraine Warren hat ihr Geschäft weitergeführt; aber die Wahrheit ist, dass sie nie Wissenschaftler oder Retter waren. Sie waren nur ein paar zottelige Kinder, die sich für Geistergeschichten interessierten, eine rebellische Ader hatten und einen Weg sahen, mit ihrer Kunst Geld zu verdienen – Ed mit seinen Gemälden, Lorraine mit ihren Büchern. Sie wollten die Hollywood-Versionen von sich selbst sein, waren aber so weit von ihren Charakteren entfernt, wie es die Filmversion Annabelles von ihrer wahren Raggedy-Ann-Form ist.

Horror

Von den Hexenjagden

Dieser Artikel ist Teil 12 von 24 der Reihe Was ist Horror

Ich erinnere mich nicht daran, dass ich Hexen fürchtete, als ich aufwuchs. Stattdessen fürchtete ich die Männer, die sie verbrannten. Als merkwürdiges, tyrannisches Kind, das Magie immer für selbstverständlich hielt, nahm ich stillschweigend an, wenn die Hexenjagd jemals wieder beginnen würde, wäre ich nicht sicher. Jemand würde mich schnell als “falsch” erkennen und an den nächsten Scheiterhaufen binden.

Hexenjagden waren für mich der Stoff, aus dem echte Alpträume sind. Männer würden einen in der Nacht aus dem Bett reißen und in eine dunkle Zelle sperren. Die Chance auf einen fairen Prozess war nicht gegeben. Und sie taten dies angeblich zum Wohle der Nachbarn und der Familie, um sie vor einem zu schützen. Auch zum eigenen Besten würden sie das tun. Bereue vor deiner Hinrichtung, so wie die Flammen dein Fleisch verbrennen und deine Seele erlöst werden wird, sagen sie. Sie würden dich umbringen, um dich zu “retten”.

Ich tröstete mich damit, dass es besser war, dieses Risiko zu kennen. Märchen haben uns gelehrt, dass alles besiegt werden kann, oder? Wenn ein Wolf an der Tür stünde, würde ich ihn als das erkennen, was er war, und ich könnte mein bestes tun, um ihn auszusperren.

So wirbelte die Frage in meinem Kopf herum: Wer waren diese Inquisitoren? Wie könnte ich sie in der Menge erkennen, um vor ihnen auf der Hut sein? (Als ob es in der Logik eines Kindes ausreichen würde, sie zu identifizieren, um sich zu schützen). Die Hexenjagd-Abbildungen aus dem Mittelalter zeigten nur sehr wenig. Die Inquisitoren sahen so gewöhnlich aus wie normale Männer. Das hat nicht geholfen. Schließlich waren die Männer überall, und sie konnten nicht alle Inquisitoren sein, die auf der Lauer lagen.

Oder etwa doch?

***

Im Grunde geht es bei Hexerei um Macht. Es geht darum, Stärke zu finden, auch wenn die Gesellschaft dir alles verwehrt hat. Als solche war die Magie schon immer ein Zufluchtsort für Frauen. Bei den europäischen Hexenjagden, die zwischen 30.000 und 100.000 Menschenleben forderten, waren auch Männer Opfer, aber die meisten von ihnen waren Frauen. Hexenjagden waren vor allem eine Frage der Frauenfeindlichkeit. Frauen, die zu stark wurden, die sich zu weit über das hinaus wagten, was “gut und normal” war, mussten mit allen Mitteln gestoppt werden.

Wegen seinem inhärenten Schrecken hat der Horror die Tiefen der Hexerei schon lange ausgelotet. Aber das Genre hat mit seinen Darstellungen nicht immer gute Arbeit geleistet. Bis hin zu Shakespeare werden die Weird Sisters beschuldigt, Macbeth in seinen mörderischen Amoklauf geführt zu haben, als wäre er von Anfang an unschuldig gewesen. Im Kino wird Witchfinder General oft als Klassiker angesehen, aber es wird fast ausschließlich durch den männlichen Blick erzählt, wobei die einzige weibliche Hauptfigur meist in den Hintergrund ihrer Geschichte gedrängt wird. Und es tut mir leid, Christopher Lee, aber Menschenopfer in geflochtenen Weidenfiguren sind mit ziemlicher Sicherheit nie passiert. Dies war eine Fälschung, die Julius Cäsar auf der Grundlage eines Gerüchts wiederholte. Ja, es war die alte urbane “Ich kenne jemanden, der jemanden kennt”-Legende, die fest in der populären Denkweise verankert ist.

Im moderneren Kino stellt The Vvitch von 2015 eine beißende Kritik an religiöser Hysterie dar, aber die namensgebende Figur wird auf ganz normale Weise dargestellt. Das heißt, eine gottlose Frau, die im Wald allein gelassen wurde, konnte nur ein laszives Monster werden. Und obwohl ich den “schwarzen Phillip” so sehr liebe wie jeder Horror-Fan, ist Thomasins Unterschrift in seinem Buch am Ende eine typische Inquisitionspropaganda: dass alle weibliche Kraft satanischer Herkunft ist, und nicht einmal von Natur aus weiblich. Weil eine Frau allein keine Macht haben kann; sie muss sie sich von einem Mann leihen.

Von all den Ungenauigkeiten des Films abgesehen ist es jedoch eine frühe Szene, die mir am unangenehmsten auffiel. Nachdem die Hexe das Baby der Familie entführt hat, bringt sie es in ihre Hütte, wo sie sein Fett entfernt und eine Flugsalbe daraus herstellt. Dies verewigt eine Lüge, mit der die Inquisition unschuldige Frauen verurteilt hat. Einige Hexen haben unter anderem Flugsalben oder ähnliche Salben aus Lanolin hergestellt. Selbst wenn sie keine Magie praktizieren würden, könnte diese gelatinöse Creme in ihrem Haus vorhanden gewesen sein. Wegen seiner seltsamen Konsistenz und seiner Allgegenwart könnten die Inquisitoren dies als Beweis für einen Kindesmord benutzen. Unabhängig davon, ob überhaupt Babys vermisst wurden, sie hatten ihren “Beweis” und das genügte.

