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Wie Poe durch Dupin die literarische Welt für immer veränderte

Olivia Rutigliano ist die stellvertretende CrimeReads-Redakteurin bei Lit Hub. Ihre Arbeiten erscheinen darüber hinaus auf vielen anderen Plattformen. Sie ist Doktorandin und Marion E. Ponsford-Stipendiatin an der Columbia University, wo sie sich auf Literatur und Unterhaltung des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts spezialisiert hat. Wir danken für ihre Bereitschaft, bei uns mitzuwirken. —M.E.P.

Obwohl es in der Literatur seit Jahrhunderten nur so von cleveren Problemlösern wimmelt, von Trickbetrügern über geläuterte Diebe bis hin zu weisen Männern und Polizeipräfekten, versetzte Edgar Allan Poes Detektivgeschichte “Die Morde in der Rue Morgue”, als sie 1841 erschien, die literarische Welt in Erstaunen. In einem Haus in der Rue Morgue (einer fiktiven Straße in Paris) ist ein grausamer Doppelmord geschehen. Mehrere Zeugen bestätigen, dass sie mehrere Stimmen gehört haben, aber niemand kann sich darauf einigen, welche Sprache einer der Sprecher verwendet haben könnte. Es gibt mehrere Hinweise, von denen einer rätselhafter ist als der andere. Die Polizei ist ratlos. Doch C. Auguste Dupin, ein Liebhaber seltener Bücher, löst das Rätsel zu Hause, nachdem er die Details in der Zeitung gelesen hat, und wird so zur ersten echten Detektivfigur der Literatur und löst damit eine Revolution aus, in dem er ein Genres definiert. Er taucht in zwei weiteren Geschichten auf: “Das Geheimnis der Marie Rogêt”,  und “Der entwendete Brief” von 1844.

Wie der Literaturkritiker A. E. Murch schreibt, handelt es sich bei der Detektivgeschichte um eine Erzählung, bei der “das Hauptinteresse in der methodischen Entdeckung der genauen Umstände eines mysteriösen Ereignisses oder einer Reihe von Ereignissen mithilfe rationaler Mittel liegt“. Der Kritiker Peter Thoms führt dies weiter aus und definiert den Kriminalroman als “Chronik einer Suche nach Erklärung und Lösung” und fügt hinzu:

“Eine solche Fiktion gestaltet sich typischerweise als eine Art Rätsel oder Spiel, als ein Ort des Spiels und des Vergnügens sowohl für den Detektiv als auch für den Leser.”

Der wohlhabende Dupin ist ein Sesseldetektiv, der Rätsel löst, weil er es kann, indem er eine Methode  der “Folgerung” anwendet, bei der er im Grunde “über den Tellerrand hinausschaut” (und es ist gut, dass er das tut, sonst würde niemand diese Verbrechen lösen; der Mörder in “Die Morde in der Rue Morgue” entpuppt sich als entlaufener Orang-Utan. Man kann wohl mit Sicherheit sagen, dass niemand sonst darauf kommen würde). Er teilt seine Schlussfolgerungen seinem guten Freund, dem anonymen und oft verblüfften Ich-Erzähler mit.

Hätte Poe nicht die Konventionen festgelegt, die wir als Kennzeichen der modernen Detektivgeschichte kennen, hätten andere wahrscheinlich nicht lange danach das Gleiche getan. Die Literatur war auf dem Weg zu dieser Entdeckung; sicherlich gab es eine lange Reihe von Figuren, die ähnlich vorgingen, gestohlene Gegenstände aufspürten und unmögliche Rätsel knackten, und wie Dupin taten sie dies als Privatleute und nicht als Angestellte des Staates. Voltaire schrieb 1747 die philosophische Novelle Zadig oder das Schicksal zum Thema Problemlösung, in der es um einen weisen jungen Mann in Babylonien geht, dessen Wissen ihn zwar in Schwierigkeiten bringt, ihn aber letztlich oft rettet. In William Godwins 1794 erschienenem Roman Die Abenteuer des Caleb Williams oder: Die Dinge wie sie sind, einer vernichtenden Anklage gegen die Fähigkeit des so genannten Justizsystems, Leben zu ruinieren, werden staatlich sanktionierte Ermittler zugunsten von nicht-traditionellen Problemlösern desavouiert. 1819 schrieb der deutsche Schriftsteller E. T. A. Hoffmann Das Fräulein von Scuderi, wo eine neugierige Frau namens Madeleine von Scuderi (die man als Vorläuferin von Miss Marple betrachten könnte) eine gestohlene Perlenkette findet.

