Schlagwort-Archive: Musik

Wie klang Buddy Bolden?

Die Wurzeln des amerikanischen Jazz reichen bis zur Jahrhundertwende zurück… nicht in dieses, sondern ins letzte Jahrhundert.

Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hörte man in New Orleans häufig ein Kornett (das einer Trompete ähnelt) laut von den Parkbänken und aus den Fenstern der Tanzsäle schmettern. Ohne formale Ausbildung entwickelte Charles “Buddy” Bolden einen einzigartigen Improvisationsstil auf seinem Horn. Im Wesentlichen ebnete er dem Jazz den Weg, indem er ländlichen Blues, Spirituals und Ragtime-Musik für Blechblasinstrumente arrangierte. Die Legende besagt, dass er traditionelle Lieder mit seinen eigenen Improvisationen neu arrangierte und so einen kraftvollen neuen Sound schuf.

Buddy Bolden begann seine Karriere mit Auftritten in der Jack Laines Reliance Brass Band. Jack Laines wird oft als der “Patriarch des Jazz” bezeichnet. Mitte der 1890er Jahre gründete Bolden eine Reihe eigener Bands auf der Suche nach einer perfekten Klangmischung. Gegen Ende des Jahrhunderts fand er sie. Die Buddy Bolden Band bestand aus Kornett, Gitarre, Posaune, Bass, zwei Klarinetten und Schlagzeug. Seine Band spielte in der Innenstadt von New Orleans in überfüllten Clubs im berüchtigten Rotlichtviertel von Storyville.

Von 1900 bis 1906 war die Buddy Bolden Band die größte Attraktion in New Orleans. Ähnlich wie heutige Rap-Sänger wertete Charles “Buddy” Bolden seinen Status und seine Identität auf, indem er sich zunächst “Kid” und später… “King” Bolden nannte. In dieser Zeit verfolgte er zwei Interessen wie ein Besessener: Alkohol und Frauen.

Angesichts von Ruhm, Verantwortung, neuen Bands, die mit ihm konkurrierten, und dem Kampf, seine Musik frisch, innovativ und lebendig zu halten, geriet Bolden 1906 in eine Sackgasse. Depressionen, Hoffnungslosigkeit und die dunkle Anziehungskraft des Alkohols führten zu starken Kopfschmerzen und Paranoia (eine unberechenbare Angst vor seinem Kornett war seiner Musik wahrscheinlich nicht zuträglich). Er wurde so “hirnkrank”, dass die Ärzte ihn ans Bett fesselten.

1907 hatte Bolden seinen letzten öffentlichen Auftritt mit der Eagle Band bei der Parade zum Tag der Arbeit in New Orleans. Während der Parade begann er offenbar, Damen in seiner Nähe anzuschreien und hatte Schaum vor dem Mund. Sein Zustand verschlimmerte sich und er wurde in die Irrenanstalt eingewiesen. Dort wurden seine Halluzinationen und Gewalttätigkeiten immer schlimmer, bis er am 5. Juni 1907 endgültig in das State Insane Asylum in Jackson, Lousiana, eingewiesen wurde. Die Anstalt blieb mehr als 25 Jahre lang sein Zuhause, bevor er in einem Zustand völliger Niedergeschlagenheit und Unzurechnungsfähigkeit verstarb. Sein Leichnam wurde auf dem Holte Cemetery, einem Armenfriedhof in New Orleans, beigesetzt.

Leider gibt es keine erhaltenen Aufnahmen von Buddy Bolden, auf denen er spielt, obwohl er einige Wachszylinderaufnahmen gemacht haben soll. Diese Aufnahmen wurden wahrscheinlich von Oskar Zahn, einem Lebensmittelhändler und Fan der Band, aufgenommen, der einen Edison-Phonographen mit aufsteckbarem Aufnahmekopf besaß. Leider wurden der oder die Zylinder nie gefunden, und mindestens zwei Exemplare sind vermutlich entweder durch schlechte Lagerung oder durch einen Scheunenbrand zerstört worden, so dass die einzige bekannte Aufnahme eines der prominentesten Gründerväter des Jazz als verloren gelten muss.

Aber viele Leute, die mit Bolden gespielt haben und vielleicht sogar auf diesen Walzen waren, haben später Platten aufgenommen. Darüber hinaus fanden zahlreiche New Orleans-Musiker der nächsten Generation den Weg ins Studio.

Diejenigen, die seine Musik kannten, sagten, er habe einen “lauten, bluesigen Ton gespielt und einen Großteil seiner Musik improvisiert”. Bolden gilt als der erste “König” des New Orleans Jazz und war die Inspiration für spätere Jazzgrößen wie King Oliver, Kid Ory und Louis Armstrong.

Auch wenn wir vielleicht nie erfahren werden, wie Bolden geklungen hat, so können wir doch eine Art Venn-Mengendiagramm erstellen, indem wir die Attribute von Boldens Stil anhand von Augenzeugenberichten, Aufnahmen von Boldens Bandkollegen und Zeitgenossen sowie Aufnahmen von Melodien, die mit seiner Band in Verbindung stehen, eingrenzen und so zumindest ein Verständnis für den Kontext schaffen, in dem Bolden existierte und einen solchen Einfluss ausübte.

Das erste, was man über Boldens Band wissen sollte, ist, dass sie keine Band war, die vom Blatt ablas und dass sie in vielen Fällen improvisierte. Während von Boldens Rivalen, dem kreolischen Bandleader Joe Robichaux aus New Orleans, fast die gesamte musikalische Bibliothek erhalten ist, benutzte die Bolden-Band keine Noten, die wir studieren können. Die fehlende Fähigkeit, Noten zu lesen, wurde jedoch durch den Elan und die frischen Ideen Boldens wettgemacht, die Teil der DNA des Jazz selbst wurden.

Bolden spielte mit viel Seele. Aus realen Berichten und dem, was wir über die sozialen Auswirkungen der damaligen Zeit wissen, können wir verstehen, dass er und seine Band einen weniger raffinierten, bodenständigeren und schmutzigeren Ansatz verfolgten.

Obwohl die Bolden-Band keine Gruppe war, die Noten las, spielte sie die Hits der Zeit und hielt sich an die populären Musiktrends, um den Tänzern in der Funky Butt Hall und im Lincoln Park zu gefallen.

Der prominenteste Kornettist, der einem in den Sinn kommt, wenn man über diesen Sound nachdenkt, ist Freddy ‘King’ Keppard (er wurde nach Boldens Einweisung in das Louisiana State Asylum nach ihm zum ‘King’ gekrönt), der mit einem gut definierten ‘in-your-face’-Sound spielte, wie seine vielen großartigen Aufnahmen mit Doc Cookes Band in Chicago zeigen.

Apropos Könige: Buddy Bolden war auch dafür bekannt, dass er Dämpfer benutzte. Wenn man also den Dämpferstil im frühen New Orleans Jazz bestimmen will, braucht man nicht weiter zu suchen als nach einigen der frühesten und besten Aufnahmen der New Orleans Dämpfertechnik, die der legendäre Joe ‘King’ Oliver mit seiner Creole Jazz Band spielte.

Doom Metal: Die Anti-Hipster-Mucke

Es gibt zwei entscheidende Formeln, über die niemand spricht: Erstens; Metal unterscheidet sich von Hard Rock in erster Linie durch das Ausbeinen des Blues. Das heißt: je mehr Blues enthalten ist, desto weniger Metal ist es. Stattdessen spielen die klassischen Skalen die Hauptrolle. Metal ist also der klassischen Musik verwandt, Hard Rock dem Blues.

Die zweite Formel betrifft das “heavy” im Metal, das ja ohnehin kaum mehr genannt wird, und das aus gutem Grund. Je schneller ein Song ist, desto weniger heavy kann er sein. Und die meisten mögen ihren Metal schnell. So wie im Punk, der die Rotzigkeit und Einfachheit geliefert hat, um eben auch ein Wörtchen mitzureden. Dass der Punk aus dem Rock ‘n’ Roll kommt und der dann auch wieder aus dem Blues … geschenkt. Und zwar schon allein deshalb, weil der Rock ‘n’ Roll eine erste Rebellion gegen den Blues war. So wie Punk gegen den bluesbasierten Stadionrock wetterte. Nur um den Kreis zu schließen.

Probleme des Doom Metal

Die Probleme des Doom Metal beginnen mit seinem Tempo. So etwas wie einen Speed Doom Metal gibt es nicht, auch wenn es gar nicht selten vorkommt, dass wir einen swingenden Uptempo-Headbanger vor uns haben, der dennoch tief im Doom verankert ist. Aber abgesehen von einer gewissen Atmosphäre, die fast noch wichtiger ist als die eigentliche Geschwindigkeit, ist der Doom Metal vor allem eins: schleichender, kriechender, langsamer Metal.

Als wolle er der Metal-Überwelt und den populären Konnotationen trotzen, treibt der Doom Metal die Tempi konsequent bis an ihre untersten Grenzen, so wie Grindcore-Devies und Beebop-Jazzer die Musik ebenfalls bis an die Grenzen des Möglichen getrieben haben (lustig, denn die Jazz-Dudes aus den 50er Jahren sind nach wie vor die unbestrittenen Geschwindigkeitskönige). Das liegt nicht nur am Sound, sondern auch an den Texten: Doom Metal soll deprimierend sein. Doom Metal hat das Etikett “depressiv-suizidal” schon lange vor dem depressiv-suizidalen Black Metal für sich beansprucht und leistet mit Leichtigkeit bessere Arbeit, wenn es darum geht, die anämischen und schwarz denkenden Leute davon zu überzeugen, ein Fass aufzumachen. Doom wird dich auf den schwärzesten Sand eines Billionen Jahre alten, toten Planeten werfen, damit du dort auf ewig verrottest, von Gott gehasst und von allen vergessen, um für immer zu leiden, aber niemals zu sterben.

Die Wahrheit ist, dass solche Bilder so weit vom wirklichen Elend des Lebens entfernt sind, dass es gar nicht wenige gibt, die den Doom als Emo des Metal etikettieren, obwohl es vielmehr zutrifft, ihn als Blues des Metal – eben als den Doom des Metal – zu bezeichnen.

Vor den ganzen poppigen Klängen der 40er und 50er Jahre war der Blues das Mittel der Wahl, wenn es darum ging, sich eine Grube in den Schädel zu bohren. Der Doom Metal steigerte das Ganze dann mindestens mal auf 13 und bietet bis heute ein Ausmaß an Elend, wie es die Menschheit noch nie erlebt hat, nun, abgesehen von der Wirklichkeit.

Das heißt, wenn sich Doom-Acts dazu entschließen, es tatsächlich so weit zu treiben: Pentagram haben sich sicherlich nie in Richtung Funeral Doom bewegt, und es scheint, dass viele moderne Bands des Genres vergessen haben, dass die ursprünglichen Doomster – Sabbath, Lucifer’s Friend, Pentagram, False Prophet usw. – klanglich sehr vielfältig waren (Sabbath haben einst eine Mundharmonika benutz, und: ist “Fairies Wear Boots” nicht eher ein rockig-souliger Jazz-Song?). Trotzdem schafften sie es, absolut düster zu klingen.

Und Buffalo hat allen in den Arsch getreten.

Die Ursprünge liegen im Jazz

Das bringt mich zu einem weiteren Teilproblem: Stoner- und Doom-Bands scheinen zu vergessen, dass die angeblichen Bluesrock-Wurzeln von Sabbath eigentlich näher am Jazz lagen und dass der größte Teil des “psychedelischen Blues”, an den sie sich erinnern, von Zeitgenossen wie Led Zeppelin, aber auch Buffalo, Cactus, Coven, Blue Cheer und Randy Holden, Captain Beyond, Lord Sir Baltimore, Head Machine, Mountain und ähnlichen gespielt wurde. Und Buffalo hat allen in den Arsch getreten. Buffalo? Oh Mann, ich könnte den ganzen Tag darüber schreiben, dass Buffalo der Inbegriff der psychedelischen Bluesrock-Band der 70er Jahre war.

Black Sabbath; 1970

Aber es waren Sabbath mit ihren bluesigen, jazzigen Riffs, die alles in Gang brachten. Bill Ward kannte sich mit Jazz ziemlich gut aus, und Iommis Hände waren zweifelsohne Jazzhände. Jeder Doomster, der etwas auf sich hält, muss sich mit Jazzbands vertraut machen, wenn er jemals Sabbathian Doom Metal “richtig” spielen will. Selbst die allmächtigen Buffalo und der Rest der psychedelischen 70er Jahre waren nicht annähernd genug mit dieser Tatsache vertraut.

Und das ist eines der Probleme in der Beziehung zwischen Doom und dem Rest des Metals. Doomster sind so sehr im psychedelischen Blues verwurzelt (und die echten Sabbath-Worshipper sollten es im Jazz sein), dass man nicht umhin kommt, sich daran zu erinnern, was die moderne Metalszene überhaupt erst auf den Plan gebracht hat: Punk. Punk hat Ärsche getreten. Punk tritt überhaupt in den Arsch. Punk wird auch weiterhin Arsch treten. Seine Grundlage waren ein paar Rocker-Kids, die den Rock’n’Roll der 50er Jahre spielen wollten, es aber nicht konnten, weil sie zu schlecht an ihren Instrumenten waren. Also vereinfachten sie ihn auf seine nackten Wurzeln: Drei Akkorde und die Wahrheit*. Dann haben sie ihn beschleunigt (so wie es bereits der Jazz vorgemacht hatte). Es war diese Geschwindigkeitskorrektur, die den Metal wohl vor seiner eigenen Verdammnis in den 70ern bewahrte (da viele der so genannten “Mod-Metal”-Bands in den 70ern wenig bis gar keine Publicity bekamen und der Begriff “Heavy Metal” keiner war, zu dem man sich bekannte, wenn man es darauf abgesehen hatte, eines Tages im Radio gespielt zu werden), und so begann die NWOBHM.

Und erst als diese New Wave Of British Heavy Metal auf den Plan trat, wurde auch Doom Metal zu einer eigentlichen Sache. In den 70er Jahren war praktisch der gesamte Heavy Metal Doom Metal oder Proto-Doom (eine noch frühere Bezeichnung für Metal war “Downer Rock”), und als die NWOBHM den ganzen Blues/Jazz-Unsinn abschaffte, der alten Metal-Welle den Rücken kehrte und sie auf ein Motorrad packte, dachten viele junge Leute, wie komisch es doch eigentlich war, dass so schwere Musik bisher so langsam gewesen ist.

Wir brauchten zu dieser Zeit Geschwindigkeit, Kraft, Aggression, Wut! Damals, ’78, war langsame Musik die lahmarschige Norm und das schnellste, das es gab, war sowas wie Judas Priests “Exciter”. Vielleicht hatte den Kids einst gerade noch “Symptom of the Universe” gefallen, aber jetzt brauchten die Leute zur Abwechslung mal etwas Schnelles. Die Punks hatten mit dem Hardcore schließlich auch bekommen, was sie wollten. Warum also nicht etwas mit diesem Metal anfangen?