Es mag leicht sein, diese fehlerhaften Bilder in Horrorfilmen als Spaß abzutun, aber diese Logik birgt eine Gefahr.

Die Leugnung der Erfahrungen von Frauen ist für uns seit Anbeginn der Zivilisation zweitrangig. Wenn man den Babyfett-Mythos benutzt, ist die reale Implikation klar: Eine Frau kann die Wahrheit sagen – dass es nur Lanolin ist – aber sie werden sie eine Kindsmörderin nennen und sie trotzdem verbrennen, während sie ihre falsche Anschuldigung wiederholen, bis sie als die einzige Realität akzeptiert wird. Die Lügen der Hexenjäger ergeben für uns mehr Sinn als die Wahrheiten der Frauen.

Und diese Unwahrheiten gewinnen an Macht, je mehr sie sich wiederholen. In der Regel erzählen wir Geschichten, die bereits vertraute Elemente nachbilden, weil sie uns sicherer machen. Wir kennen diese Geschichten. Die Welt ist ein chaotischer und unsicherer Ort, aber zumindest haben wir vorhersehbare Geschichten, die uns den Weg weisen.

Aber es gibt keine Sicherheit in Lügen. Diese Mythen weiter zu reproduzieren – ohne Kommentar, ohne etwas Neues hinzuzufügen, um die Trugschlüsse zu entwirren, die sie erschaffen haben – das grenzt an Rücksichtslosigkeit. Sie behalten ihren Status quo bei, auch wenn sie vorgeben, ihn in Frage zu stellen. Und heute, in einer immer gefährlicheren Welt, können wir nicht riskieren, auch nur der kleinste Teil des Problems zu sein.

***

Im vergangenen Jahr bekam ich endlich die Antwort auf diese Frage aus meiner Kindheit. Unsere modernen Inquisitoren wurden demaskiert, mit ihren hasserfüllten Tweets und ihrer endlosen Flut von grausamen Gesetzen gegen jeden, der nicht zu ihrer engen Definition von dem, “was richtig ist”, passt.

Wie Wölfe stehen sie jetzt vor der Tür.

Aber es passiert noch etwas anderes. Inmitten dieser unsicheren Zeiten, in denen der Aktivismus blüht, kehren die Menschen zur Hexerei zurück. Als ob es ein Trostpflaster wäre, suchen sie darin einen Zufluchtsort. Einen Monat nach seiner Einweihung machten Tausende von Hexen im ganzen Land Schlagzeilen, als sie sich zusammenschlossen, um Donald Trump zu verzaubern (eine der Komponenten: eine orangene Kerze). Was weniger Schlagzeilen machte, war, dass viele Hexen diesen Zauber weiterhin jeden Monat als Teil einer wachsenden Fraktion aufführen, die politischen Aktivismus und Hexerei nicht so weit voneinander entfernt sieht. Und warum nicht beides kombinieren? Denn ist das gemeinsame Singen während eines Protestes nicht eine Form des Zauberspruches, der Hoffnung, die Welt mit der Kraft der Worte zu verändern?

Es ist noch nicht zu spät, um unsere verlorenen Geschichten zurückzufordern. Wir müssen nicht länger die Lügen akzeptieren, die uns unserer Macht beraubt haben, Geschichten, die einst von Cäsar und der Inquisition verewigt wurden, sich jetzt in verschiedenen, aber ebenso schädlichen Permutationen einer Präsidialverwaltung, die niemals hätte existieren dürfen, wieder zu erkennen gibt.

Obwohl Hexenjagden als uralte Geschichten gelten, gibt es auch heute noch jene, die weiterhin offen die Hexerei verleumden. In einigen Ländern bleibt die Ausübung von Magie illegal, und Frauen werden immer noch zu Tode gesteinigt, weil sie die kleinste Neigung zu etwas Okkultem zeigen.

Es gibt auch diejenigen, die Hexerei nicht aus moralischer Panik, sondern aus intellektuellen Gründen verleumden. Hexerei ist dumm, sagt man. Das ist Pseudowissenschaft, das ist New Age-Quatsch. Aber ob die Magie objektiv funktioniert oder nicht, ist dabei fast nebensächlich. Hexerei ist für die Verlorenen, die Verlassenen, die Anderen. Es geht um Synergie auch in den dunkelsten Zeiten. Es sind Frauen und Männer, die zusammenkommen und sich weigern, eine Gesellschaft zu akzeptieren, die nicht alle als gleichberechtigte Mitglieder dieses Planeten anerkennt. Hexerei ist Widerstand, schlicht und einfach.

Und es gibt nichts Mächtigeres als das.

Bibliothek

Die 5 seltsamsten Bücher der Welt

Bücher sind heute hauptsächlich reine Nutzgegenstände. Bibliophile Menschen gibt es nur noch wenige, vor allem, weil man sich “echte” Bücher kaum leisten kann. Zwar bezeichnen sich viele Sammler nach wie vor als bibliophil, sie sind es aber nicht, sie horten im Grunde eben nur “Nutzgegenstände”. Die Kunst, Bücher herzustellen ist dennoch nicht ganz verschwunden, aber hier geht es eben nicht um das, was den modernen Leser ausmacht. Unweigerlich kommt neben der Seltenheit eines kostbaren Exemplars irgendwann die Frage auf – so man sie denn stellen mag – was denn die merkwürdigsten Bücher sind, die jemals hergestellt wurden. Und erst dann befinden wir uns im Gefilde der Bibliophilie. Selbstverständlich gibt es eine Menge bizarrer Bücher, gerade im Bereich des Okkulten. Die aber sind nicht wirklich rätselhaft, auch wenn sich vieles darin dem Verständnis entzieht. Ich habe einmal 5 Bücher aufgelistet, über die man sich tatsächlich den Kopf zerbricht.