Diese Aufzählung wäre unvollständig ohne Eugène-François Vidocq, einen Kriminellen, der sich zum Kriminologen wandelte und von 1775 bis 1857 lebte. Er gründete und leitete die erste nationale Polizei Frankreichs, die Sûreté nationale, sowie die erste private Detektei Frankreichs. Sein Leben inspirierte zahllose (verwegene) Adaptionen, darunter auch eine amerikanische, die 1828 in Burton’s Gentleman’s Magazine unter dem Titel “Unpublished passages in the Life of Vidocq, the French Minister of Police” veröffentlicht wurde und die Poe sehr wohl gelesen haben könnte. Interessanterweise gibt es in dieser Geschichte eine Figur namens “Dupin”.

Der berühmte Drehbuchautor Brander Matthews schrieb:

“Die wahre Detektivgeschichte, wie Poe sie sich vorstellte, hat nicht das Rätsel selbst zum Ziel, sondern die aufeinanderfolgenden Schritte, die den analytischen Beobachter in die Lage versetzen, das Problem zu lösen, das als jenseits menschlicher Möglichkeit abgetan werden könnte.”

In der Tat könnte Dupins größter Einfluss außerhalb des Kriminalromans und innerhalb des breiteren, späteren Feldes der Literaturkritik liegen. Dupins Fähigkeit, Hinweisen eine außergewöhnliche Bedeutung zu entlocken, macht ihn zum ersten Semiotiker, der mehr als ein Jahrhundert vor Ferdinand de Saussure, der 1966 sein Werk zu diesem Thema veröffentlichte, die Beziehung zwischen Zeichen, Signifikanten und Signifikaten aufklärte – vor allem, weil Dupin seine Hinweise eher über die Linguistik als über physische Objekte findet. In “Die Morde in der Rue Morgue” zum Beispiel leitet er die gesamte Lösung aus zwei Worten ab, die angeblich während des Verbrechens gesprochen wurden. (“Auf diese beiden Worte [‘mon Dieu!’]… habe ich hauptsächlich meine Hoffnungen auf eine vollständige Lösung des Rätsels gebaut.”)

Dupins Einfluss auf die Geschichte des Kriminalromans kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Er schuf unter anderem den Archetyp des Gentleman-Detektivs, der im Goldenen Zeitalter des Kriminalromans in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts so allgegenwärtig werden sollte. Jahre später schrieb Arthur Conan Doyle:

“Jede [von Poes Detektivgeschichten] ist eine Quelle, aus der sich eine ganze Literatur entwickelt hat… Wo war die Detektivgeschichte, bevor Poe ihr Leben einhauchte?”

In der Tat konstruierte Doyle seinen Detektiv Sherlock Holmes als einen intellektuellen Nachfahren von Dupin, indem er Watson (der ebenfalls direkt von den Dupin-Geschichten als Freund/Erzähler/Chronist abgeleitet werden kann, Dupin zitieren ließ, als er zum ersten Mal Zeuge von Holmes’ deduktivem Genie wurde.

»Klingt kinderleicht, wie Sie es erklären«, sagt Watson1887 zu Sherlock Holmes in der ersten gemeinsamen Novelle “Eine Studie in Scharlachrot”. »Sie erinnern mich an Edgar Allan Poes Dupin. Und ich habe immer geglaubt, dass solche Menschen nur in Geschichten vorkommen.«

Holmes äußert sich abfällig über dieses Lob: »Ihr Vergleich mit Dupin ist bestimmt als Kompliment gemeint«, erwiderte er. »Aber in meinen Augen war der Mann eine Flasche. Angeblich hat er nach fünfzehnminütigem Schweigen durch eine spontane Bemerkung herausgefunden, was in den Köpfen seiner Freunde vorging – ein angeberischer und billiger Trick. Er besaß zweifellos ein gewisses analytisches Genie, war aber keineswegs so phänomenal, wie Poe glaubte.«

Nun… bis auf die Tatsache, dass er es doch war. Holmes weiß es nicht, aber ohne Dupin hätte es ihn nicht gegeben.

Robert W. Chambers: Der König in Gelb

Die Sammlung seltsamer Jugendstil-Geschichten des amerikanischen Autors Robert W. Chambers blieb nahezu für ein ganzes Jahrhundert ein ungelesenes Buch. Die erste Hälfte des Buches besteht aus vier unheimlichen Geschichten, die, außer der losen Verbindung des Königs in Gelb, nichts miteinander zu tun haben.