Der Wandel

Allerdings stellten schon ’82, als alles auf der Kippe stand, einige Metalbands fest, dass sie Sabbath so sehr mochten, dass sie wie sie klingen wollten und Hörer nach Bands suchten, die so klangen wie sie. Und zwar genau wie sie. Nicht der Sabbath mit Dio an der Spitze, sondern der Sabbath, der zwischen ’69 und ’73 gefeiert wurde. Das Problem war nur, dass man ’82 die Geburt des Speed, des Thrash, des Black, des Death, des Extreme Metal erlebte. Nicht nur extremen Metal, sondern auch Glam Metal. Nicht nur Glam Metal, sondern auch Power Metal. Als Venom “Welcome to Hell” herausbrachten, hat niemand gesagt:

“Scheiß drauf, das ist viel, viel zu schnell.”

Jeder wollte fortan Venom in ihrem eigenen Spiel übertreffen. Bis 1986 war Heavy Metal ein Synonym für männliche Aggression.

Doom Metal aber ist nicht aggressiv. Schwer vielleicht, aber nicht aggressiv, zumindest nicht, so lange sich der Sludge noch nicht eingemischt hatte. Wenn du nicht flennst, high bist oder grübelst, schläfst du, wenn du eine Doom-Platte hörst. Headbanging kommt nur selten vor. Du lebst frei und brennst, Kumpel.

Epicus Doomicus Metallicus; 1986

Das hat Candlemass nicht davon abgehalten, satte hunderttausend Alben zu verkaufen. Ich glaube, dass “Epicus Doomicus Metallicus” unter den Top 3 der meistverkauften Doom-Alben aller Zeiten ist, wenn man die Diskografie von Black Sabbath außer Acht lässt. Ich würde sagen, es ist auf Platz 2, aber ich habe keine Zahlen für “Dopethrone”, und “Manic Frustration” könnte auch ein Kandidat sein. Zusammengenommen erfüllen Candlemass, der Wizard und Trouble vielleicht die Hälfte der Verkaufsanforderungen für eine Goldauszeichnung. Vielleicht auch ein bisschen mehr. Das sind drei verschiedene Doom-Bands, die es alle seit einem Vierteljahrhundert gibt. Und nicht nur das, es sind auch die größten Bands des Doom Metal. Man kann noch Sleep und Type O Negative dazuzählen, aber Stoner Metal und Goth-Doom sollten wir ein anderes mal besprechen. Ja, ich weiß, dass der Wizard und Trouble (zu dieser Zeit) Psychestoner sind/waren, aber ich bitte um Nachsicht.

Was sagt euch das? Doom Metal, eines der 8 Haupt-Subgenres des Heavy Metal (d.h. 1 – Heavy; 2 – Speed; 3 – Thrash; 4 – Power; 5 – Death; 6 – Black; 7 – Glam; 8 – Doom) hat nie so etwas wie kommerziellen Erfolg gehabt. Während der Erfolg anderer Subgenres in Millionenhöhe gemessen werden kann, kann die erfolgreichste Nicht-Sab-Doom-Band nur in Zehntausenden gemessen werden. Meine Güte, es gibt noch immer Metalheads, die gar nicht wissen, dass es Doom überhaupt gibt. Dem ein oder anderen dämmert es dann allerdings:

“Ist es nicht komisch, dass Heavy Metal mit einem so langsamen Song wie “Black Sabbath” begann, obwohl Metal doch angeblich schnell sein soll?”

Natürlich kann man sagen, dass Black Sabbath eine Doom-Metal-Band sind; dann hat man den ersten (und bisher einzigen) Hundert-Millionen-Seller des Doom Metal. Und Alice in Chains waren entweder schon immer der Inbegriff des grungigen Doom Metal oder ist es heute (“Black Gives Way to Blue” ist eine Doom Metal-Platte, Ende der Diskussion). Da kann man noch ein paar Dutzend Millionen Platten drauflegen. Type O Negative? Der gesamte Gothic Metal? Auch Sludge Metal. Kyuss hatten auch einigen Erfolg. Melvins auch ein bisschen.

Doch trotz alledem hat sich der Doom Metal selbst dem Erfolg entzogen. Beim Black Metal ist das nicht anders, aber der Leitspruch des Black Metal lautet von jeher “Fuck the Masses” (und er hat die mächtige Kontroverse, die ihn vorantreibt); Doom-Metaller haben nie erklärt, dass sie nicht erfolgreich sein wollen, und wenn man es genau nimmt, gibt es absolut nichts, was ein Stoner- oder Doom-Metal-Album daran hindert, auf Platz 1 der Charts zu landen. Es gibt ein paar Rock ‘n’ Metal-Hipster, die das lieber nicht sehen wollen (und sich gleichzeitig darüber beschweren, dass heutige Musik eigentlich zum Kotzen ist), aber abgesehen von ihnen kann ich keine wirkliche Feindseligkeit gegenüber einem großen Erfolg erkennen (abgesehen von den unvermeidlichen Sell Outs).

Befragt man einen gewöhnlichen Metalhead über Musik, dann wird man kaum zu hören bekommen, dass Metal langsam sein kann. In der Hauptsache geht es darum, schnell, schneller, am schnellsten zu sein. Am besten so schnell, dass das Licht dagegen langsam ist. Die Vorstellung von langsamen Metal ist wie die Vorstellung von flammendem Eis, dass es in der Wüste schneien kann, oder dass die Beatles beschissene Songs haben!

Und hier hast du die Grundlage dafür, warum Doom Metal als der geistig zurückgebliebene jüngere Bruder des Heavy Metal gilt, der ’70 auf der Türschwelle eines Kindergartens ausgesetzt wurde.

Erinnert ihr euch noch an ’82, als der Metal so richtig rasant wurde? Es war nicht nur der Speed Metal, der den Untergang brachte, auch der Glam spielte eine Rolle. Eine Metal-Band war entweder aggressiv und schneller als ein Meteor, oder sie war überdreht, hatte dicke Föhnfrisuren sang den Ficksong deiner Mutter. Die weniger ausgefeilten Genres des extremen Metal, wie der frühe Death- und Black Metal, wurden zum Teil wegen ihrer grauenhaften Klangqualität, vor allem aber wegen ihres rauen, unnahbaren Sounds übersehen. Aber es war dieser Sound, der ihnen Fans bescherte. Womit sollte Doom hier noch prahlen?

In den 80ern konnte Doom keine Preise gewinnen. Aber in den 90er Jahren sah es kurz so aus, als könnte er sich durchsetzen. Grunge war wohl der erste Schrei des Doom in der Szene. Die Melvins, die frühen Nirvana und andere waren die besten Vertreter des Sludge der späten 80er Jahre. Natürlich waren sie das, sie waren fast die einzigen Nicht-Punk-Sludge-Bands. Aber auf die Melvins kommen wir ein andermal zurück, und ich habe keine Lust, über Nirvana zu reden; stattdessen sind Soundgarden und Alice in Chains zwei Bands, die würdiger sind.

“Badmotorfinger” und “Superunknown” waren im Grunde bereits damals das, was wir heute als Stoner bzw. Stoner Doom bezeichnen würden. Niemand kann mir erzählen, dass “Mailman”, “4th of July” und “Superunknown” rifftechnisch gesehen einfach absolute Überflieger sind. Oder nehmen wir Alice in Chains. Niemand wird behaupten können, dass “Dirt” kein mörderisch guter Stoner-Doom-Song ist.

Satan kommt (oder er kommt nicht)

Ein Running Gag in Metal-Kreisen ist, dass sich eher der leibhaftige Satan blicken lassen wird, bevor Doom Metal populär wird. Doch genau in den Jahren ’92, ’93, ’94 sahen wir, wie Stoner Doom unter dem Label ‘Grunge’ in die Charts aufstieg. Das geschah praktisch neben der Explosion von Stoner Rock und Stoner Metal und der Diversifizierung des Doom Metal in die extremeren Genres (mit der Entstehung von Gothic Doom, Death-Doom usw.). Vielleicht ist das der Grund, warum wir dieses Zeitalter nicht als goldene Zeit für Doom betrachten: 1993 wurde der Heavy Metal schließlich für tot erklärt, doch zu dieser Zeit war der Doom Metal ironischerweise wohl auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung. Und da Satan schließlich kommen soll, bevor Doom Metal populär wird, ist es nur logisch, dass die großen Labels aus Soundgarden oder Alice in Chains kein Kapital schlagen wollten, nicht wahr? Mal im Ernst: Wie viele Post-Grunge-Bands ahmen Soundgarden nach? Alice in Chains (deren härteres Material; ignorieren wir “Days of the New”, und hüllen wir auch über Bands wie Godsmack den Mantel des Schweigens).

Der Okkult-Rock-Boom

Mit die größten Doom-Veröffentlichungen stammen aus den 00er Jahren, von Warning über Celtic Frost bis zu Electric Wizard und… und… und…

Aber das war auch die Zeit des Okkult-Rock-Boom. Für einige war es eine große Überraschung, dass zumindest eine Form von doomigem Metal tatsächlich zu einem “Trend” werden kann. Andererseits weiß ich nicht, wie viele Leute behaupten werden, dass einige dieser okkulten Rocker eigentlich Doom Metal in Reinkultur sind.

Abgesehen davon war der Okkult-Rock-Boom eigentlich gar kein richtiger Boom. Man hörte Witchcraft oder Royal Thunder nicht im Rockradio. Sie erreichten kein Platin oder gar Gold und waren so im Untergrund wie eh und je, wurden aber meist von Hipstern hochgehalten, die damit beweisen wollen, dass sie klüger sind als du.

Da beschließen also ein paar Kiffer, die sich auf YouTube darüber beschweren, dass echte Musik tot ist, dass Rock tot ist und Pop scheiße ist (so wie in den letzten 150 Jahren), sich die Haare wachsen zu lassen (am besten einen langen Bob, Rockerwellen, Zottelhaar oder Wafro), ein paar Schlaghosen und Jeanswesten zu kaufen, ein paar Gitarren aufzumotzen, eine weibliche Sängerin zu finden und eine Psycho-Horror-Okkult-Doom-Rock-Metal-Retroszene zu gründen. Nicht schlecht, aber kein Doom. Es ist das gleiche Zeug im Stil von Sabbath, das wir schon so oft gesehen haben. Und das ist der Nachteil von Doom, nämlich dass er nicht den Spielraum hat, den einige andere Genres haben: Man muss wie Sabbath klingen, um Doom zu sein. Zumindest sagen das die Kritiker.

Einerseits ist es wahr, dass die besten Doom-Platten diejenigen sind, die Sabbath am besten nachahmen. Andererseits ist die Behauptung, dass Doom keinen Spielraum hat, an sich schon sehr weit hergeholt – wie nennt man denn Death Doom, Funeral Doom, Drone, Stoner, Sludge, Goth, Grunge, all diese doomorientierten Genres? Wie viel Spielraum haben denn Thrash Metal, Power Metal, Death Metal? Für sich allein genommen nicht viel. Irgendwann könnte man jedes Thrash-Metal-Album mit einem der Big 4 vergleichen, jeden Power Metal mit Iron Maiden, jeden Death Metal mit Possessed oder Morbid Angel.

Der Doom Metal hat weitgehend das getan, was diese Genres getan haben, musikalisch und textlich, und sich so weit ausgedehnt, wie es innerhalb der traditionellen/epischen Kerngenres möglich ist. Und doch hat er nicht einen Bruchteil des Erfolges oder der Bekanntheit erlangt.

Das ist interessant, weil wir dort im vergangenen Jahrzehnt ein Psychedelic/Blues-Revival erlebt haben. Man konnte feststellen, dass immer mehr Menschen zu den Psych-Rock-Shows strömten. Das war nicht immer so; es gab eine Zeit, da galt man als Rock ‘n’ Roll-Dinosaurier, wenn man es wagte, mit irgendeinem Flansch in der Musik zu spielen und auch nur annähernd so etwas wie zotteliges Haar auf dem Kopf hatte. Damals, in den Achtzigern, waren die Musikhörer bereit für die übergroße Verzweiflung, die der Doom mit sich bringen konnte, aber viele mochten die Art und Weise nicht, wie er verpackt war.

Damit kommen wir zurück zur vorletzten Frage: Warum wird der Doom Metal so übersehen?

Doom Metal wird übersehen, weil er nicht den gängigen Vorstellungen und Erwartungen entspricht, was Heavy Metal sein soll. Er hat seine Wurzeln in einem Jahrzehnt, das eher für Discokugeln und die Bee Gees als für Heavy Blues und Deep Purple bekannt ist. Er ist nicht modern genug, um ernst genommen zu werden, aber er ist zu retro für Fans des traditionellen 80er-Metal, um ihn zu verstehen. Er war die vergessene Geburtsstunde des Metals in den 70ern, schaffte in den 80ern nie den Durchbruch, wurde in den 90ern verleugnet und galt bis zum Ende der 00er Jahre als nicht mehr zeitgemäß. Er ist zu deprimierend für Pop und zu übertrieben für alles andere. Die populäre Konnotation von Doom ist… nichts, weil es keine populäre Konnotation von Doom Metal gibt, weil er nicht populär ist.

Das Einzige, was einem Erfolg nächsten kommt, ist, dass Black Sabbath in aller Mund bleibt, was normalerweise zu einer großen Fangemeinde führen würde, wenn es doch so viele Leute gibt, die zu “gutem Heavy Rock and Roll” zurückkehren wollen, wie Foren, YouTube-Kommentare und Blogs vermuten lassen. Aber der Begriff wird immer wieder unterlaufen und durch “doom and gloom”, “Sabbath-inspirierte Musik”, “schwerfälliger Metal”, “langsame und schwere Musik”, “düstere Musik” und mehr ersetzt, wobei er selten beim Namen genannt wird. Wenn jemand auf einen Doom-Metal-Song stößt, ist seine erste Reaktion meist “zu langsam” oder “ich bevorzuge schnellere Musik, aber das hier ist auch gut”. Sie wissen nicht recht, wie sie es nennen sollen. Die frühen Doom-Platten der 80er Jahre hatten keinen Erfolg, weil sie unter den heutigen Bedingungen nicht vermarktbar waren und weil sie roh, unbearbeitet und unabgemischt klangen; außerdem klangen einige eher wie experimentelle Nebenprojekte als wie echte Bands.

Verdammt, die deprimierende Geschichte des Doom könnte einen soliden Doom-Metal-Song ergeben.

Wird Doom Metal jemals populär werden? Die Sache ist die, dass wir nur einen kleinen Paradigmenwechsel bräuchten. Irgendwann muss man die aktuelle Psyche der Musikindustrie in die richtige Bahn lenken, sie einfach an der richtigen Stelle einschnappen lassen.  Die Hipster-Indie-Rock-Welle von 2013 hat versehentlich Folk und Psychedelic Rock wieder populär gemacht, da sollte der Metal doch nicht allzu weit zurückliegen.