Das Voynich-Manuskript

Von diesem Buch hat jeder Buchliebhaber schon einmal gehört. Es lässt sich auf das 15. Jahrhundert datieren und hat – den Bildern nach zu urteilen – einen botanischen Hintergrund. Allerdings sind die Tuschezeichnungen und abgebildeten Pflanzen völlig unbekannter Herkunft. Begleitet werden die Bildtafeln von einem nicht entzifferbaren Text. Es gibt viele astronomische und astrologische Karten sowie zahlreiche weibliche Akte, die mit geschwollenen Bäuchen und verbunden mit Röhren und Kapseln möglicherweise auf einen seltsamen Fortpflanzungsritus anspielen. Ebenfalls vertreten sind viele Zeichnungen einer großen Vielfalt an Pflanzen, Kräutern und Wurzeln in verschiedenen Gefäßen.  Aber nichts davon entspricht einer irdischen Pflanze.

Es bleibt nicht aus, dass die Spekulationen über dieses unbegreifliche Buch ins Bodenlose sprießen. Manche behaupten, es sei ein Medizinbuch aus einer weit entfernten Galaxie. Oder das Notizbuch einer Hexe. Eine ganze Heeraschar an Sprachforschern beschäftigen sich mit diesem Phänomen, konnten aber die Sprache bis heute nicht entziffern.

Benannt ist das Buch nach dem Antiquar Wilfrid M. Voynich, der es 1912 kaufte. Zuvor hatte das Manuskript einen recht illustren Kreis an Besitzern, zu dem auch Alchemisten und der deutsche Kaiser Rudolf II. aus dem 16. Jahrhundert gehörten, der es für das Werk des englischen Philosophen Roger Bacon hielt.

Codex Seraphinianus

Die Ursprünge des 360 Seiten umfassenden Codex Seraphinianus sind nicht allzu mysteriös, sein Inhalt hingegen schon. Das Buch wurde ursprünglich 1981 veröffentlicht und ist im Wesentlichen die illustrierte Enzyklopädie einer imaginären Welt. Es wurde von dem italienischen Künstler und Designer Luigi Serafini geschaffen, der sagte, er wolle das Gefühl nachempfinden, das er als kleines Kind hatte, bevor er überhaupt lesen konnte, und wie es für ihn war, das erste Mal eine Enzyklopädie zu öffnen. Alle Bilder und Diagramme sahen für den kleinen Jungen sehr geheimnisvoll aus.

In einem Vortrag an der Universität Oxford im Jahr 2009 behauptete Serafini, dass der Text des Buches, den er in einer Art “automatischem Schreiben” verfasst hatte, keine wirkliche Bedeutung habe. Natürlich könnte man denken, dass das Universum (oder ja nach Wahl eine Gottheit) durch Serafini sprach, auch wenn das gar nicht seine Absicht war.

Der Codex zeigt surreale Pflanzen, Tiere, Nahrungsmittel, Maschinen und menschliche Praktiken, aber alles ist merkwürdig verfremdet und dem Traum näher als der Welt, die wir glauben zu kennen.

Codex Rohonczi

Wir wissen nicht viel über den 448-seitigen Codex Rohonczi. Dieses illustrierte Manuskript tauchte im 19. Jahrhundert in Ungarn auf und hat die Menschen seitdem verblüfft. Wir wissen nicht, wer ihn verfasst hat, wo er entstanden ist oder was darin steht, da der Text in einem mysteriösen Alphabet mit fast 200 Symbolen geschrieben ist.

Die Illustrationen in dem Buch reichen von militärischen Schlachten bis hin zu religiöser Symbolik, die an das Christentum, den Islam und möglicherweise sogar an den Hinduismus erinnern.

Die möglichen Ursprünge des Manuskripts wurden in Indien, Sumerien oder dem alten Ungarn gesucht. Aber bevor nicht jemand den Code geknackt hat, werden wir es nicht wirklich wissen. Wer möchte, kann sich gerne selbst daran versuchen, denn er ist in seiner Gesamtheit online einzusehen.

Die Smithfield-Dekrete

Diese vom Papst Gregor IX. im 13. Jahrhundert in Auftrag gegebene Sammlung des kanonischen Rechts könnte für die damalige Zeit ziemlich verbreitet und wahrscheinlich ziemlich langweilig gewesen sein. Stattdessen brachten die bizarren Illustrationen, die es in diesem Buch zu finden gibt, dieser Handschrift einen mystischen Status ein.

Das Buch enthält viele Szenen mit mörderischen Riesenkaninchen, einem mittelalterlichen Yoda, Bären, die gegen Einhörner kämpfen, sowie seltsame menschliche und tierische Praktiken. Vielleicht hatten die Mönche, die diese Bilder zeichneten, etwas in ihrem Wasser, denn viele dieser Zeichnungen erinnern an den schwarzen Humor von Monty Python.

Das Buch der Soyga

Entdeckt wurde das Buch zunächst von dem elisabethanischen Mathematiker und Okkultisten John Dee. Tatsächlich ist es das einzige Buch auf unserer Liste, das zu den sogenannten Zauberbüchern des 16. Jahrhunderts gehört. Jahrhundertelang war es verschollen, bis es 1994 von einem Gelehrten in den Archiven der British Library wiederentdeckt wurde.

Die fast 200 Seiten dieses Buches enthalten Beschwörungsformeln und Anweisungen zur Beschwörung von Dämonen, zur Ausübung von Magie, zu astrologischen Ideen und anderen Dingen, die niemand wirklich versteht. Es geht die Legende, dass John Dee, als er das Buch im Jahre 1551 fand, ein Medium benutzte, um mit dem Erzengel Uriel über die Bedeutung dieses Buches sprechen zu können. Ein Teil des Buches ist in Latein verfasst, aber demgegenüber stehen über 40.000 Buchstaben, die in 36 Tabellen angeordnet sind und deren Herkunft völlig rätselhaft bleibt.