Der extreme Metal ist so schnell, wütend und aggressiv wie möglich geworden. Heutzutage ist schnelle Musik aber nicht mehr ganz so rebellisch wie früher, vor allem seit Rebellion zum Mainstream geworden ist. Das bedeutet, dass sich die Jugend an Doom Metal, dieser langweiligen, matschigen Art von ultraschwerer Musik, festklammern könnte, nur um ihren Eltern eins auszuwischen. Die Aussichten scheinen sogar ziemlich gut zu sein.

* Der Songwriter Harlan Howard prägte diesen Ausdruck in den 50ern (Three Chords and the Truth), der seitdem gerne zitiert wird.

Stephen King wird 75

Stephen King wird 75

Seit Carrie, seinem ersten Roman, stellt Stephen King eine Gewissheit auf, die ihn durch sein gesamtes Werk begleiten wird: Wahrer Horror ist in der Realität verankert. Das Übernatürliche – Telekinese, das Monströse, das Unheimliche, das Außerirdische – fungiert oft als eine Art Ruhepol in einer stets klaustrophobischen Handlung. Der wahre Horror erscheint dann in Form von Alkoholismus, häuslicher Gewalt, Ehrgeiz, Obsessionen, Trauer, religiösem Fanatismus.

Von Anfang an hatte es King darauf angelegt, den großen amerikanischen Roman zu schreiben. Das ist der Traum eines jeden Schriftstellers seit dem 19ten Jahrhundert. Daran versuchten sich Autoren wie Philip Roth, Ernest Hemingway oder William Faulkner und natürlich viele mehr. Aber es ist Stephen King, der dieses ehrgeizige Ziel wirklich erreicht hat. Der Grund ist relativ simpel: Der Horror ist das Genre, das alles Tun der Menschheit am besten erklärt.

In Kings Romanen finden wir das Grauen auf die schrecklichste Art und Weise dargestellt. Es sind jene Dinge, die ihn selbst erschrecken. Betrachtet man das von der Basis seiner Autorenschaft her, macht ihn das zum interessantesten Autor überhaupt. Nehmen wir als Vergleich Mary Shelly, die mit ihrem Frankenstein-Roman den eigentlichen Horror-Boom auslöste. Sie spricht da über den Schrecken jener Zeit, über den Fortschritt der Wissenschaft; aber das Erschreckende in diesem Roman ist nicht das grüne Monster, das im Billigkino über die Leinwand flimmerte, sondern das, was mit den Menschen geschieht. Und genau das tut Stephen King in seinem Werk, in dem er selbst auch immer präsent ist. Wenn er über Schriftsteller mit Alkoholproblemen schreibt, erkennt man immer den großen Erzähler aus Maine. In vielen seiner Geschichten. In “Misery” gibt es einen Bestseller-Autor und einen fanatischen Fan, eine ehemalige Krankenschwester, die ihn entführt. Es gibt häufig eine King-ähnliche Figur in seinen Romanen. Er schrieb einen sehr schönen Roman mit dem Titel “Lisey’s Story” (dt. “Love”), in dem wir lesen, was mit der Witwe eines Horrorschriftstellers passieren kann. Diese Witwe ist natürlich Tabitha, seine Frau. Jemand, der in seinem Werk ebenfalls sehr präsent ist.

Merkwürdigerweise wird King nach wie vor von Leuten in die Horror-Schublade gesteckt, die sehr wenig von Literatur verstehen, und wahrscheinlicher noch weniger von King selbst. Bedenkt man, dass César Aira, also jemand, der immer wieder für den Nobelpreis nominiert ist, King ins argentinische Spanisch übersetzt hat, wird diese Kluft erstaunlich offenbar.

King baut mit jedem einzelnen Roman an einem Kanon. Das gelingt ihm, weil er nicht nur ein großer Schriftsteller, sondern auch ein großer Leser ist, ein Kulturkonsument. Er interessiert sich für Serien, Filme und Musik und referiert fleißig auf all diese Dinge. Er macht Musik, spricht über Musik, und bezieht Musik auf sehr interessante Weise in seine Erzählungen ein.

Viele seiner Geschichten drehen sich um das Erwachsenwerden. Es gibt eine Geschichte, die später verfilmt wurde und an die wir uns alle erinnern. “Stand by me” ist ein Initiationsfilm, in dem es um eine Gruppe von Jungen geht, die sich auf ein Abenteuer begeben, um die Leiche eines Toten zu suchen. Die Geschichte heißt natürlich “Die Leiche”, und darin geht es auch um eine andere, introspektive Reise. Erzählt wird sie von einem erwachsenen Schriftsteller, der sich an den Moment des Erwachsenwerdens erinnert. Im Grunde geht es um die Traurigkeit, die Unschuld zu verlieren. Stephen King ist heute 75 Jahre alt geworden und wie jeder große Geist immer noch ein Kind. In vielen seiner Bücher sind Kinder die wahren Protagonisten.

Der Phantastikon-Podcast widmet sich auch in Zukunft dem Gesamtwerk, beginnend bei Carrie, einem Roman, der über Mobbing spricht, lange bevor Mobbing überhaupt auf die Tagesordnung gesetzt wurde, über religiösen Fanatismus in der Figur der Mutter, über Ignoranz und darüber, wie man aus der Norm ausbricht, die Gewalt gegenüber demjenigen erzeugt, der sich outet, der aber später so erzählt wird, als wäre das Opfer die eigentliche Gewalttätige. Alles begann 1974 mit Carrie und es ist ein unglaublicher Roman mit Rekonstruktionen von Zeitungen, Nachrichten, Fragmenten von Gerichtsakten. Das Erschreckende an dem Roman ist nicht das telepathische Mädchen, sondern alles, was sie diesem armen Mädchen antun. Er macht uns mit der Gewissheit vertraut, dass wir alle irgendwann für andere das Monster sind. Darum geht es in Kings Werken.

Ich gratuliere dem King aufs herzlichste und in jahrzehntelanger Verbundenheit

Die Sprache der Fantasy

Dieser Artikel ist Teil 15 von 17 der Reihe Fantasy-Literatur

Quenya, Tsolyáni, Láadan, Klingonisch, Kesh, Na’vi, Dothraki … das ist weder ein Zauber noch eine Litanei aus einem alten Gebetbuch, sondern nur einige wenige Beispiele erfundener Sprachen, die es in Büchern oder in Filmen gibt. Wir leben im Zeitalter der konstruierten Sprachen. Da die Fantasy in Büchern, TV und Film immer mehr zum Mittelpunkt geworden ist, hat sich die Vorstellung durchgesetzt, dass jede richtige Fantasy-Welt ihre eigene Sprache benötigt – oder vielleicht mehrere!

Heutzutage sind erfundene Sprachen allgegenwärtig. Organisationen wie die Language Creation Society und Ressourcen wie FrathWiki und das Conlanger Bulletin Board dienen dazu, die Talente derjenigen zusammenzuführen, die daran interessiert sind, ihre eigene Sprache zu entwickeln. Gleichzeitig haben viele Filmfranchises das Konzept der erfundenen, fiktiven Sprachen in den Alltag gebracht: Marc Okrands Klingonisch wurde durch das Star Trek Film- und TV-Franchise bekannt, und Paul Frommers Na’vi wurde für den Film Avatar erfunden.

Die Fantasy zieht durch ihre Darstellung von Welten an, die vertraut genug sind, um den Leser zu orientieren, aber fremd genug, damit sie ihn ständig überraschen. Die Fremdheit der Fantasywelt kann durch Kunst, Musik, Kostüme, Architektur, Artefakte und Magie zum Ausdruck gebracht werden. Aber der einfachste Weg über das geschriebene Wort macht den Leser auf die Fremdheit der Welt durch die Sprache aufmerksam: die Namen, unter denen Menschen und Orte und ungewöhnliche Dinge bekannt sind, die Sätze und Poesie, mit denen sich ein fremdes Bewusstsein ausdrückt. Nichts ist so fremd wie eine Fremdsprache.

Die grundlegendsten Fantasy-Sprachen

Bereits 1726 wusste Jonathan Swift, der die Geschichte des Reisenden in Gullivers Reisen auf satirische Weise porträtierte, die Fähigkeit einer fiktiven Sprache zu schätzen, um seinem imaginären Königreich Liliput Echtheit zu verleihen. Wenn Gulliver die Worte hekinah degul und tolgo phonac hört, ist er sich sofort ganz sicher, dass er sich außerhalb der sicheren, gewöhnlichen und verständlichen Welt befindet.

Swifts Erfindung ist nach modernen Maßstäben schlampig und einfallslos; seine Worte enthalten keine Laute, die im Englischen nicht vorkommen, und die meisten seiner zitierten Sätze sind unübersetzt. Es gibt wenig, was auf eine konsistente Morphologie oder Grammatik in der liliputanischen Sprache hindeutet, da fast jedes Wort eine zufällige, unabhängige Erfindung ist, die nichts mit allen anderen Wörtern zu tun hat. Aber trotz Swifts Naivität des Sprachaufbaus können wir in seiner Arbeit ein Verständnis dafür erkennen, dass die Ausstattung einer fiktiven Nation mit einer eigenen Sprache der schnellste Weg ist, um sie mit einer plausiblen Andersartigkeit zu versehen.

Die Sprache muss natürlich keine echte sein oder gar einer realen Sprache ähneln (obwohl solche Ähnlichkeiten fast unmöglich zu vermeiden sind). Lord Dunsany, dem irischen Schriftsteller von Fantasy-Kurzgeschichten, ist es gelungen, eine Atmosphäre orientalischer Dekadenz durch die Namen Thuba Mleen und Utnar Véhi hervorzurufen, obwohl die Namen keiner Sprache ähneln, die tatsächlich im Nahen Osten gesprochen wird, weder jetzt noch in der Vergangenheit, und die an sich nichts bedeuten.

Ein höherer Detailreichtum

Autoren und die Liebhaber ihrer Werke können viel mehr Freude an einer Sprache finden, die mit einem höheren Detailreichtum erstellt wird. Im Gegensatz zu fiktiven Gebäuden und Büchern und Rüstungen und anderen Artefakten, die nur durch ihre Beschreibung suggeriert werden, kann eine vollständig realisierte Sprache in der realen Welt tatsächlich existieren. Durch das Erlernen und Verwenden der geschaffenen Sprache, oder so viel wie vorhanden, kann ein Leser an der Fiktion teilnehmen und die Lücke zwischen Fantasie und Realität schließen.

In einer ausgefeilten Fantasywelt kann eine Sprache viel mehr sein als ein Hintergrunddetail, das die Glaubwürdigkeit erhöht. Es kann das Vehikel der Magie und des Geheimnisses sein, durch das Kernwahrheiten über die Struktur der Welt vermittelt werden. Diese Vorstellung von der Macht und Heiligkeit der Worte ist oft in der Fantasy verwendet worden. So dient in J. R. R. Tolkiens Der Herr der Ringe die elfischen Sprachen als Medium der Magie, und in Ursula K. Le Guins Erdsee-Büchern definiert und erschafft die alte Sprache der Drachen die Welt. In der Welt der Erdsee ist Magie eine angeborene Fähigkeit, die aber nur durch das Studium der Sprache gelenkt werden kann. Das Wissen um den wahren Namen eines Objekts, den in der Alten Sprache verwendeten Namen, gibt dem Sprecher die Macht über dieses Objekt. Ein Stein, Tolch in der Alten Sprache, kann, wenn er so genannt wird, nichts anderes sein, auch wenn er verzaubert wurde, um etwas anderem zu ähneln. Um sein Wesen zu ändern, muss auch sein Name geändert werden., und das kann nur von Zauberern vollbracht werden. Je genauer und spezifischer eine Sache oder eine Person benannt werden kann, desto größer ist die Macht, die ein Zauberer darüber haben kann, und deshalb beschützen die Menschen auf Erdsee ihre wahren Namen sorgfältig. Dies widerspiegelt die christliche Mythologie, die besagt, dass das Wissen um den Namen eines Dämons dem Besitzer die Macht gibt, ihn zu befehlen. Die Vorstellung von Namen als Macht und Sprache als Magie ist alt.

Das neunzehnte Jahrhundert brachte große Fortschritte in der wissenschaftlichen Erforschung der Sprachen, und gegen Ende dieses Jahrhunderts wurden diese Verbesserungen in Projekte zur Schaffung vollwertiger Sprachen umgesetzt, die den Eindruck der persönlichen Vorlieben und Abneigungen ihrer Schöpfer tragen sollten. Die ersten dieser Versuche hatten zum Ziel, “internationale Sprachen” zu erschaffen, die die Vielfalt der Sprachen in der Welt ergänzen oder sogar ersetzen könnten, so dass alle Menschen unabhängig von ihrer Nationalität kommunizieren könnten. Schleyers Volapük und Zamenhofs Esperanto gehörten zu den ersten Beispielen dieser Art.

In diesem Milieu begann J. R. R. R. Tolkien, ein Sprachwissenschaftler und Mythenmacher, Geschichten zu schreiben, in denen die Namen von Orten und Personen aus seinen Sprachen Qenya und Goldogrin abgeleitet wurden. Als die Legenden zu dem anwuchsen, was dann das Silmarillion wurde, wuchsen auch die Sprachen an, beeinflusst von den Bedürfnissen der fiktiven Umgebung, und schließlich wurden die reifen Sprachen Quenya und Sindarin zu den Sprachen zweier Elfenclans.

Erst mit der Veröffentlichung von Der Herr der Ringe bekam die Öffentlichkeit eine Vorstellung vom Umfang der Erfindung Tolkiens. Hinter der Galaxie der erfundenen Nomenklatur, die der Leser fand (und über die er manchmal auch stolperte), befand sich eine bemerkenswert subtile und detaillierte Konstruktion, nicht nur einer einzigen Sprache, sondern einer ganzen Sprachfamilie mit ihrer eigenen inneren Geschichte. Das “Primitive Quendian”, sein weiter entwickelter Nachfolger “Common Eldarin”, und verschiedenen daraus resultierende Sprachen, darunter Quenya, Telerin, Sindarin, Ossiriandic und Silvan, teilen sich ein großes Grundvokabular, das aus den Wurzeln des Quendian stammt, aber die Aussprache der Wörter variiert von Sprache zu Sprache auf vorhersehbare Weise, ebenso wie die Grammatik. So lauten die Worte für “Silber” und “Elfen” in Quenya tyelpë und eldar, aber in Telerin lauten sie sie telepë und elloi, und in Sindarin lauten sie celeb und edhil. Die historische Entwicklung jeder dieser Sprachen lässt sich heute mit großer Präzision verfolgen.

Quenya war die früheste Elfensprache im Mythos Herr der Ringe, und auch die früheste Elfensprache, die von J. R. R. R. Tolkien erfunden wurde. Er begann mit dem Bau zwischen 1910 und 1920, Jahrzehnte bevor das Buch veröffentlicht wurde. Sie begann, wie die Erdseesprache, damit, dass die Elfen bei der Benennung von Dingen Kraft und Identität fanden. Im Laufe der Zeit entwickelten sich mehrere Dialekte, die von jedem der Elfenclans angewandt wurden. Zur Zeit des Herrn der Ringe wurde Quenya von den Charakteren des Buches als die alte und formale Sprache angesehen, die von den Elfen verwendet wurde, die die Erde verlassen hatten. Sindarin war eher wie Küchenelbisch. Es wurde 1944 von Tolkien erfunden, obwohl es stark von einer “gnomischen” Sprache beeinflusst wurde, die er jahrelang entwickelt hatte. Beleriandisches Sindarin, ein Dialekt, der von umherziehenden Gruppen von Elfen verwendet wird, war eine gemeinsame Sprache, die von allen Elfengruppen verwendet wurde, um verstanden zu werden. Es war die praktische Sprache der reisenden Mittelerdes , die von einigen Menschen und Zauberern geteilt wurde.

Nicht alle Autoren sind in ihrer Sprachentwicklung so umfassend. George R. R. Martin, der Autor der Serie Das Lied von Eis und Feuer, schuf eine Welt, in der es viele Sprachen gab, darunter Dothraki und Valyrisch. Er sagte den Fans : “Ich habe so etwa acht Worte Valyrisch. Wenn ich ein neuntes brauche, erfinde ich es.” Dothraki wurde von David Peterson von der Language Creation Society für die Fernsehadaption von A Game of Thrones ausgearbeitet. Peterson wurde von den Produzenten nach einem Wettbewerb ausgewählt, der von der LCS zwischen mehreren erfahrenen Sprachschaffenden veranstaltet wurde. Dothraki selbst ist noch in Arbeit; der verfügbare Korpus ist noch recht klein, mit bisher weniger als 500 Wörtern, aber es ist zu erwarten, dass er noch komplexer und detaillierter wird.

Aus Fans werden Detektive

Andererseits behielten Tolkiens Sprachen ein gewisses Maß an Skizzenhaftigkeit bei. Quenya, die aufwändigste der Sprachen, hat ein Vokabular, das vielleicht ein Zehntel der Größe der Alltagssprache der meisten Sprecher hat. Einige Aspekte der Grammatik wurden nie schriftlich fixiert oder nur auf widersprüchliche Weise beschrieben; jeder, der heute Quenya schreiben möchte, muss sich mit Rätseln und Vermutungen beschäftigen und einige Konstruktionen vermeiden, für die das Quenya-Äquivalent unbekannt sind.

Das bedeutet nicht, dass Quenya keine “echte Sprache” ist, aber es bedeutet, dass es – wie viele alte Sprachen, die nur durch einen begrenzten Korpus von bröckelnden Denkmälern und Tontafeln belegt sind – unvollständig und unvollkommen bekannt ist.

Die meisten Fantasy-Sprachen arbeiten mit den gleichen Einschränkungen. Selbst wenn sich der Erfinder die Mühe gemacht hat, eine Grundgrammatik und ein umfangreiches Lexikon für diejenigen zu verfassen, die die Sprache verwenden wollen, ist die Sprache selten so ausgereift, dass sie für alle Zwecke einer natürlichen Sprache vollständig nützlich ist. Wenn das Ziel jedoch nicht so sehr darin besteht, eine völlig neue Art der Kommunikation zu ermöglichen (wie bei Esperanto), sondern den Hauch einer fremden Kultur zu vermitteln – aus einer anderen Zeit, einem anderen Ort, einer anderen Welt oder einer anderen Dimension – dann sind sie oft recht erfolgreich.

Urban Fantasy (2) – Die Geburt eines Genres

Dieser Artikel ist Teil 12 von 17 der Reihe Fantasy-Literatur

Im vorigen Beitrag sprachen wir über die Definition der urbanen Fantasy und ihren Ursprüngen. Nun wollen wir mal sehen, wie dieses Genre entstanden ist und warum es so populär wurde.

Charles de Lint, der Pionier der urbanen Fantasy

Das allererste Werk der Urban Fantasy war wahrscheinlich der 1984 erschienene Roman “Moonheart: A Romance” von Charles de Lint. Den Begriff Urban Fantasy gab es damals allerdings noch nicht. Urban Fantasy wurde 1997 von John Clute und John Grant in ihrer Encyclopedia of Fantasy als Texte definiert,

„in denen die phantastische und die herkömmliche Welt interagieren, sich kreuzen und zu einer Geschichte verschränken, die sich signifikant um eine reale Stadt dreht.“

Ironischerweise war die Serie, die das Genre begründete, nicht in einer realen Stadt angesiedelt, sondern in einer imaginären. Newford, das von Charles de Lint erfunden wurde, stellt eine typisch amerikanische Stadt dar, mit seinen wohlhabenden Wohngebieten und Slums, seinen Stränden und Brachflächen und natürlich seinem ausgedehnten Netz von unterirdischen Tunneln. Die Newford-Serie begann mit der Kurzgeschichte “Uncle Dobbin’s Parrot Fair”, die 1987 zum ersten Mal in Isaac Asimovs Science Fiction Magazin erschien. 1993 wurden mehrere Kurzgeschichten von Charles de Lint, alle in Newford angesiedelt, von Terri Windling zusammengestellt und unter dem Titel “Dreams Underfoot” veröffentlicht.

“Dreams Underfoot” ist eine denkwürdige Lektüre. Wir treffen auf farbenfrohe Charaktere, lernen sie lieben und erforschen die Geheimnisse Newfords und ihrer Gesellschaft. Manche Geschichten grenzen an den Magischen Realismus oder den Surrealismus, zum Beispiel “Freewheeling”, wo ein Straßenkind Fahrräder klaut, um ihnen die Freiheit zu schenken. Für den Protagonisten haben selbst unbelebte Objekte eine Seele, einen eigenen Geist und verdienen es daher, frei zu sein. Ist er wahnsinnig, oder nimmt er etwas Reales wahr, eine Magie, die in weltlichen Objekten versteckt ist? Wir werden es nie erfahren. Während des gesamten Buches verflechten sich Realität, Mythos und Magie so eng miteinander, dass es manchmal unmöglich ist zu sagen, was real und was eingebildet ist. Ob die Magie echt ist oder nicht, ändert aber nichts an der Bedeutung der Geschichten. Wichtig ist, woran die Menschen glauben. Das ist die Theorie der einvernehmlichen Realität: Dinge existieren, weil wir wollen, dass sie existieren.

“Dreams Underfoot” wurde mit Werken literarischer Fantasy wie “Little, Big” (1981) von John Crowley und Mark Helprins “Wintermärchen” (1983) verglichen. In Übersetzung liegt kaum etwas von de Lint vor und schon gar nicht seine wichtigsten Werke.

Sex, das Übersinnliche und Rock and Roll!

Einige würden sagen, dass der erste urbane Fantasy-Roman “War for the Oaks” (1987) von Emma Bull war. Ich bin mir nicht sicher, ob ich dem zustimme, aber lasst uns über dieses Buch reden. Es erzählt die Geschichte von Eddi McCandry, einer jungen Sängerin, die in Minneapolis lebt. Sie hat einen schlechten Tag, oder besser gesagt, eine schlechte Nacht. Sie hat sich von ihrem Freund getrennt und verließ seine Band, und später begegnet sie einem finsteren Mann und einem riesigen Hund. Die beiden Geschöpfe sind ein und dasselbe: ein Phouka, ein Feenwesen, das Eddi zum Bauernopfer im jahrhundertealten Krieg zwischen den Höfen von Seelies und Unseelies auserkoren hat.

“War for the Oaks” ist nicht der passendste Titel für diesen Roman, da der Krieg der Feenhöfe nicht im Mittelpunkt der Geschichte steht. Rockmusik schon. Ein guter Titel für dieses Buch wäre “Eddi and the Fey “(der Name von Eddis Band) oder noch besser “Sex & Fey & Rock & Roll!” Emma Bull war Musikerin; sie spielte Gitarre und sang bei den Flash Girls, einem Goth-Folk-Duo, und war Mitglied von Cats Laughing, einer psychedelischen Folk-Jazz-Band. Zweifellos hat ihre Leidenschaft für die Musik den Krieg um die Eichen inspiriert.

Dieser Roman würde eher als paranormale Romanze denn als urbane Fantasy durchgehen. Die Handlung dreht sich um Eddi und ihr Liebesleben (und ihr Sexualleben, obwohl es keine expliziten Sexszenen gibt). Es gibt sogar eine Dreiecksbeziehung zwischen Eddi und zwei übernatürlichen Wesen, ein Erzählmuster, das später zu einem Markenzeichen paranormaler Romantik werden wird.

Insgesamt gibt es in diesem Buch nicht viel Action. Das meiste davon (vor allem der mittlere Teil) ist gefüllt mit Dialogen zwischen Eddi und dem Phouka oder anderen Mitgliedern ihrer Band. Obwohl es einige gute Ideen enthält, werden sie in diesem Roman nicht ausgenutzt. Auf der positiven Seite ist der Schreibstil begeisternd, und die Geschichte ist sehr einfallsreich, aber die Charaktere sind klischeehaft (der Preis des Tapferen, die edle Königin, die böse Hexe, usw.). Der Phouka ist eine Ausnahme, da er subtiler zu sein scheint als die anderen.

Ich erwähnte dieses Buch aus historischen Gründen, weil es die Voraussetzungen für jene erfolgreicheren Romane und Serien schafft, die urbane Fantasy mit paranormaler Romantik verbinden.

Der Vollständigkeit halber erwähne ich auch Bedlam’s Bard (1998) von Mercedes Lackey, das Ähnlichkeiten mit dem Krieg um die Eichen hat. Auch hier handelt es sich um eine Geschichte über Musik und Elfen in einer zeitgenössischen Umgebung. Es ist interessant zu sehen, wie urbane Fantasy-Autoren Folk- und Rockmusik in ihre Erzählungen integriert haben. Charles de Lint erzählt in seinen Geschichten oft von Musik, und das ist kein Zufall. In den 70er Jahren beeinflusste die Fantasy- und Horrorliteratur die Populärmusik in hohem Maße, weshalb es nicht verwunderlich ist, dass die Musik in den 80er und 90er Jahren sozusagen diese Gunst erwiderte, indem sie eine neue Generation von Fantasy-Geschichten inspirierte. Dieses riesige Thema verdient allerdings einen gesonderten Beitrag; denn nun wollen wir wieder zur Sache kommen und über Vampire sprechen!

Hier sind Vampire!

Heute sind Vampire aus der urbanen Fantasy nicht mehr wegzudenken. Sie sind überall. Anfang der 90er Jahre war dies jedoch nicht der Fall. Der Roman, der Vampire in die urbane Fantasy einführte, war 1993 “Bittersüße Tode” von Laurell K. Hamilton, der erste Teil der Anita Blake-Serie.

Wie ich bereits im Artikel über die Ursprünge der urbanen Fantasy erwähnt habe, ist es schwierig, die Grenzen zwischen Vampir-Fantasy (einem Subgenre der Horrorliteratur) und urbaner Fantasy zu ziehen. Meiner Meinung nach besteht der Unterschied zwischen Horror und Fantasy darin, dass ersteres eher introvertiert und letzteres eher extrovertiert ist. Horrorliteratur konzentriert sich oft auf das, was die Charaktere fühlen, mit einem Schwerpunkt auf starke negative Emotionen wie Ärger, Angst, Trauer, etc.. Fantasy stützt sich mehr auf den Sinn für das Wunder, und beinhaltet in der Regel einen umfangreichen Weltenbau, um diese Wirkung zu erzielen. Das ist keineswegs eine absolute Regel, aber sie gilt doch recht häufig.

“Bittersüße Tode” ist schwer zu kategorisieren, da es sich gleichermaßen an Horror-, Thriller- und Fantasy-Genres anlehnt. Der Roman spielt in einer Welt, in der Vampire den Lebenden ihre Existenz offenbarten. Wie zu erwarten war, sorgte eine solche Offenbarung für Aufregung, wenn nicht gar Panik. Schließlich sind Vampire für Menschen keine Opfer. Was sollte also der rechtliche Status eines Vampirs in unserer Gesellschaft sein? Sollten sie die gleichen Rechte wie die Lebenden haben?

Die Autorin überspringt gerne die sozialen und rechtlichen Aspekte dieses Problems, um sich auf die Handlung zu konzentrieren. Anita Blake hat einen ungewöhnlichen Beruf: Sie ist Animatorin und arbeitet für die Polizei. Sie erweckt die Toten, damit die Polizei sie verhören kann. Praktisch für die Polizei, nicht wahr? Ihre Hauptzeugen sind tot? Keine Sorge, Anita Blake wird sie für Sie wiederbeleben!

Ihr anderer Job ist noch gefährlicher: Sie richtet Vampire hin. Wenn sie einen Gerichtsbeschluss zur Hinrichtung hat, kann sie einen Vampir in aller Legalität töten. Wenn sie keinen Gerichtsbeschluss hat … Nun, sie tötet diese Blutsauger sowieso. Nicht alle Vampire werden im Roman als blutrünstige Monster dargestellt, aber es wird angedeutet, dass die meisten von ihnen genau das sind. Wir sind nicht weit von der TV-Serie Buffy – Im Bann der Dämonen (1997-2003) entfernt. Kurz gesagt, Anita Blake ist eine selbsternannte Agentin 007 mit einer Lizenz zum Töten, und sie benutzt diese Lizenz recht großzügig und eliminiert die bösen Jungs, ob sie nun leben oder untot sind. Mit „Jungs“ meine ich sowohl Männer als auch Frauen, denn der Hauptschurke des Romans ist ein weiblicher Vampir. Kein Sexismus hier.

“Bittersüße Tode” ist ein Roman, der den Leser von der ersten bis zur letzten Seite beschäftigt. Hamilton zeichnet sich durch die Kunst aus, Spannung zu erzeugen und aufrechtzuerhalten. Ihr Stil ist voller starker Empfindungen. Es wäre jedoch unfair zu sagen, dass der Roman nur sensationslüstern ist. Unter einer relativ flachen Vampirjägergeschichte kann man einige interessante Beobachtungen über die menschliche Psychologie ausmachen.

Hamilton ist wahrscheinlich die erste urbane Fantasy-Autorin, die sich in das Reich der weiblichen Fantasien vorwagt. Im folgenden Jahrzehnt werden wir vielen Schriftsteller/innen auf diesem Weg folgen. Diese Fantasien sind nicht so unschuldig, wie es sich männliche Autoren vielleicht vorgestellt haben. Zum Beispiel werden viele Frauen von Männern mit starken Persönlichkeiten angezogen. Das wussten wir spätestens seit Byron und seinen Gedichten über charismatische, aber gefährliche Männer. Seit Anfang der 40er Jahre beschäftigt sich das Kino mit diesem Thema. Gefahr und Romantik – eine gewinnbringende Kombination! Humphrey Bogarts Verkörperungen mögen hart, manchmal sogar gefährlich gewesen sein, aber keine von ihnen konnte sich in Raffinesse und Wildheit mit Anne Rices Lestat oder Hamiltons Jean-Claude messen.