In Anbetracht des okkulten Charakters des Buches verspricht die Lösung dieses Rätsels eine Offenbarung, auf der angeblich ein Fluch lastet, der besagt, dass jeder, der den Code lösen kann, innerhalb von zwei Jahren stirbt. Das ist immer etwas witzig, denn man kennt den Inhalt des Buches nicht, weiß aber scheinbar immer, was geschehen wird, wenn man es herausfindet. Zwar hat der Gelehrte Jim Reeds den Konstruktionsalgorithmus und die bei der Herstellung der Tabellen verwendeten Codewörter entschlüsselt, der tatsächliche Inhalt und die Bedeutung der Tabellen bleiben jedoch weiterhin rätselhaft.

Horror

Erotik im literarischen Horror

Dieser Artikel ist Teil 21 von 24 der Reihe Was ist Horror

Der Sexus bestimmt unser Handeln.

Das jedenfalls nehme ich stark an, entspringt meiner Wahrnehmung, die ich habe, blicke ich mich um, beobachte ich, wie Wesen und Dinge auf mich wirken. Was mit mir und ihnen geschieht, interagiere ich, empfange ich – ganz nüchtern formuliert – Informationen, die mir meine Umwelt bietet, weil ich ihr meine anbot und versendete. Meine Umwelt. Eine Welt um mich herum. Eine, in der ich jemand anderem Umwelt bin. In der mir der Andere Umwelt ist. Und das in aller Pluralität.

Der Andere. Die Anderen. Das Andere. Das Unbekannte, das mich konfrontiert.

Das im Dunkeln Liegende. Zu Erforschende. Nicht selten Angst machende. Der Horror in der Welt. Der Horror in mir. Die Fähigkeit zur Furcht, die uns angeboren ist. Die im Laufe unseres Lebens, über ein kollektives Gedächtnis hinaus und sich doch aus diesem speisend, die verschiedensten Gestalten und Formen annehmen kann, die in unserem Handeln ihren Ausdruck findet. Sich gar in unserer Erscheinung, unseren Verhaltensweisen, ganz allgemein in Codes niederschlägt. Nicht zuletzt in den Künsten. Wie z.B. der Literatur, die dem Horror und der Erotik ganz eigene Zweige und Nischen gönnt. Eros (Amor) und Psyche. Wie sie in der griechischen Mythologie beschrieben sind. Und im Grunde von nichts anderem erzählen als vom Resultat der Trennung des Kugelmenschen in Mann und Frau. In zwei sich Suchende, die sich wieder vervollkommnen und erkennen wollen. Zwei Körper, die sich zwar wesentlich aber doch nicht so wesentlich unterscheiden, als dass sie nicht auch als ein Gleiches zu verstehen sind. So könnte z.B. der Penis des Mannes auch als ausgestülpte Vagina gesehen werden.

Einzig die Fortpflanzung, der Fortbestand unserer Art braucht die Differenz der beiden Geschlechter. Den Samen des Mannes, die Eizelle der Frau. Besonders aber die Tatsache, dass wir zu den Säugetieren zählen, spielt beim Eros, wie auch beim Horror und wie wir ihn wahrnehmen, die entscheidende Rolle. Bindungswille und Bindungserfahrung sind für uns nicht nur überlebenssichernde Faktizitäten, sie befähigen uns auch zur Kunst, zur Poesie, zur Musik, ganz allgemein zur Phantasie. Und zu guter Letzt zur Liebe. Verlust und Sehnsucht. Schmerz und Freude. Jedoch öffnen sich somit auch die Tore zur Angst, aufgrund dessen, dass diese Faktizitäten gegeben sind. All das, weil wir ein Soma haben. Eines zudem, das stetig den Anschluss zur Welt sucht. Nur sind diese seelisch-somatischen Nabelschnüre keine sichtbaren, wie die eine, die uns einst mit dem Mutterkuchen verband. Das mag uns stark an eine Matrix erinnern, wie sie in der Literatur und im Film, besonders im Science-Fiction-Genre, immer wieder zum Gegenstand wurde. Ebenso erinnert es an Gigers Biomechanoide und ihr Angeschlossensein. An die Mutter, das Kind, die Welt, das Leben selbst. Der seelische Ausdruck wird uns und unserer Umwelt durch unsere Körper, unser Erscheinungsbild gewahr. In dem von mir sog. Soma, so, wie ich es verstehe. Der Seele und wie sie sich darin zeigt. Auch in ihrem Horror.

Die Angst, die ein gewaltiger Niederschlag in unseren Körpern ist. Die ihrerseits, droht Gefahr, sofort reagieren. Unsere Härchen stellen sich auf, wir machen uns größer. Die Atmung und der Puls beschleunigen sich, wir sind zur Höchstleistung bereit. Der Angstschweiß lässt uns glitschig werden, damit Feinde uns nicht greifen können. Die Regenbogenhaut akkommodiert unsere Pupille, sie vergrößert sich, als rängen wir im Dunkeln nach Licht. Hormonausschüttungen, wie die des Adrenalins, machen aus uns in den meisten Fällen, stocken wir nicht vor Angst, rasende Furien, die sich und ihre Lieben bis aufs Blut verteidigen würden. Was uns wiederum darin entlarvt, dass wir uns nicht nur durch das Unbekannte, das Fremde definieren, sondern dass wir uns auch als zugehörig erfahren, als nicht monadisch, Säugende und Sorgende sind. All das, was wir seit der Entstehung im Mutterbauch durch unsere uns gegebenen Sinne erleben. Kultur und Familie spielen dabei die größte Rolle. Und auch sonst einfach alles, was zur Sozialisation eines Menschen hinzugezählt werden darf. Darüber hinaus betrachtet die Wissenschaft noch andere uns prägende Aspekte, die sich mit den Memen als auch mit dem genetischen Gedächtnis beschäftigen. Der Evolution im weitesten Sinne. Also der Veränderung / Transformation der Wesen in Abhängigkeit zu ihrer sich ebenso stets verändernden Umwelt. Und es scheint, trotz allen Wandeln, denen wir unterliegen, so etwas wie Urformen des Horrors zu geben. Ängste, die entgegen allen Fortschritts, oder auch wegen diesem, doch in ihrem Wesen, seit den ersten Menschen und der Sage vom Garten Eden, in der Welt existieren, wenn sie auch in ihrer Erscheinungsform sich stets verändernde sind. Wir erkannten, dass wir nackt waren. Und somit zog neben dem Eros auch der Horror in die Welt.

Nehmen wir nur einmal diverse Protagonisten, die uns nach dem Leben trachten, um ihren eigenen Bestand zu sichern, wie sie in der Phantastik, der Grusel- und Horrorliteratur dieser Welt zu finden sind. Seien es Vampire, Werwölfe, Hexen, Zombies, Ghule, Dämonen, Mumien, Geister und andere bizarre Wesen. Einige entstammen den Märchen. Andere wieder Reichen, die dem Glauben entspringen. Und ganz andere lassen uns spüren, dass der Tod ein jenseitig eigenes, undurchmessbares Reich darstellt. All jenen Aufgezählten begegnen wir jedoch schon in diesem Leben, zwischen Himmel und Hölle, je sensibler wir sind. Wir können sie uns vorstellen, wir phantasieren, vermuten, spüren, nehmen wahr. Wir werden ansichtig. Sie beleben uns, wie wir sie beleben. Und beileibe, das ist das, was wir seit frühester Kindheit können.

Da ist was.

Was ist das?

Das Was. Ein Etwas. Das noch Undefinierte / Unbekannte. Der Phantasie Freigegebene. Ein Es. Wie wir es seit eh und je kennen, ohne es zu kennen. Oder wie es uns Stephen King mit seinem Roman Es eindringlich aus der Sicht von einer Gruppe Kindern geschildert hat, die sich und ihre Sexualität in ihrer, der sie umgebenden Umwelt, entdecken. Hier geschieht dies besonders in Abgrenzung zu den Eltern und allen anderen erwachsenen Einwohnern der Stadt. Zusammengenommen, und das bildet die Kluft: zu den ihrer Kindheit entwachsenen. Wir entdecken, decouvrieren, blößen und werden geblößt.

Die Sexualität des Menschen, das Erwachen jenes Selbst, das des anderen Geschlechts und des eigenen gewahr wird, des Lebens und woher es kommt, wie es sich gebiert und stirbt, und immer wieder gebiert. Der Eros oder die Erotik, die sich mit dem Trieb Thanatos verbindet. Der Liebesakt, der schon lange als ‘kleiner Tod’ bezeichnet wird, trägt dieses voneinander untrennbare, sich bedingende Verhältnis vom Horror und der Erotik in sich.

Den Begriff der Erotik möchte ich hierbei jedoch als einen in seiner Erscheinungsform zu Tage tretenden verstanden wissen, also als einen, der als konturierender fungiert, der seine (Vor-)Züge darbietet und preisgibt, während der Begriff des Eros für mich der grundlegend motivierende, der lebenskonstituierende ist.

Schon Poe formulierte einst, durch den Tod seiner jungen Frau geprägt:

„Der Tod einer schönen jungen Frau ist ohne Zweifel das poetischste Thema der Welt.“

Morbidität und nekrophile Züge, wie wir sie auch in Poes Werken finden, sind besonders in der Horrorliteratur keine Seltenheit. Die Monstrositäten, die wir uns erschreiben und erlesen, sind so faszinierend und phantastisch, wie wir selbst es sind. Dass hierbei dem Begriff des Ekels ein tragender Stellenwert eingeräumt werden muss, liegt, denke ich, nahe, da sich diverse Ängste in diesem auf mannigfaltige Weise äußern. Der Ekel vor Tieren, vor Essen, dem Geschlecht, vor anderen Menschen, vor Krankheiten usw.. All das, was uns aus Erfahrung von Generation zu Generation noch immer vorsichtig sein lässt. Wie wir z.B. nichts Verdorbenes oder uns ganz und gar Fremdes, hat es noch niemals unseren Magen-Darm-Trakt passiert, essen oder erst einmal nur mit Vorsicht genießen sollten. Unser Magen reagiert sofort. Auch Tiere können uns gefährlich werden, wie wir wissen. Sporen, Bakterien und Viren können uns krank machen. Die Überträger sind nicht selten wir. Die Anderen. Der Andere. Alles, was uns daran erinnert, dass wir sterblich und endlich sind. Der Ekel vor dem Leben, dem Zerfall. Dass das aber alles mit irrationalen Ängsten einhergehen kann, wie sie sich z.B. in Phobien und Zwangshandlungen manifestieren und äußern, liegt nicht selten an wiederum anderen, heutigen neuen Ängsten, die den Menschen im Zuge des Fortschritts in die Mangel nehmen, die ihrerseits an eben diesen Urängsten und ihren Erscheinungsformen rühren. Interessant ist dabei aber doch, obwohl wir mit unseren Vorfahren nicht mehr die selben Habitate, und wie sie in ihnen lebten und überlebten, teilen, dass wir uns grün darüber sind, dass die Fressen-und-Gefressenwerden-Angst, jene, die uns unsere Sterblichkeit besonders vor Augen führt, eine nicht zu eliminierende und ständig vorherrschende ist. Waren es früher Tiere, die uns potenziell reißen konnten, ist es heute die Diktatur des Kapitalismus.