Raffinesse, Wildheit und Sexappeal – das ist die siegreiche Kombination für einen Vampir in einem urbanen Fantasy-Roman. Hamilton verstand das und stellte Vampire als die Verkörperung der tiefsten weiblichen Wünsche dar. Obwohl diese Ansicht zunächst schockierend erscheinen kann, ist sie angesichts der jüngsten wissenschaftlichen Erkenntnisse überraschend aufschlussreich. (Für wissenschaftliche Informationen zu diesem Thema empfehle ich das Handbuch der Evolutionären Psychologie von D. M. Buss. Siehe insbesondere das Kapitel Sexuelle Interessen von Frauen über den gesamten Ovulationszyklus hinweg: Funktion und Phylogenie von S. W. Gangestad, R. Thornhill und C. E. Garver-Apgar.)

Sprechen wir nun über einen anderen urbanen Fantasy-Autor, der das Genre mitgestaltet hat. Er braucht keine besondere Vorstellung; meine Damen und Herren, hier ist Neil Gaiman!

Niemalsland von Neil Gaiman

“Niemalsland” begann als Fernsehserie, die erstmals 1996 auf BBC Two ausgestrahlt wurde. Sie wurde von Neil Gaiman und Lenny Henry geschrieben und von Dewi Humphreys inszeniert. Im selben Jahr adaptierte Gaiman die Serie zu einem Roman. Und was für ein einflussreicher Roman das war!

Niemalsland ist eine Parallelwelt, die neben der unseren existiert, aber normalerweise von uns nicht gesehen werden kann. Manchmal fallen Menschen aus unerklärlichen Gründen „durch die Ritzen“ und werden Teil dieses unsichtbaren Universums. Gaiman benutzt dies als Metapher für soziale Ausgrenzung; diese Menschen sind nicht mehr Teil der zivilisierten Gesellschaft, verloren alles, was sie besaßen, sind obdachlos und müssen den rücksichtslosen Regeln der Unterwelt gehorchen. Doch so grimmig dieser Ort auch erscheint, er ist voller Abenteuer und Magie, was ihn für eine romantische Seele attraktiver macht als unsere scheinbar sichere und berechenbare technologische Welt.

Es gibt keine Vampire oder Werwölfe in Niemalsland, aber es gibt alle möglichen fantastischen Kreaturen, einige von ihnen sind dabei fremdartiger als andere. In diesem Roman entdeckt der Protagonist die Existenz eines unsichtbaren London, eines unterirdischen London. Hinter jeder Londoner U-Bahn-Station verbirgt sich eine geheime Welt, die an die mittelalterliche Vergangenheit der Stadt erinnert. Es gibt ein Kloster unter Blackfriars, am Earl’s Court lebt ein echter Graf mit seinem Hof, und unter Angel versteckt sich … na ja, ein Engel! Interessanterweise gibt es in Niemalsland keine paranormale Romanze, nicht einmal einen Hinweis darauf – das ist urbane Fantasy in ihrer reinsten Form.

Ich glaube, Niemalsland ist einer der besten urbanen Fantasy-Romane überhaupt. Witzig, fantasievoll, aber auch zum Nachdenken anregend – so sollte das Genre sein. Im Mittelpunkt einer urbanen Fantasy-Geschichte sollte die Stadt stehen, das urbane Leben mit seinen Gegensätzen und Paradoxien.

Urbane Fantasy mag ein eskapistisches Genre sein, aber dies ist ein zweideutiger Eskapismus, der uns immer wieder in die Realität zurückführt. In Niemalsland wird dieser zweideutige Eskapismus durch die Konflikte, die der Protagonist im oberen und auch im unterirdischen London hat, aufgezeigt. Ersteres repräsentiert die Realität, zweites die Fantasie.

Gaiman produzierte weitere bemerkenswerte Werke, insbesondere die Comic-Serie “Sandman” und den Roman “American Gods” (2001), für die er mehrere Preise erhielt, darunter Hugo, Nebula, Locus und Bram Stoker Awards.

Im nächsten Beitrag zur urbanen Fantasy werden wir über die Entwicklung des Genres im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts sprechen, beginnend mit Jim Butcher und Kelley Armstrong.

Der letzte Bus nach Woodstock

Colin Dexter: Der letzte Bus nach Woodstock (Inspector Morse #1)

Der 2017 verstorbene Norman Colin Dexter formte einen der beliebtesten und berühmtesten Detektive sehr nach seinem eigenen Vorbild. Auch Dexter war ein Liebhaber englischer Kreuzworträtsel (nicht zu verwechseln mit den unsrigen) mit einem blitzschnellen Verstand, ein von Diabetes geplagter Biertrinker und ein Kenner klassischer Musik. Bis zum Schluss kannten die Leser weder den Vornamen des Autors noch den von Morse. Erst später stellte letzterer sich als Endeavour heraus.

Um sich eine Pause von seinen launischen Kindern zu gönnen, begann Dexter 1972, die ersten Absätze eines Kriminalromans zu notieren. Zunächst war es sein einziges Ziel, sich etwas Zerstreuung zu gönnen. Daraus wurden 13 Romane und die beliebteste britische Fernsehserie aller Zeiten mit John Thaw als Inspektor Morse, die bald ein Prequel und ein Sequel bekam. Der letzte Roman der Morse-Reihe wurde 1999 veröffentlicht und beschließt einen Zeitraum von 25 Jahren. Auf der Liste der besten Detektive aller Zeiten rangiert er auf Platz 7, hinter Sam Spade, aber vor Father Brown.

Bei Dexters Inspector Morse war sich die Fachwelt von Beginn an einig, dass es sich um eine Rückkehr des Goldenen Zeitalters des Kriminalromans handelte. Niemand sonst von den modernen Autoren kam dem so nahe, und damit ist das äußerst literarische und kluge Schreiben gemeint und nicht der inhaltliche Vorgang.

Die Hauptattraktion ist natürlich Morse selbst, eine komplexe und faszinierende Figur und in gewisser Weise ein Rückgriff auf die Tage exzentrischer Detektive. In den 13 Büchern verwandelt er sich von einem kleinen, schlanken, dunkelhaarigen Mann allmählich in die weißhaarige, blauäugige Person mittleren Alters, die dann auch in der berühmten TV-Serie zu sehen ist. Dort wurde der Lancia des Buchers zwar auf mysteriöse Weise plötzlich in einen kastanienbraunen Jaguar und Sergeant Lewis, ein stämmiger Ex-Boxer in Morses eigenem Alter, wurde zu einem jüngeren Mann, aber charakterlich blieb alles gleich, begonnen bei Morses Griesgrämigkeit, der Vorliebe für Alkohol, Kreuzworträtsel und Wagner-Opern, dem unglücklichen Liebesleben, bis hin zu den brillanten, aber sprunghaften Schlussfolgerungen.

“Der letzte Bus nach Woodstock” führte also Morse und Sergeant Lewis ein. Morse ist zwar jähzornig, hat aber nicht ganz den akademischen Hochmut, den er im Laufe der Fernsehsendung entwickelte – er ist vielleicht angedeutet, aber nicht voll ausgeformt. In seinen Vierzigern ist er ein ganz anderer Typ, ziemlich hartgesotten und bereits ziemlich desillusioniert von der Welt, während sie voranschreitet. Er leidet an Gicht und in einer Szene muss er sich deswegen seine Schuhe eine Nummer größer kaufen, um zu einer Tanzveranstaltung zu gehen, wo doch ein Fuß ziemlich angeschwollen ist.

In diesem ersten Roman wird ein Mädchen mit eingeschlagenem Schädel auf dem Parkplatz eines Pubs aufgefunden. Spätestens jetzt genießen wir die wohltuende Vorgehensweise ohne die überkandidelte Forensik amerikanischer Machwerke. Während Lewis den Tatort untersucht, trinkt Morse in einem Hinterzimmer erst einmal Scotch. Die klassische Arbeit des Nachdenkens ist gefragt, des Individuums. Man mag sich sicher fragen, ob überhaupt jemand nüchtern genug ist, den Fall aufzuklären, aber genau das ist das Missing Link zu vielen heutigen Werken, die sich doch eher am Thriller abarbeiten, allein schon deshalb, weil er leichter zu schreiben ist. Man kann sich einen Detektiv heutiger Prägung kaum mit bestimmten Kultiviertheiten glaubhaft vorstellen, ebenso wenig wie eine moderne Wohnung ohne irgendeinen Ikea-Schrott.

Irgendwann scheint Morse einfach ins Auto zu steigen und nach einem überraschenden Muster vorzugehen, das wie ein Zaubertrick wirkt, ohne aber den Leser zu hintergehen. Lewis weiß die Gedankengänge seines Chefs oft nicht zu deuten, aber gleich zu Beginn des Romans springt der Funke, der die kommende Partnerschaft begründet, über. Während Morse bei seiner Untersuchung einen Whiskey nach dem anderen weghaut, verkündet er, dass Lewis keinen bekommen sollte, weil er ja im Dienst sei. Das ist ein sympathischer Spaß, der vielleicht etwas rüde erscheinen mag, aber in Wirklichkeit den gegenseitigen Respekt voreinander begründen wird.

Am Ende ist der Leser von einigen Überlegungen, die Morse anstellt und die zur Lösung des Falls führen, verblüfft. Es gibt bereits hier schon das typische Morse-Stolpern, das zu einer richtigen Schlussfolgerung führt. Er versteht die Dinge falsch, er geht einer losen Ahnung nach oder verfällt sogar in ein irriges Vorurteil, muss dann zurückgehen und von vorne anfangen. All das, was Morse zu einem so unverwechselbaren Charakter macht, ist hier bereits voll ausgebildet, auch wenn zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht abzusehen war, welchen Kultstatus die Figur eines Tages erreichen würde. Dexter selbst hatte zu diesem Zeitpunkt mit nicht mehr als einem Roman geplant, war aber so klug, Morse so zu skizzieren, dass im Roman Informationen angelegt sind, die zur weiteren Ausarbeitung reizen. “Der letzte Bus nach Woodstock” ist aber auch deshalb ein so wichtiger Meilenstein, weil der Roman nicht auf Nummer sicher geht, sondern bereits die Türen zu dem öffnet, was dann später ein Mankel oder Ian Rankin aufnehmen würden.

Was den deutschen Lesern leider entgeht, sind die zufälligen Hinweise auf englische Kreuzworträtsel, die auch im Original selten erklärt werden, die Verwendung des Chambers Dictionary und des feinen zynischen Regency Period Small’s für sehr obskure und nicht so obskure Wörter. Morses Verärgerung über Rechtschreib- und Grammatikfehler kann allerdings ebenso gut transportiert werden wie seine Wertschätzung für die wenigen noch guten englischen Biere und Scotches, wobei man auch hier fachmännische Kenntnisse in Bezug auf die Marken nötig hat.

Voller Rätsel muss wohl auch Morses Besessenheit von der seit 1951 laufenden britischen Radio-Seifenoper “The Archers” bleiben, die mit 19.300 ausgestrahlten Episoden das langläufigste Drama der Welt ist, obwohl es Anfangs nur dazu gedacht war, Landwirte nach dem Zweiten Weltkrieg zu informieren.

Colin Dexter im Unionsverlag

The Archers (BBC)

Chambers Dictionary

 

Die Figur Sherlock Holmes

Sherlock Holmes ist neben Dracula jene fiktive Figur, die in der Popkultur am meisten adaptiert und inszeniert wurde. Dass der Detektiv auf der ganzen Welt bekannt ist, liegt aber nicht an den kongenialen Originalgeschichten, sondern an den unzähligen Filmen, Theaterstücken, Musicals und Comics. Fast alle Symbole und Sätze, die aus den vielen Fernseh-, Film-, Theater- und anderen grafischen Reproduktionen stammen und die heute scheinbar zum Kanon gehören – wie etwa der Deerstalker-Hut – kommen in den Texten überhaupt nicht vor. Aber während diese dazu neigen, mit der Mode zu wechseln, scheinen die Originalgeschichten von Sir Arthur Conan Doyle, die immer wieder bearbeitet werden, sich in unserem kollektiven Bewusstsein festzuhalten wie nichts vor oder nach ihnen.

Der Reichenbach-Schock

1893 stieß der Autor Sir Arthur Conan Doyle den Detektiv Sherlock Holmes von einer Klippe. Die Klippe befand sich in der Schweiz. Es sind die berühmten Reichenbachfälle, die unter ihr dahinbrausen. Aber Conan Doyle war gar nicht vor Ort, er erledigte die Drecksarbeit von seinem Haus in London aus, in dem er schrieb.

“Ich nehme schweren Herzens meine Feder in die Hand, um diese letzten Worte zu schreiben, mit denen ich die einzigartigen Gaben festhalten werde, mit denen mein Freund Sherlock Holmes ausgezeichnet wurde”,

sagt der Erzähler Dr. John Watson in Conan Doyles Geschichte Das letzte Problem, die im Dezember 1893 im Magazin “The Strand” erschien.

Conan Doyle selbst wirkte etwas weniger emotional. “Tötete Holmes”, schrieb er in sein Tagebuch. Man kann sich Conan Doyle vorstellen, sein glattes Haar, das im Kerzenschein schimmert, wie er seinen üppigen Schnurrbart vor Freude dreht. Später sagte er von seiner berühmten Figur: “Ich hatte eine solche Überdosis von ihm, dass ich mich ihm gegenüber fühlte wie gegenüber der Leberpastete, von der ich einmal zu viel gegessen hatte, so dass allein der Name mir bis heute ein kränkliches Gefühl gibt.”

Conan Doyle mag zu diesem Zeitpunkt noch gedacht haben, dass er sich seiner Figur damit entledigt hätte, aber damit unterschätzte er die Fans. Die öffentliche Reaktion auf Holmes’ Tod war anders als alles, was die Welt der Fiktion jemals vorher erlebt hatte. Mehr als 20.000 Strand-Leser kündigten ihre Abonnements, empört über Holmes’ vorzeitigen Tod. Das Magazin überlebte kaum. Selbst die Mitarbeiter bezeichneten Holmes’ Tod als ein “absolut schreckliches Ereignis”.

Der Legende nach trugen junge Männer in ganz London schwarzes Trauerflor. Leser schrieben wütende Briefe an die Redaktion, es wurden Clubs gegründet, in denen es ausschließlich um die Rettung von Holmes’ Leben ging.

Das erste Fandom

Und Conan Doyle war schockiert über das Verhalten der Fans. Das hatte es vorher noch nicht gegeben. (Sie wurden zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal als “Fans” bezeichnet. Der Begriff – eine Kurzform für “Fanatiker” – wurde erst vor kurzem für amerikanische Baseballbegeisterte verwendet). In der Regel akzeptierten die Leser, was in ihren Büchern geschah. Jetzt begannen sie, ihre Lektüre persönlich zu nehmen und zu erwarten, dass ihre Lieblingswerke bestimmten Erwartungen entspräche.