Und wieder, spätestens mit der Industrialisierung, verloren Mann und Frau ihre geschlechtliche Identität auf eine neue und andere schmerzliche Weise, die bis dahin schon durch die kirchliche Doktrin und ihre Teufelspsychose gemartert worden war. Sie verloren ihre aus der Trennung voneinander resultierende, aus sich selbst gegebene Vorstellungskraft, die eine sich gegenseitig nährende ist. Wir wurden selbst zur Ware. Zu einer Stuff-only-Gesellschaft. Unser Sexus, die eigentliche Kraft, die uns in allen Lebensbereichen unsere Positionen finden lässt und befeuert, ausverkauft. BDSM-Praktiken, in denen wir unsere Sexualität und unseren Schmerz vor allem durch Rollenspielhierarchien erfahren, in denen das unschuldige, das liebkosende Element völlig fehlt, sind die Folge. Sie sind gar zu einer Erlebniskultur von wirtschaftlichem Interesse geworden. Zwar ist die uns gegebene Fähigkeit zur Pervertierung etwas, das es uns auch ermöglicht weiterzumachen, die Dinge für uns zu wandeln, sie zu nutzen, wie sie uns benutzen, jedoch erinnert es uns allenfalls an einen Schmerz durch einen gesetzten Schmerz. Wir lernen darüber nicht, ihn auch wieder durch die Freuden und Zuwendungen zu empfinden, die wir in der Vereinigung beim Liebesakt erfahren. Und zwar dann, wenn wir uns nicht allein nur in eingleisigen Rollen begegnen, die eine Repräsentative eines Systems darstellen, das uns unentwegt Gewalt antut. Dann, wenn wir uns im und durch den Liebesakt mit oder ohne Rollenspiele demaskieren, fern eines jeglichen Leistungsdrucks. Ohne den auszukommen wir immer weniger in der Lage sind und sein werden. Wir verunmöglichen uns.

Dem steht die Literatur, stehen die Künste entgegen. Vielleicht letzte Bastionen, Spiegel unserer Seele, solange wir das Du noch aufrecht erhalten können, die diese, unsere Monstrositäten verstoffwechseln, in denen wir uns spiegeln und uns auch erkennen. Das, was uns Angst macht, uns durchdekliniert und eintreibt. Wir müssen selbst zu Monstern werden, um zu verstehen, was das sich Zeigende ist. Wir phantasieren, pervertieren und erzählen. Und das ist auch notwendig. Der Horror, dem wir uns seit der Verweisung aus dem Paradiese, dem hortus conclusus ausgesetzt sehen, erfährt durch die Literatur Kontur. Die Erotik kann hierbei als ein evozierendes Moment verstanden werden, als auch als ein Verletzliches, Bedrohtes. Dass Mann und Frau, die Geschlechter selbst in all ihren Attributen ebenso monströse und bizarre Erscheinungsformen annehmen können, steht außer Frage, und gilt ebenso für ihre Fähigkeiten, die sie darüber und in der Konfrontation mit dem Horror ausbilden und erlangen. Anders wiederum verhält es sich, sind sie, die Geschlechter, selbst Gegenstand des Horrors, der aus ihnen erwächst. Eddie M. Angerhubers Visionen von Eden gibt hierfür ein grausames Beispiel. Sie erzählt von einer verfallenen Post-Armageddon-Stadt, in der nur wenige überlebt haben. Und das nur, weil sie sich vom Fleisch der Toten ernähren, die sie noch finden – und deshalb auch weiterhin überleben – und sich zu einer neuen Art entwickeln, die doch nur als Kinder der Untergegangen zu verstehen ist. Als tierisch, hungrig und krank werden sie beschrieben. Wir finden Frauenkörper in Verschlägen, denen teilweise der Kopf, die Arme und Beine fehlen, die von einer Art Elektromotor betrieben werden, da Kabel in ihre Stümpfe laufen, der sie durch unregelmäßige Entladungen zu heftigen Zuckungen veranlasst. Torsi, die von invaliden Männern zum Kopulieren genutzt werden. Wir befinden uns in einer Welt, in der der Mensch sich mutterseelenallein vorfindet. Hier hat der Horror die Erotik sogar getilgt. Und doch ist sie im Eros, in den toten Torsi der Frauen noch enthalten, auch wenn sie nicht wirklich stattfindet. Da es tatsächlich ausschließlich Frauenkörper sind. Keine Männer-, Kinder- oder Tierkörper. Oder gar etwas anderes. Wenn auch beidseitig alle Reanimationsversuche fehlgehen. Die der Männer, da sie mit einem toten Frauenkörper kopulieren. Wie auch die Körper der Frauen, die durch die Stromstöße nur scheinbar belebt werden. Es zeigt, dass wir vermöge sind in den feindlichsten und unwirtlichsten Umgebungen zu überleben. Doch zu welchem Preis?

Schauen wir uns den Lovecraftschen Horror an, finden wir uns in ebenso lebensfeindlichen Welten wieder, in einem Kosmos „der großen Alten“, in dem wir uns weniger als Pfifferlinge wert fühlen. Hochgradig unwirtliche Welten, in denen aber doch, schaut man sich Studien an, die das Werk H. P. Lovecrafts unter Zuhilfenahme seiner Biographie betrachten, der Eros, die Erotik eine ganz und gar pervertierte Rolle spielt. Wir wissen, dass sich der Autor vor allem, was aus dem Meer kommt, geekelt hat. Wir wissen, dass es ihm Zeit seines Lebens kaum vergönnt war eine gesunde und intakte Beziehung zu führen. Worte der Liebe waren ihm unmöglich. Wir wissen, dass seine Mutter ihm Mädchenkleider angezogen hat. Nun mag man einwenden, dass ein Werk nicht den biographischen Schlüssel zur Not hat, es mit einem solchen gar zu einer eindimensionalen Leseerfahrung im Modus einer Psychoanalyse kommt. Aber doch ist auch das ein Weg ein Werk zu erfahren. Besonders die Fischartigen wie z.B. Cthulhu oder Dagon, die dem Meer zugeordnet sind, werden als abnorme Wesen ausgedeutet, die in ihrer Gestalt, unter genau dieser Prämisse, einer Sicht auf beide Geschlechter entspringen, die als bedrohlich, vernichtend, mit einem starken Ekel einhergehend empfunden wird. Ähnlich wie wir es auch von der vagina dentata kennen. Oder von den Ungeheuern Charybdis und Skylla aus Homers Odyssee, die jene Meeresenge bewachen, die in der Argonautensage von Iason mit der Argo passiert wird.