Die begeisterten Leser von Sherlock Holmes waren es, die das moderne Fandom erschufen. Interessanterweise setzt sich Holmes’ intensive Fangemeinde bis heute fort und läutet endlose Neuerungen ein, wie etwa die US-Serie Elementary und BBCs Sherlock. (Es darf angemerkt werden, dass das bekannte Zitat: “Elementar, mein lieber Watson!”, nachdem die Elementary-Serie benannt ist, gar nicht in den Originaltexten auftaucht).

1887 erschien die erste Novelle mit dem Detektiv: Eine Studie in Scharlachrot. Von Beginn an war er so beliebt, dass Conan Doyle bald darauf bereits zu bereuen begann, ihn überhaupt erschaffen zu haben. Denn diese Geschichten überschatteten alles, was Doyle für sein “ernsthaftes Werk” hielt, etwa seine historischen Romane.

An Veröffentlichungstagen standen die Leser an den Kiosken Schlange, sobald eine neue Holmes-Geschichte in The Strand erschien. Wegen Holmes war Conan Doyle, wie ein Historiker schrieb, “so bekannt wie Queen Victoria”.

Die Nachfrage nach Holmes-Geschichten schien endlos. Aber obwohl The Strand Conan Doyle gut für seine Geschichten bezahlte, hatte dieser nicht vor, den Rest seines Lebens mit Sherlock Holmes zu verbringen. Als er 34 Jahre alt war, hatte er genug. Also ließ er Professor Moriarty Holmes die Wasserfälle hinunterstoßen. Acht lange Jahre widerstand Conan Doyle dem Druck, der allerdings mit der Zeit so groß wurde, dass er 1901 eine neue Geschichte schrieb: Der Hund von Baskerville. Aber an diesem Fall arbeitete Holmes noch vor dem verhängnisvollen Sturz. Erst 1903, in Das leere Haus ließ er Sherlock Holmes mit der Begründung auferstehen, nur Moriarty sei in diesem besagten Herbst gestorben, während Holmes seinen Tod nur vorgetäuscht habe. Die Fans waren zufrieden.

Sherlock – Ein Leben nach dem Tode

Seitdem sind die Fans allerdings noch wesentlich obsessiver geworden. Der Unterschied zu damals besteht ledigich darin, dass wir uns an ein starkes Fandom gewöhnt haben. Maßgeblich beteiligt an der Glut der Leidenschaft ist die BBC-Serie Sherlock, die von 2010 – 2017 in 180 Ländern ausgestrahlt wurde. Hier spielt Benedict Cumberbatch in einer atemberaubenden Performance den zwar modernen, aber besten Holmes, den es je zu sehen gab, begleitet von Martin Freeman als Watson. Seitdem pilgern unfassbare Scharen in den von Holmes und Watson bevorzugten Londoner Sandwich-Shop, oder in Speedy’s Café. Während der Produktion der Serie kam es sogar zu Problemen, weil sich Tausende Fans am Set tummelten, die dann in die Baker Street weiter zogen, die in Wirklichkeit die Gower Street ist.

Bemerkenswert ist, dass sich die Fans von Sherlock Holmes seit mehr als 120 Jahren intensiv mit dem fiktiven Detektiv beschäftigen, unabhängig davon, in welches Medium er übertragen wurde (es dürfte kein einziges fehlen).

Mark Gatiss, der Mitgestalter der Sherlock-Reihe, hat darauf hingewiesen, dass Holmes einer der ursprünglichen fiktiven Detektive ist – die meisten anderen danach geschaffenen Ermittler waren Kopien oder eine direkte Reaktion auf ihn:

“Alles in allem ziehen die Leute eine Linie unter Sherlock und Watson. Agatha Christie kann ihren Poirot nur klein und rundlich machen – im Gegensatz zu groß und schlank. Auch er braucht einen Watson, also erschafft sie Captain Hastings. Wenn man sich umsieht, ist das immer das gleiche Modell. Es ist unverwüstlich.”

Nun, selbst Sherlock Holmes hatte einen Vorgänger, und der stammt aus der Feder von Edgar Allan Poe. Dessen Auguste Dupin trat erstmals 1841 in der Erzählung Der Doppelmord in der Rue Morgue und dann in zwei weiteren Erzählungen auf. Conan Doyle hat ihm Refernz erwiesen, indem er ihn in Eine Studie in Scharlachrot auftreten lässt. Dass er sich bei Poe bediente, bedeutet aber nicht, dass sich Sherlock Holmes nicht in eine völlig eigene Richtung entwickelte. Hier wurde der Detektiv in eine definitive Form gegossen.

Sherlock-Mitgestalter Steven Moffat sollte nun das Schlusswort haben:

“Sherlock Holmes ist ein Genie, deshalb ist er ein bisschen seltsam. Ich weiß nicht, wie oft das im wirklichen Leben vorkommt, aber in der Fiktion kommt es doch oft vor. Und das haben wir Sherlock zu verdanken”

Weiterführende Sendungen:

Arthur Conan Doyle – Spiritist und Gentleman

Musik von Kevin MacLeod.

Höllenjazz in New Orleans

Ray Celestin: Höllenjazz in New Orleans

New Orleans, Mai 1919. Ein mysteriöser Mörder geht um, den man den Axeman nennt. Ähnlich wie im Fall Jack the Ripper gibt es einen Spottbrief, den er an die ansässige Zeitung schickt (beim Ripper war es die Polizei selbst, an die die Briefe adressiert waren), und ähnlich wie Jack the Ripper gab es den Axeman wirklich, auch er wurde nie gefasst, die Morde hörten einfach auf.

Bei seinen brutal verstümmelten Opfern hinterlässt er stets eine Tarotkarte.

Die Ermittlungen werden von drei unterschiedlichen Seiten aufgezogen. Da sind Detective Lieutenant Michael Talbot, der ehemalige Polizist und Mafioso Luca D’Andrea, der frisch aus dem Gefängnis entlassen wurde, und Ida Davis, eine Sekretärin der örtlichen Zweigstelle der Detektei Pinkerton, die unabhängig voneinander die Morde untersuchen.

Ray Celestins Debütroman führt uns zurück in die Zeit, in ein New Orleans nach dem ersten Weltkrieg. Die Erzählung wechselt zwischen den drei Hauptfiguren, die alle einen anderen Ansatz haben, und sie nimmt uns mit, um eine Reihe historischer Verbrechen zu untersuchen. Dabei sehen wir interessanterweise nicht nur drei Möglichkeiten, sich einem Verbrechen zu nähern, wir erleben auch die Stadt aus drei unterschiedlichen Perspektiven, die sich im Laufe der letzten hundert Jahren kaum verändert hat, glaubt man den Stimmen, die sich damit auskennen. Tatsächlich gilt New Orleans als die große Ausnahme unter den Städten dieser Welt, eine regelrechte Besonderheit in jeder Hinsicht, und das sickert aus nahezu jeder Zeile des Romans hervor.

Michael Talbot ist Ire der zweiten Generation, ein Mitglied der Polizei, und er hat es schwer mit seinen Kollegen. Vor einigen Jahren musste er gegen seinen damaligen Chef Luca D’Andrea aussagen, was diesen für fünf Jahre ins berüchtigte Gefängnis “Angola” brachte.

D’Andrea selbst ist ein italienischer Mafioso, der sich innerhalb der Polizei hochgearbeitet hatte. Nach fünf Jahren wieder auf freiem Fuß, ist sein einziger Wunsch nun, in seine Heimat Sizilien zurückzukehren und seine Tage dort zu beenden, wo er hingehört. Doch Carlos Matranga, der Kopf der ansässigen Mafia, hat noch eine letzte Aufgabe für ihn, bevor er ihn gehen lassen wird: die Identität des Axeman zu ermitteln, der bisher ausschließlich italienische Lebensmittelhändler und ihre Familien getötet hat.

Die dritte Erzählung folgt der jungen Ida Davis, die als Sekretärin im örtliche Büro der Pinkertons arbeitet, ein Kompromiss, den sie einging, um ihren Fuß auf die erste Sprosse der Karriereleiter zu setzen, die sie letztendlich zu einer eigenständigen Detektivin machen wird. Ihr Boss, ein fauler Cajun, könnte durchaus in der Hand der Mafia liegen, die man “Die Familie” oder “Die schwarze Hand” nennt. Also muss sie ihre Ermittlungen heimlich und mithilfe ihres jungen Musikerfreundes Louis “Little Lewis” Armstrong durchführen.

In Celestins Wahl der Protagonisten steckt viel von der Persönlichkeit der Stadt selbst: New Orleans war schon immer so etwas wie ein kultureller Schmelztiegel, und die Tatsache, dass nur einer der drei Protagonisten ein echter Orleanese ist, spiegelt dies wider. Celestin schenkt der Stadt große Aufmerksamkeit, so dass sie eine wichtige Rolle in der Erzählung übernimmt, und bemüht sich sehr darum, dass der Leser die Hitze spüren, die Gerüche riechen und die Geräusche hören kann, die diese Stadt so einzigartig machen. Mehr als jeder andere Autor seit James Lee Burke macht Celestin diese Stadt lebendig und versetzt den Leser mitten hinein.

Diese Schmelztiegel-Kultur strotzt vor religiösen, rassischen und politischen Spannungen, und es ist diese Spannung, die den gebrochenen Erzählstil der Handlung bestimmt. Talbot ermittelt, weil es seine Aufgabe ist, dies zu tun; D’Andrea ermittelt wegen der italienischen Verbindung und weil die Schwarze Hand dabei beobachtet werden will, wie sie die Dinge selbst in die Hand nimmt; Ida hat ihrem Chef etwas zu beweisen, möchte aber auch sicherstellen, dass Gerechtigkeit geübt wird und die Verbrechen nicht, wie die in der ganzen Stadt vorherrschende Theorie besagt, bequem dem nächsten Schwarzen in die Schuhe geschoben werden.

Das Rätsel selbst ist ein wenig prosaisch und soll nicht unbedingt vom Leser gelöst werden können. Was “Höllenjazz” lesenswert macht, sind die Figuren, der Schauplatz und die clevere Konstruktion, die dafür sorgt, dass diese drei Ermittlungs-Stränge während der gesamten Romandauer parallel laufen, selten dieselben Hinweise aufgreifen und niemals Informationen von einem zum anderen streuen. Am Ende des Romans ist es interessant zu sehen, wie jeder der Ermittler zum richtigen Schluss kommt, aber die Schönheit des Romans liegt in der Tatsache, dass am Ende die einzige Person, die die ganze Geschichte kennt, der Leser ist, der die Informationen aus den drei verschiedenen Abenteuern zusammenfügt.

Als Liebhaber einer solchen Mischung aus historischen Fakten und Fiktion bin ich etwas spät auf dieses Buch aufmerksam geworden, es erschien nämlich bereits 2018. Die Tatsache, dass New Orleans einer meiner Lieblingsorte auf dem Planeten ist – und die Tatsache, dass Celesetin diesen Ort so hervorragend dargestellt hat, ist schon allein ein Grund, das Buch all jenen zu empfehlen, die etwas mit dem frühen Jazz und dem Schauplatz anzufangen wissen. Eine der interessantesten Figuren ist natürlich Louis Armstrong, dem wir an einem Punkt in seinem Leben begegnen, wo er noch nicht die Sensation des ganzen Südens der USA ist.

In diesem Debüt geht es also vor allem um Charakterzeichnung und die Lebendigkeit eines Ortes. Es ist die punktgenaue Wiedergabe eines einzigartigen Zeitpunkts und eines einzigartigen Ortes auf der Erde, und der Roman hat genug Spannung, um sicherzustellen, dass der Leser während der ganzen Zeit beschäftigt bleibt. Celestin zeichnet sich durch Detailgenauigkeit aus – sowohl in Bezug auf die Geschichte als auch auf den Schauplatz – aber niemals um den Preis, die Geschichte zu vernachlässigen. “Höllenjazz in New Orleans” ist ein ausgezeichneter Erstling, die perfekte Einführung einer hochtalentierten neuen Stimme, die mittlerweile bereits zwei neue Romane vorgelegt hat. Der letzte – “Gangsterswing in New York” – erschien 2020, und da die ganze Reihe mit City Blues Quartett betitelt ist, wird es natürlich noch einen Roman aus dem Topf Stadt – Musik – Verbrechen geben. Und es bleibt vor allem historisch.

Erschienen sind die Bände bei Piper.

Die Bestie mit den fünf Fingern

William Fryer Harvey: Die Bestie mit den fünf Fingern

Hallo, Freunde draußen an den Radiogeräten. Wir gehen heute etwas in der Zeit zurück, um uns einen Klassiker aus dem Hause Diogenes anzuschauen. Ein Verlag mit einem überhaupt interessanten Profil, dessen Credo besagt: “Jede Art des Schreibens ist erlaubt, nur nicht die langweilige”. Zugegeben, das Buch, um das es heute geht, besser gesagt, die Sammlung von Geschichten, ist dort schon lange nicht mehr zu finden. Sie wurde 1979 veröffentlicht und so weit ich weiß, niemals nachgedruckt, aber antiquarisch ist das Taschenbuch nicht schwer zu finden: “Die Bestie mit den fünf Fingern”

William Fryer Harvey wurde in das faszinierende Zeitalter der Psychoanalyse hineingeboren. Als Arzt sind ihm die Unternehmungen Freuds um 1900 natürlich nicht entgangen. Die Surrealisten zogen ihren eigenen Spuk daraus, andere lehnten die Psychoanalyse rigoros ab. In der Kunstwelt fand Freud – wenig erstaunlich – den größten Anklang, aber Harvey ist einer jener Schriftsteller, die aus der Psychoanalyse Gespenstergeschichten ableiteten.

Es gibt neun Sammlungen von ihm, aber wir haben hierzulande leider nur eine bekommen: “Die Bestie mit den fünf Fingern“, die jedem nur ans Herz gelegt werden kann. Die Sammlung enthält neben der berühmten Titelgeschichte auch die anderen Meisterwerke wie “Augusthitze” und “Der Begleiter”.

Hier haben wir also die eine Sammlung psychologischer Gespenstergeschichten von W. F. Harvey vorliegen, die alle etwas anders sind als die bekannten Variationen. Zwar könnte man behaupten, eine Gespenstergeschichte sei immer auch psychologisch in ihrer Aussage und läge damit nicht falsch, aber uns interessiert hier die Frage nach der Einbildung. Wenn wir davon überzeugt sind, dass es in einer Geschichte um das Übernatürliche geht, nehmen wir als Leser eine andere Haltung ein, als wenn wir berechtigte Zweifel haben, die sich aber nie aufdecken lassen, weil der Autor uns in ein Grenzland schickt: Zufall? Einbildung? Grauen? Alles zusammen?

Es mag etwas überraschen, einen so sträflich vergessenen Autor wie William Fryer Harvey gleich neben einige der größten Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts zu stellen, denn kaum je hört man selbst aus Kreisen, die sich vermeintlich etwas mit der phantastischen Literatur auseinandersetzen, auch nur eine Silbe über ihn. 1955 lobte ihn die Times und betrachtete ihn als gleichwertig mit MR James und Walter De La Mare. Es ist nicht so, dass man immer etwas auf solche Aussagen geben müsste, aber man hätte erwarten können, dass sich das interessierte Publikum zumindest selbst davon überzeugt. Aber das geschah nicht, und so finden sich bis heute kaum nennenswerte Spuren von ihm. Obwohl Harvey dafür gefeiert wurde, im ersten Weltkrieg sein Leben aufs Spiel gesetzt zu haben, als er einen im lecken und vollgelaufenen Maschinenraum eines Zerstörers eingeklemmten Maat operierte, obgleich die Gefahr bestand, dass der Zerstörer auseinander brach – wofür er die Tapferkeitsmedaille bekam -, bleibt er doch eher für seine Geistergeschichten in Erinnerung, die zu den besten gehören, die je geschrieben wurden. Viele literarische Riesen haben sich diesem Genre verbunden gefühlt, und deshalb ist es umso bemerkenswerter, wenn man gerade in diesem Feld ein Zeichen zu setzen vermag; aber Harveys Stil fühlt sich an wie ein dunkles Schattenbild der Geschichten Sakis (Hector Hugh Munro) und verdienen es, gefeiert zu werden.

Nachdem Harvey im Krieg Lungenschäden erlitten hatte, blieb sein Zustand stets bedenklich während seines kurzen Lebens (er starb mit 52 Jahren), aber er begann, Kurzgeschichten zu schreiben, die das Irrationale und Unterbewusste mit kraftvoller Wirkung zur Geltung brachten. Obwohl sein Output relativ klein war, profitierten seine Geschichten von ihren modernen psychologischen Erkenntnissen und dem Mangel an einfachen Schlussfolgerungen.

“Die Bestie mit den fünf Fingern” wurde 1928 veröffentlicht, und fast zwei Jahrzehnte später wurde die Geschichte unter der Leitung von Robert Florey verfilmt.

“Die Hand krümmte sich in Todeszuckungen; wie ein Regenwurm an einem Angelhaken wand sie sich hin und her, vom Nagel auf dem Brett festgehalten”,

schrieb er in dieser Geschichte, in der Eustace Borlover entdeckt, dass die rechte Hand seines blinden Onkels Adrian begonnen hat, von selbst und ohne das Wissen des Trägers zu schreiben. Nach dem Tod seines Onkels erhält Eustace die abgetrennte Hand mit der Post zugeschickt. Nach Angaben des Anwalts wurde in Adrians Testament ein neuer Zusatz gefunden, der darum bat, ihm die Hand abzutrennen und als Teil seines Erbes Eustace zu schicken. Es zeigt sich bald, dass die Hand ein Eigenleben besitzt, intelligent, sehr beweglich und ein Meisterfälscher ist. Eustace und sein Sekretär gehen sofort davon aus, dass die Hand böse ist, aber um ehrlich zu sein, scheint sie eher schelmisch als bösartig zu sein. Bis Eustace die Hand auf ein Brett nagelt und es für mehrere Monate in einen Safe steckt. Denn aufgrund dieses Vorkommnisses schwört die Hand Rache.

Der Film lässt aus dem blinden Onkel einen Pianisten werden, dessen abgetrennte Hand aus seinem Mausoleum zurückkehrt, um sich mit rachsüchtigen Attacken gegen den Sekretär zu wenden, der sich heimlich nach dem Vermögen des Toten sehnt. Der Film war ein großer Erfolg, auch wegen seiner exemplarischen Spezialeffekte. Luis Buñuel soll an ihrem Design beteiligt gewesen sein, und der surreale Anblick der Hand, die ein Klavier hinaufhüpft, deutet darauf hin, dass dies wirklich so war. Der Film rühmte sich auch der Musik von Max Steiner und bewahrt viel von seiner seltsamen, eindringlichen Kraft. Das führte zu einem erneuten Interesse an Harveys Werk, und es folgten einige Nachdrucke seiner Geschichten. Dieses kurze Auflodern war aber aus unverständlichen Gründen nicht bleibend.

Mit seiner Frau lebte er eine Zeitlang in der Schweiz, aber die Sehnsucht nach seiner Heimat führte zu seiner Rückkehr nach Weybridge in England. 1935 zog er nach Letchworth, wo er am 4. Juni 1937 auch starb. Nach einer Trauerfeier im örtlichen Friends Meeting House wurde Harvey auf dem Kirchhof von St Mary the Virgin in Old Letchworth begraben.

Die Frage, ob das, was Harvey vorlegt (bis auf wenige Ausnahmen) wirklich Gespenstergeschichten sind, drängt sich auf, und sie kann nur dann verneint werden, wenn man die Psychoanalyse von sämtlichem Spuk ausnimmt. Das Ungewöhnliche, Unheimliche und Seltsame spielt sich oft genug in unserem Kopf ab, oder wird von ihm gar erst ausgelöst. Und so ist es dann doch nicht verwunderlich, dass man Harvey als einen Meister der psychologischen Geistergeschichte interpretiert, in der das Übernatürlich nur verhalten, wenn überhaupt, auftaucht. Das Gefühl des Unheimlichen – wie Freud es formulierte – ist hier exemplarisch ausgeführt. Möglicherweise ist die Wirkungskraft dieser Geschichten dann auch der hohen Wahrscheinlichkeit geschuldet. Es könnte so gewesen sein.

Weitseher

Der Adept des Assassinen, von Robin Hobb (Weitseher #1)

Robin Hobbs Debütroman “Der Adept des Assassinen” erschien in seiner ersten Übersetzung 1999 bei Bastei-Lübbe, 2009 als “Der Weitseher” bei Heyne und 2017 als “Die Gabe der Könige” bei Penhaligon. Man sieht bereits daran, dass man die bekannte Methode, willkürlich mit Texten umzugehen, hier wieder bis zum Äußersten getrieben hat. Tatsächlich heißt der Roman “Assassin’s Apprentice”, und wie man sieht, hat Bastei hier den nötigen Respekt gezeigt. Nur beim dritten Band der ersten Trilogie um Fitz, den Weitseher, hat man mit “Die Magie des Assassinen” (Assassin’s Quest) eine Abwandlung des Originals vollzogen. Vielleicht wusste man auch nicht, was in Gottes Namen eine “Quest” ist. Wie dem auch sei, es ist das übliche Ärgernis, und man muss schon fast jede Buchbesprechung mit einem derartigen Einstieg versehen.

2017 hat die Autorin Margaret Astrid Lindholm Ogden ihre 16 Hauptromane des Zyklus “The Realm of the Elderlings” mit dem Roman “Assassin’s Fate” (bein Penhaligon wurde 2019 daraus “Die Tochter des Wolfs”) abgechlossen, aber bereits angekündigt, dass sie weiter daran arbeiten wird. Zwei Bücher der sogenannten “Regenwildnis-Saga” sind noch gar nicht bei uns erschienen, auch wenn man die vier Bücher getrost erst einmal verschmerzen kann, weil sie doch nur sporadisch mit den “Zauberschiffen” verbunden sind, jener Trilogie, die direkt auf die ersten drei Weitseher-Bücher folgte.

Als Megan Lindholm unterzeichnete Robin Hobb 1993 den Vertrag über eine Trilogie bei Bantam-Books, da ahnte noch niemand, dass hier ein moderner Klassiker des Genres entstehen würde.

Wie man sich bettet, so liegt man – ein Sprichwort, das besonders für den Konsum von Fantasy-Literatur taugt. Fühlen wir uns in einer Welt, ihren Sitten, ihrer Kultur wohl, hegen wir kaum den Wunsch, diese Welt eines Tages wieder zu verlassen. Zumindest nicht so schnell. Das Geheimnis eines Klassikers wie der drei Weitseher-Trilogien (und der Zauberschiffe) liegt nicht so sehr in der Geschichte selbst als am Wie der Geschichte. Da wir uns seit vielen Tausend Jahren stets die gleichen fünf bis sechs Geschichten erzählen, kann das Besondere jeder ‘neuen’ Variation nur die Form sein. Es ist der Sänger, nicht das Lied, lautet ein anderes Sprichwort, das verdeutlicht, was hier gemeint ist.

Oberflächlich betrachtet, haben wir es hier mit der „gewohnten“ Form klassischer Fantasy zu tun, aber wie jeder gute Autor, erzählt uns Hobb mehr als einfach nur eine spannende und wendungsreiche Geschichte in einer Prosa, die an Honig erinnert, satt und schillernd. Jedes Detail steht in 3-D vor uns, die Welt ist intensiv, die Figuren lebendig und komplex, die Intrigen fein gesponnen. Das hört sich dann schon nach moderner statt klassischer Fantasy an, und in der Tat verzichtet Hobb auf stereotype Mechanismen, wie man sie etwa von zahllosen Tolkien-Epigonen kennt, als kaum eine Entwicklung des Genres erkennbar war.

Die Magie, die es in den 6 Dutches (Provinzen oder Herzogtümer) gibt, besteht hauptsächlich aus zwei glaubhaften Prinzipien: Einmal der „Gabe“, die einer parapsychologischen Telepathie ähnlich ist, und zweitens aus der „Alten Macht“, einer Tiermagie, wie man sie in archaischen Religionen beschrieben findet.

Robin Hobb nutzt, wie so viele Fantasy-Autoren, für ihre Arbeiten eine Karte der Ländereien, die sie kennt. In ihrem Fall ist das Alaska. Vorgestellt werden die Provinzen und ihre Kulturgeschichte durch den einzelnen Kapitel vorgelagerten Auszügen aus Chroniken, Schriften des alten Fitz (woraus zu erkennen ist, dass er seine Abenteuer überlebt), oder seines Lehrmeisters Chade. Dieser Kniff ist notwendig, weil Hobb Fitz in der ersten Person erzählen lässt, was bekanntlich die Sicht auf die Welt einengt. Andererseits gelingt es dadurch aber auch, die Erlebnisse äußerst intensiv zu halten, die Geheimnisse hingegen wage und widersprüchlich. Und Hobb beherrscht ihre Figur in dieser Perspektive perfekt, was sich nur mit der Literatur des 19. Jahrhunderts vergleichen lässt.

Mit dem Weitseher-Zyklus zieht sie sämtliche Register der Hofintrigen, mischt diese mit Elemente der Artus-Sage (Stichwort Königstreue) und einer glaubhaften psychischen Komponente, die nicht wirklich als Magie zu bezeichnen ist, sondern als durchaus plausibles geistiges Talent. Plausibel, subtil und fmit menschlichen Schwächen in einem glaubhaftem Maß sind schlicht alle Figuren gestaltet. Hobb beherrscht die Charakterisierung wohl einzigartig, einzigartig vor allem in dieser Fülle, in der Weltbeschreibung, Emotion, Tat, Gedanke, Talent, Traum und Wirklichkeit, Vision, Schrecken, Freundschaft und vieles mehr derart ineinander greift, dass man dieses Werk nur als eines der wenigen absoluten Meisterwerke des ganzen Genres beschreiben kann.

Was der Fluss erzählt

Diane Setterfield: Was der Fluss erzählt

Zwei Jahre hat es gedauert, bis wir den dritten Roman von Diane Setterfiled nun auch in Übersetzung vorliegen haben, immerhin eine Autorin, die 2006 mit “Die dreizehnte Geschichte” einen Orkan in der Verlagswelt verursachte. Wie man hört, ist jetzt leider sogar eine TV-Serie zu “Was der Fluss erzählt” geplant; wer die Verfilmung der dreizehnten Geschichte gesehen hat, wird das “leider” leicht verstehen können. Aber so ist das Geschäft. Auf der anderen Seite beweist das aber auch einmal mehr, dass Diane Setterfield ein herausragendes erzählerisches Talent besitzt und hier einen kraftvollen Roman darüber vorgelegt hat, wie wir uns selbst und anderen die Welt erklären, über den Sinn des Lebens in einem Universum, das undurchdringlich geheimnisvoll bleibt.

In Setterfields sprichwörtlich bezaubernden und verzauberten Geschichte dreht sich alles um den Fluss als Symbol und als metaphysischen Grund der Existenz gerade jener Menschen, die im Einflussbereich fließenden Gewässers leben. Hier ist es die Themse in der Nähe von Oxford, aber auch dieser gewaltige Fluss ist nichts ohne seine zahlreichen Seitenarme, groß und klein. Nicht nur ist der Fluss für das Geschichtenerzählen an sich ein definitives Bild, sondern für das ganze Leben, das, besieht man es sich genauer, ebenfalls nur aus Erzählungen besteht. Man erzählt sich selbst, wer man eigentlich ist und man erzählt es anderen; diese anderen erzählen einem nächsten, wer man ist und vieles, was man selbst erzählt hat, wird schon um die nächste Ecke herum zur Fiktion.

Setterfield erzählt dem Leser diese Geschichte. Was sich wie eine Binsenweisheit anhört, ist im Grunde nur der kleine Kniff, den Leser manches Mal direkt anzusprechen. Das ist am Ende nur konsequent, da die Autorin hier mit Konventionen des Erzählens herumspielt, während sie ihre Geschichtenerzähler im “Swan” durchaus das gleiche tun lässt. Dieses kleine und gemütliche Gasthaus – oder Pub – an der Themse ist neben dem Fluss selbst der Dreh- und Angelpunkt der Geschehnisse um ein rätselhaftes Mädchen, das eines Tages von dem Fotografen Daunt offensichtlich tot in die Gaststube gebracht wird, bevor er aufgrund von einigen Verletzungen ohnmächtig wird. Rita, die herbeizitierte Krankenschwester stellt dann zunächst den Tot des Mädchens fest. Als niemand hinsieht, küsst der Sohn des Gastwirts Jonathan, der am Down-Syndrom leidet, das Mädchen in der Hoffnung, es zu erwecken, wie es der Prinz mit Dornröschen getan hat.

Und siehe da: Als die Krankenschwester zur Leiche zurückkehrt, findet sie statt einer Toten ein lebendiges vierjähriges Mädchen vor. Innerhalb weniger Stunden erreichen die Spekulationen über die Identität des Kindes einen Grad an Verwirrung, den Setterfield auf den folgenden rund 400 Seiten aufrechterhalten kann. Dabei hilft ihr die Tatsache, dass das Mädchen sich weigert zu sprechen, um den Sachverhalt vielleicht aufzuklären.

Nun folgen einige überraschende Wendungen, als nämlich jeder in irgendeiner Form eine Beziehung zu diesem Kind in Anspruch nimmt. Nicht zuletzt gibt es da noch die gespenstische Gestalt eines längst verstorbenen Fährmanns, der in Momenten der Not erscheint, um Menschen entweder ans rettende Ufer zu bringen oder “zur anderen Seite”, sollte ihre Zeit gekommen sein. Im großen und ganzen sind die ländlichen Bewohner des Flusses, der wie gesagt die Themse ist, andererseits aber auch wieder nicht, ziemlich einfältige Arbeiter, die sich ihre Zeit mit der Interpretation der sich immer wieder ändernden Verhältnisse um das Mädchen beschäftigen, um ihren Alltag aufzulockern. Die Geschichte selbst ist dunkel genug und schwebt stets wie hinter einer Wolke, die zum Teil Märchencharakter hat, zum anderen aber Richtung Jane Austen tendiert, nämlich dann, wenn die Hintergrundgeschichten der einzelnen Protagonisten in den Vordergrund rückt, besagte Zu- und Abläufe der eigentlichen Erzählung, die durchflossen wird von Anspielungen und Wasser-Metaphern. Tatsächlich schreibt Setterfield mit nicht geringem Pathos über den Fluss, zum Beispiel, wenn ihr edelmütiger Protagonist Robert Armstrong ihn beschreibt:

“[…] hinter dem hellen, rieselnden Ton von Wasser auf Kies am Uferrand war noch ein Summen zu hören, so, wie einem der Schlag eines Glockenhammers noch als Nachhall in den Ohren klingt, wenn das hörbare Geläut schon vorbei ist. Es hatte noch die Umrisse von Schall, ohne den Klang, gleich einer Federzeichnung ohne Farbe.”