Ganz anders verhält es sich mit dem Vampir, unserem wohl populärsten Wesen der Grusel-, Schauer- und Horrorliteratur, der hier herausgehoben sei, obgleich es noch viele andere faszinierende Kreaturen gibt. So hat Joseph Sheridan Le Fanu mit seiner 1872 erschienenen Novelle Carmilla zu jener Zeit einen eigenen, heute fast vergessenen Vampirmythos in die Welt gehoben, der unserem Gedächtnis einen Prototyp des weiblichen Vampirs zurückgibt, der noch anderen Gesetzen gehorcht, als jene, die wir nunmehr kennen, die stark von Stokers Mythos beeinflusst sind, dem genau dieses Werk für seinen epochemachenden Dracula zur Inspirationsquelle wurde. Und hat sich nicht auch Lawrence Durrell in Pursewardens Erzählung schwärmerisch ausgelassen über ein Rendezvous mit einem Vampir? Und noch weit davor Philostratos, der die Geschichte einer untoten Empuse erzählt, die nach allen Regeln der Kunst einen schönen Jüngling verführt? – Insbesondere die Romantiker waren es, die die erotischen Vamps zur Metapher erblühen ließen. Die vielleicht sinnlichste Vampirin aller Zeiten wurde jedoch von Théophile Gautier ersonnen: Die Kurtisane Clarimonde, die den jungen Priester Romuald in Liebesraserei versetzt. „Ich habe geliebt wie kein Weltlicher jemals geliebt hat“, gesteht er, dem Clarimonde mit einem Stich ihrer goldenen Haarnadel die Adern öffnet. Behende stürzt sie sich auf die Wunde, die sie mit dem Ausdruck unbeschreiblicher Wollust aussaugt. Ein Wesen also, das es schon immer vermochte in allen Genres der schreibenden Zunft zu hausen, nach dem Blute zu gieren, aus dem es entspringt und dabei, durch verschiedene Kulturen geprägt, seine ganz eigene Genese erfahren hat. Das nicht tot zu kriegen ist. Wie denn auch?! Ihm / ihr beikommen? Ein Wesen pfählen, dass Sie immer noch an den Menschen erinnert, den Sie lieben? Würden Sie, ohne mit der Wimper zu zucken, Ihre Frau, Ihren Mann, Ihren Vater, Ihre Mutter oder Ihr Kind pfählen? Schaffen Sie das? Ich vermute: Sie schaffen es nicht. Vielleicht würden Sie sich sogar beißen lassen, nur um weiterhin mit ihren Lieben sein zu können. Das ist menschlich. Und Fluch zugleich. Vielleicht aber auch ein Segen, manchmal, wenn es gut ist, dass Blut dicker als Wasser ist. Denn was wären wir ohne Bande, Familie, Weggefährten, wenn wir niemals so etwas wie Bindung erfahren hätten? Wahrscheinlich das, was ein Vampir nicht sein will, was ihm über die vielen Jahrhunderte, die er durchwandelt, zum Fluch, zur ewigen Hölle wird, das er selbst ist und seit jeher schon war: ein Vampir. Abhängig vom Blut derer, die es noch nicht sind, jedoch stets Gefahr laufen, es zu werden. Und so erfüllt, in all seinen diversen Erscheinungsformen, in seinem Bedürfnis nach Erlösung, das aus seinem Daseinszustand resultiert, besonders der Vampir für mich den Superlativ einer Sirene. Er ist die Personifizierung des betörend abgründigen Gesangs jener fischschwänzig Wissenden, die uns und unser Geschlecht ganz gut kennen, die nicht wenige in die Tiefe gerissen haben, haben sie es auf ihrer Odyssee nicht schnell genug geschafft, sich die Ohren mit Wachs zu verpropfen. An was es uns mangelt, nach was es uns ruft, zeigt uns der Vampir auf eine gewaltige Weise, besonders weil das mit Blut geschriebene Elektrokardiogramm feinste Ausschläge nachzeichnet, wie uns die Autoren der einzelnen Genres lesen lassen. So auch Michael Perkampus, der in dieser kurzen Impression, das Wesen der Liebe und die mit ihr verbundene Furcht zu zeigen vermag:

Vampyradonna

„Wie soll ich dich denn lieben, wenn du mich andauernd beißt!“
Die Vampirin erschrickt, nackt. Ihr Mund ist erschöpft, ihre Brüste schneeweiß.
„Schau dir diese Sauerei nur an!“ Er hält seinen Arm vom Körper weg, sie schaut dem Tropfen des Blutes zu. Sie weiß nicht, was ihm denn diesen Glanz aus den Augen raubt, der sie überhaupt veranlasste, ihm zu folgen. Ist es das herausrinnende Blut? Ja, sein Blut hat anderes zu tun, als seine Leidenschaft wieder aufzurichten. Es geht um sein Leben, um ein Leben, das sie nicht kennt.
„Wenn ich von dir lasse, wirst du sterben.“
Er tollt herum, jetzt außer sich, weil er weiß, dass sie recht hat. Er dreht sich im Kreis.
„Jetzt ist es genug! Du musst mir gehören!“
Er sackt auf die Knie, der Arm ist angebissen. Wenn er so an sich herabschaut, dann sieht er noch viel mehr Wunden. Sie geht langsam auf ihn zu, ganz das verschüchterte Ungeheuer.
„Geh weg!“
„Wenn du das wirklich wolltest …“
Die Bäume rauschen, bilden einen dunklen Chor. Die Nacht ist mondhell, die Vampirin kommt näher. Er kniet, sie kommt näher, aber zögernd, denn sie will ihm nichts tun. „Du verblutest, wenn ich nicht …“
Nur Blut; ihm schwinden die Sinne.
„Wenn ich nicht weitermache“, beendet sie den Satz.
„Was bist du?“
„Aber ich bin doch nur wegen der Nacht und wegen dir hier!“
Schon kommt der Tod, seine Arme fuchteln, Blutrubine spritzen davon, während er fällt, nach frischem Eisen duftet. Sie hat ihn schwer erwischt, das kann man nicht leugnen. Er verblutet und sie kann nichts weiter tun, als sich so allein neben der Leiche zu fürchten.