Armstrong, ein schwarzer Bauer, hat Geld und unendliche Reserven an Geduld und Freundlichkeit. Als unehelicher Sohn eines Edelmanns und einer Dienstmagd setzt er sich für die Außenseiter oder auch für ein entsprechendes Tier ein und tritt tatsächlich wie ein Heiliger auf, was die Figur selbst zu einer der Unglaubwürdigsten des ganzen Romans macht. Auf die Spitze getrieben wird das noch, als er eine lahme Frau heiratet, die eine Augenklappe trägt, um ihr verdrehtes Auge zu bedecken. Mit diesem Auge aber kann sie in die Seele der Menschen sehen, was sie aber nur selten nutzt. Setterfield setzt dieses Paar jedoch ganz bewusst ein, um ihre Version der Vergangenheit zu etablieren, in der die Menschen entweder außergewöhnlich anständig sind, über übersinnliche Fähigkeiten verfügen oder unsagbar kriminell sind. Einer dieser Schurken ist derjenige, der die Entführung eines Kindes geplant hat, und ja: in dieser Geschichte gibt es eine Menge verlorener Kinder.

Um das mysteriöse kleine Mädchen, das aus dem Fluss gefischt wurde, und die Jagd nach einem Mörder, der immer noch auf freiem Fuß ist, baut Setterfield einen fantasievollen, detaillierten, atmosphärischen Strom von Ereignissen auf.

Nichts wird in diesem Buch je unterschätzt, und nichts ist einfach, es sei denn, es handelt sich um die dösende Kundschaft des Gasthauses oder um die erbärmliche Gestalt der Lily White, Opfer brutaler häuslicher Misshandlungen und noch viel Schlimmerem. Sie steht am einen Ende des Spektrums, während am anderen Ende die Krankenschwester Rita steht, die unverheiratet ist, aus Angst, bei der Geburt zu sterben, wie es zu viele ihrer Patienten getan haben. Sie repräsentiert sowohl die Welt der hausgemachten Medizin vor Penicillin und chirurgischen Eingriffen als auch das aufkommende wissenschaftliche Zeitalter, in dem Fakten und strenge Beobachtung ein neues Verständnis ermöglichen. Der schwer verletzte Mann, dem sie im Gasthaus wieder zu Gesundheit verhilft, ist Henry Daunt, der sich in der unfehlbaren Formel der romantischen Fiktion kopfüber in seinen dienenden Engel verliebt.

Setterfield lässt ihre mäandernde Erzählung in der Schwebe zwischen Aberglauben und Vernunft, entscheidet sich aber bei ihrem Stil für das Potential, das im Grotesken und in der englischen Schauergeschichte liegt. Am Ende bin ich hin und her gerissen von dieser Flussfahrt, mag den Stil und das Können der Autorin loben, bin aber mit den Figuren nie wirklich warm geworden, um es genau zu sagen: mit keiner einzigen von ihnen, und das, obwohl die Figurenzeichnung nicht weniger umfassend ist wie der Ton des Romans. Es bleibt eine spezielle Geschichte, die mich einerseits angezogen, aber zu gleichen Teilen auch fortgestoßen hat.

Das Buch ist bei Blessing erschienen.

Musik von Kevin MacLeod

Blutige Nachrichten

Stephen King: Blutige Nachrichten

Es kam in den letzten Jahren immer wieder vor, dass vor allem jene Fans, die Stephen King wegen seiner Horror-Element lieben, enttäuscht waren von dem, was er ihnen zu bieten hatte; nicht weniger als eine Perfektion seiner Prosa und eine meisterliche Beherrschtheit seiner Themen, die sich hauptsächlich um Sterblichkeit und Freundschaft drehen (während ein noch größeres Thema die Opferbereitschaft war und ist). Obwohl King schon immer ein außergewöhnlicher Autor war, legt er mittlerweile eine Perfektion an den Tag, die aus schierer Erfahrung resultiert. Stephen King beherrscht als Schriftsteller alles. Seine Romane können ausufern und mäandern, sie können kontrolliert sein, erschreckend, phantastisch, ungehobelt und fein gesponnen. Und wenige Romanciers beherrschen zudem noch die kurze Form, oder die Novelle. Nimmt man es genau, ist in “Blutige Nachrichten” vom titelgebenden Kurzroman über die längere Erzählung bis zur Kurzgeschichte alles vertreten, und es ist nach Frühling, Sommer, Herbst und Tod und Four Past Midnight die dritte Sammlung, in der vier Perlen auf einer Schnur aufgereiht sind.

Warum also sollten viele Fans davon enttäuscht sein? Weil sie oft genug vergessen, dass Kings Werk vermuten lässt, dass Freundlichkeit oder eine kurze Phase der Zufriedenheit an den schrecklichsten Orten zu finden ist. Viele seiner Erzählungen, gerade der älteren, sind schwarz bis auf die Knochen, oft gab es dort keine Illusion der Hoffnung, aber meistens interessiert sich King dann doch für die Warmherzigkeit und das Mitgefühl, die der Dunkelheit am Rande der Grauzone trotzen. Sein Werk hat einen sowohl warmen Charakter als auch eine beruhigende Vertrautheit, die das Grauen im Innern mildert. Und das hat sich über die Jahre nicht unbedingt verstärkt, aber noch präziser herauskristallisiert.

Und damit begrüße ich euch zu einem weiteren Beitrag in unserer Rubrik “Das Stephen-King-Multiversum”. Heute geht es um die 2020 bei Random House erschienenen “blutigen Nachrichten”.

Jede der in “Blutige Nachrichten” versammelten Geschichten ist für King-Leser eine Rückkehr auf bekanntes Gebiet, aber zum größten Teil sind sie mit einem solchen Charme geschrieben, dass das Altbekannte in seiner Aufrichtigkeit erfrischend wirkt. Und in der Tat ist Aufrichtigkeit ein Schlüsselelement dieser Geschichten.

Blutige Nachrichten

Die Titelgeschichte, in der Holly Gibney, die Privatdetektivin, die sich in der Bill-Hodges-Trilogie und in The Outsider vom einer Handlangerin zur Heldin entwickelt hat, erneut auftritt, ist die längste Geschichte der Sammlung.

Das erste Soloabenteuer von Holly wurde aus verschiedenen Gründen mit Spannung erwartet. Dabei handelt es sich zwar nicht um eine direkte Fortsetzung von The Outsider, die geschilderten Ereignisse knüpfen jedoch direkt daran an. Hollys Detektei Finders Keepers konzentriert sich gewöhnlich auf entlaufene Hunde und Kautionsflüchtlinge, und das ist für Holly genau das richtige Umfeld, denn sie ist alles andere als eine Action-Heldin. Ihre Schrullen sind es, die sie zu einer so brillanten Figur machen, sensibel gezeichnet und realistisch durchdacht. Wie ihre Diagnose genau lautet, wissen wir nicht, nur so viel, dass sie höchst ängstlich ist. Mehr müssen wir aber auch nicht wissen, denn tatsächlich laufen die meisten Menschen, die an einer psychischen Grunderkrankung leiden, jahrelang undiagnostiziert durchs Leben, und wenn, sind die Diagnosen meistens falsch.

Häufig gehen die Neurosen oder Kämpfe der Menschen auf Ereignisse in ihrer Kindheit und auf die Beziehungen zu ihren Eltern zurück. King zeigt, dass er wie kein anderer weiß, was seine Aufgabe als Schriftsteller ist. Wir erhalten Einblicke in Hollys frühere Welt und erfahren mehr über die Beziehung zwischen ihr und ihrer Mutter, die ein Haupteinfluss für Hollys Problematiken ist. Die Figurenzeichnung ist präzise und emotional, und das ist ein Hauptmerkmal der ganzen Erzählung, die in der Tat kein Feuerwerk ist, sondern eher eine Vitrine, in der man einem Großmeister bei seiner Arbeit zusehen kann.

King beherrscht Komplexität gekonnt. Holly mag als eine verletzliche Figur erscheinen, als wäre sie aus Glas, aber die Tapferkeit und der Mut, den er ihr zugesteht, sind das, was die Dinge wirklich antreiben. Man will ihr die Hand reichen und sie beschützen, sie abschirmen; aber King schreit den Leser an: “Wagen Sie es nicht, sie ist die Heldin und beschützt Sie vor den Monstern”. Herauszufinden, ob es ihr gelingt, ist die ganze Freude bei der Lektüre dieser Geschichte.

Mr. Harrigans Telefon

“Mr. Harrigans Telefon” verdankt den EC-Comics und den Twilight-Zone-Episoden, die der Autor immer wieder als seine frühen Inspirationen bezeichnet hat, offensichtlich sehr viel. Und wieder zeigt King, dass er auch Figuren in der ersten Person brillant zeichnen kann. Manchmal ist es so, als würde man einer Autobiographie folgen, so gut kennt er seine Charaktere, die man – und das wiederhole ich immer wieder – nirgendwo authentischer finden wird. Es ist nicht die einzige Geschichte mit einem gewissen Maß an Nostalgie (die nächste ist es nicht weniger), wenn der Meta-Kommentar darin enthalten ist, wie schnell sich die Dinge innerhalb von 15 Jahren verändert und entwickelt haben.

Die Hauptfigur, Craig, erzählt die Geschichte als Erwachsener. Die Wahl, die Geschichte in der jüngsten Vergangenheit anzusiedeln, zeigt, wie ernst King jeden Teil seines Handwerks nimmt. Wir denken, dass wir uns an ein, zwei Jahrzehnte spielend erinnern können, aber wenn es darum geht, die Tatsachen zu überprüfen, würden wir uns wahrscheinlich schwer tun. King bleibt relevant, weil er ein geschärftes Auge auf die Dinge wirft; diese Erzählung zeigt, dass er nicht so sehr ein Satiriker ist (für ihn steht die Geschichte immer an erster Stelle), sondern ein Mensch, der genug Veränderungen erlebt hat, um uns davon zu erzählen. Die Geschichte spielt in den frühen Jahren der mobilen Technik, hat aber eine so zeitlose Stimme, dass das mobile Telefon bereits ein unheimliches, anachronistisches Objekt zu sein scheint, noch bevor der überkandidelte Blödsinn, den wir heute haben, einsetzt.

Chucks Leben

Wenn “Mr. Harrigans Telefon” an Kings frühe Romanen erinnert, dann ist “Chucks Leben” eine angemessene Darstellung seiner späteren literarischen Experimente. Die Geschichte wird in drei verschiedenen Teilen erzählt, von denen jeder in einem anderen Genre angesiedelt ist, durch die King den Leser auf eine umgekehrte Tour durch Momente in Chucks Leben von der Schwelle zur Sterblichkeit zurück in seine Kindheit führt. Der erste Teil ist ein apokalyptischer Alptraum, der durch einen netten metaphysischen Trick mit Chucks bevorstehendem Tod verbunden ist, während der letzte Teil einen Blick auf seine Kindheit in einem einzigartigen Spukhaus wirft. Aber es ist der Mittelteil, der am hellsten strahlt, als ein Stück emotional getriebener, nostalgischer Charakterarbeit, die Art von Schreiben, die King am häufigsten dann gelingt, wenn er gerade außerhalb des Horror-Genres arbeitet.

Hier begegnen wir Chuck im frühen mittleren Alter, als sich sein Weg mit einer einsamen jungen Frau und einem Straßenmusiker kreuzt. Ihre kurze Begegnung ist nicht lebensverändernd oder gar besonders bedeutsam, aber es ist die Vergänglichkeit des Augenblicks, die der Vignette eine solche Schärfe verleiht. Die Regeln von Chucks Welt sind vorübergehend außer Kraft gesetzt, und die Geschichte bietet einen vorbehaltlos positiven Moment des menschlichen Engagements. King ist in der Lage, aus so kleinen Begebenheiten Freude zu zaubern, dass sich der Leser fragt, wie der Trick zustande kam.

Ratte

Und wenn das Schreiben eine Art Magie oder seltsame Alchemie ist, dann erforscht die letzte Geschichte in Kings Sammlung sowohl die hellen als auch die dunklen Hälften dieser Verzauberung. Die titelgebende Ratte sieht die Version des treuen (und wiederkehrenden) fiktiven Stellvertreter des Autors in einer Hütte im Wald für kurze Zeit sein Domizil errichten. Drew ist dort, um einen Roman zu schreiben, etwas, das ein erhebliches Risiko birgt, da frühere Versuche ihn fast in den Wahnsinn getrieben haben. Während anfangs alles gut läuft, ziehen bald (sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne) Gewitterwolken auf. Ein unkluger Handschlag und die Anwesenheit einer seltsam gesprächigen Ratte verwandeln die Geschichte von der Angst eines Schriftstellers in ein faustisches Schnäppchen.

“Ratte” ist Kings bester Versuch, den Druck und die Klaustrophobie des Schreibprozesses seit Misery (Sie) zu vermitteln. Wir spüren Drews Aufregung über das leere Blatt und die endlosen Möglichkeiten, die es bietet. Es ist eine Aufforderung zu den (kreativen) Waffen. Die ersten 30 Seiten lassen vielleicht Sehnsucht nach einer eigenen Hütte im Wald aufkommen, um frei von den Verpflichtungen eines normalen Lebens zu sein. King schreibt mit absoluter Klarheit über die schriftstellerische Frustration und vergleicht sie in einem denkwürdigen Bild mit Drews Sohn Brandon, der fast an einer Tomate erstickt: “So ähnlich ist es bei mir”, sagte er. “Nur dass es bei mir im Hirn steckt statt im Hals. Ich ersticke zwar nicht richtig, aber ich bekomme nicht genügend Luft. Deshalb muss ich das Ganze zu Ende bringen.”

Als Drew anfängt, “seine Worte zu verlieren”, und seine Möglichkeiten sowohl kreativ als auch in Bezug auf das Überleben eingeschränkt werden, verwandelt sich “Ratte” in eine poetische Geschichte von Wahnsinn, Isolation und Besessenheit. Jeder, der jemals all seine Bemühungen in ein persönliches, kreatives Projekt gesteckt hat, wird Drews Perspektivenverlust erkennen, sobald der Roman damit beginnt, allumfassend zu werden.

Musik von David Fesliyan