Ein weiteres, kaum bekanntes aber doch sehr spannendes Kuriosum – und daher sei es hier aufgeführt – ist das Old-Hex-Syndrom, das dem des Vampirs in seinem Wesen verwandt ist und das wir am ehesten bei den Romantikern verstoffwechselt sehen. Eine wahre Horror-Erscheinung. Nicht wirklich ergründet, befiel es viele Schreiber zu jener Zeit. Vor allem junge Männer, die zwischen 20 und 35 Jahre alt waren. Heute ist dieses Phänomen auch in medizinischen Fachkreisen durchaus bekannt. Es beschreibt den Augenblick zwischen Wachsein und Schlaf, wenn die Seele langsam abgleitet – wir wissen nicht, wohin. Auf einmal erscheint sie: ein altes Weib: die Hexe, obgleich sie zuvor vielleicht eine junge schöne Verführerin war. Sie nähert sich dem Bett, umkrallt mit eisernem Griff die Schulter des Beinaheschlafenden, legt sich wie Blei auf die Brust des jungen Mannes – ein völlig realer Eindruck, wie Walter von Lucadou von angsterfüllten Patienten erfuhr. Das Geschehen ist unheimlich, grauenhaft: das Atmen fällt schwer, der Bedrängte bekommt keine Luft. Das erinnert stark an die Kippbilder, die uns zu spontanen Gestalt- bzw. Wahrnehmungswechseln anregen. Wie es auch Charles Baudelaire in Die Verwandlung des Vampirs zu zeigen imstande war:

Das Weib mit rosigem Mund begann den Leib zu recken,
Wie sich die Schlange dreht auf heißem Kohlenbecken, …

Wir haben Ängste. Ein aus der Erkenntnis kommendes Vermögen, das unserer Fähigkeit entstammt, uns im Anderen zu spiegeln. Der Du-und-Ich-Annahme, die uns alle in einem frühen Stadium unseres Lebens ereilt und mir nichts anderes bedeutet, als dass wir diesen Zustand, in dem wir kurze Zeit als Neugeborene noch waren, in dem es kein Außen und Innen gab, in dem wir noch mit der Welt untrennbar verwoben alles waren: die Mutter, der Vater, das Kind, der Raum, das Geräusch des Baumes vor dem Fenster, der Windzug, der Duft der frisch gewaschenen Kleidung, das Kleidchen selbst …, wieder versuchen. Wir sollten uns durchspielen, wie es die Autoren in ihren Geschichten tun bzw. ihre Protagonisten auch mit ihnen. Wir sollten auch verstehen, warum. Um dann nicht mehr mit der Wimper zu zucken, weil man uns die Augen auswäscht, bis wir uns nicht mehr sehen, zu blinden Spiegeln werden, da uns die Sinne versiegelt wurden. Daher noch einmal: Der Sexus bestimmt unser Handeln. Ebenso nehme ich an: Auch Ängste tun das. Notwendigerweise! Politisch geschürte Ängste, die nichts anders zur Grundlage haben als ein wirtschaftliches Interesse, wiederum, wie bereits erwähnt, martern unser Geschlecht.

Und so kann ich mich fragen, ob es besonders das Horrorgenre ist, das am häufigsten mit erotischen Konnotationen und Expliziten durchwirkt ist, das sich nicht selten den Vorwurf gefallen lassen muss, als besonders pornes Genre zu gelten. Woran sich mir die wiederum die Frage schließt, was sind die Grenzen eines Genres? Was sind die Kriterien, die erfüllt sein müssen, um von einem solchen, von uns bestimmten zu sprechen? Und wo nehmen wir sie her, um Zuweisungen zu machen? Meiner Auffassung nach gibt es sie nicht. Denn je mehr ich mich diesen Grenzen nähere, umso mehr weichen sie an vielen Stellen auf, werden durchlässig. Dass wir aber – bleiben wir der Einfachheit halber beim Genrebegriff – besonders im Horrorgenre weite Gefühlsspektren aufgeworfen vorfinden, wie wir es ebenso von der Erotischen Literatur kennen, mag an der existenziellen Verbindung der uns von Geburt an gegebenen zwei Fähigkeiten liegen: dem Vermögen Furcht und Horror zu empfinden, als auch vermöge zu sein, uns in einer Weise zu begegnen, die dem Gott Eros manchmal in nichts nachsteht. Schon gar nicht in der Literatur. Schon Platon war so schlau, fiktional oder nicht, Sokrates dem Leser von Diotimas Unterweisungen in Sachen Eros künden zu lassen. Und so kann ich festhalten: Die Horror-Literatur bietet die Erotik auf eine Weise feil, wie es andere Genres nicht tun. Wir empfinden ihn besonders durch unser Geschlecht. Dem Ich und Du. Weil es uns angeht, uns etwas versehrt und gefährdet. Der Horror und die Erotik. Das will zusammen. Will verstoffwechselt, pervertiert und gesponnen werden. Zwei enorme Sujets, die miteinander kollidieren und fusionieren. Was dem Einen zum Dirnenvorwurf gereicht, ist mir ein breites Spektrum, dessen Farben vom Existenzialistischen bis zum Phantastischen reichen.

Dieser Essay erschien bereits im >>>IF Magazin für angewandte Fantastik #666 Horror: Fünfzehn Erzählungen schlagen einen Bogen von der klassischen Geistergeschichte hin zum Horror des Realen, ohne dabei den Boden des Fantastischen zu verlassen. Mit Stories von: Adam Nevill, Bernhard Reicher, Christian Weis, Erik R. Andara, Holger Vos, Ina Elbracht, Jörg Kleudgen, Markus Korb, Michael Buttler, Michael Perkampus, Philipp Schaab, Tobias Bachmann, Tobias Reckermann, Ulf R. Berlin und Uwe Durst. Artikel: Adam Nevill, Albera Anders, Björn Bischoff, Erik R. Andara, Frank Duwald, Karin Reddemann, Michael Perkampus und Tobias Reckermann. Illustrationen: Daniel Bechthold, Erik R. Andara, Jonathan Myers, Jürgen Höreth, Peter Davey, Serhiy Krykun, Thomas Hofmann und Ulf R. Berlin.