Der König in Gelb ist ein Buch, das jeden, der es liest, in den Wahnsinn treibt. Chambers’ Sammlung war für damalige Verhältnisse seiner Zeit weit voraus. Sie ist einer der ersten literarischen Metatexte, einer Form, die bei so verschiedenen Autoren wie Franz Kafka, H. P. Lovecraft und Vladimir Nabokov Verwendung fand. Das Spiel mit Andeutungen, der literarische Isis-Schleier wurde hier geboren. Im letzten Jahr (2014), wurde dieses Buch, das zum Zentrum der HBO-Serie “True Detective” avancierte, an die Spitze der Amazon-Bestsellerlisten katapultiert. Aber auch in dieser ersten Staffel bleibt der König in Gelb ebenso ungesehen wie im Buch. Aufreizend angedeutet zwar, aber nie aufgedeckt.

“True Detective” ist ein düsterer, existentieller Neo-Noir-Stoff, der zahlreiche Hinweise auf den König in Gelb ausstreut. Angesiedelt ist der Mehrteiler im Louisiana Bayou. Die Detectives Rust Cohle und Martin Hart jagen einen Serienmörder, bekannt als der Gelbe König. Die Referenzen an Chambers Werk sind mannigfaltig, ob es sich nun um Symbole handelt, die auf den Leichen hinterlassen werden oder um direkte Zitate, die in den Dialogen vorkommen (Rust Cohle werden dabei jedoch hauptsächlich Sätze aus Thomas Ligottis “The Conspiracy Against The Human Race” in den Mund verfrachtet). Auch finden die beiden Detectives ein Notizbuch, in dem Texte aus Der König in Gelb stehen. Selbst das Wall Street Journal hat einige Artikel veröffentlicht, die sich auf die Verbindung zwischen Buch und Serie beziehen. So blieb das literarische Phänomen nicht aus: ein Buch, hundert Jahre nach seiner Veröffentlichung, wird zum Bestseller und greift um sich wie ein Virus. (Ich spreche hier vornehmlich vom angelsächsischen Raum, in Deutschland hinkt man traditionell allem hinterher.)

Dennoch bleibt die grundsätzliche Frage nach dem Warum dieses merkwürdigen Erfolges. Die Antwort dürfte in dem liegen, was Lovecraft sagte. Es geht um die Kraft, mit der ein Mythos gezeichnet wird: Geschichten, die ein literarisches Universum miteinander teilen, definiert von der unerklärlichen Furcht vor äußeren, unbekannten Kräften des unauslotbaren Raums.

In Brooklyn 1865 geboren, war Robert W. Chambers ein in Paris ausgebildeter Schriftsteller, der dutzende Romane und Sammlungen in den unterschiedlichsten Genres veröffentlichte. Seine größten Erfolge aber hatte er mit Romanzen und seinen Erzählungen im Bereich des Übernatürlichen. Obwohl Chambers den Leser nie mehr sehen lässt als ein Bruchstück, deuten seine Geschichten doch an, dass sie sich einer ähnlichen Handlung bedienen wie Poes “Maske des roten Todes”. Wie in Poes Erzählung scheint der König in Gelb eine Larve zu sein, die sich unter den dekadenten Adel mischt, eine schreckliche Gestalt, von der man nicht sicher sein kann, ob sie nun eine Maske trägt oder nicht. Noch bizarrer hingegen wirkt Carcosa, eine verfluchte Stadt in einer fremden Welt.

Aus heutiger Sicht ist das Bemerkenswerteste an Der König in Gelb nicht der literarische Wert der Geschichten. H. P. Lovecraft, der stark beeinflusst war von Chambers’ Arbeit, nannte ihn einen “gefallenen Titanen”, der mit guter Bildung und Herkunft ausgestattet, dennoch unfähig blieb, diese zu nutzen. Die beste Geschichte im König in Gelb ist “Der Wiederhersteller des guten Rufes”, eines der großen Beispiele eines unzuverlässigen Erzählers. Der Rest ist bestenfalls Durchschnittskost. Dennoch war Der König in Gelb in einer weiteren Sache bahnbrechend: 27 Jahre bevor H. P. Lovecraft sein Necronomicon ersann, enthüllte Chambers’ “Zauberbuch” unwiderstehliche Wahrheiten über den Kosmos all jenen, die mutig genug waren, es zu lesen. Es hat zu allen Zeiten Autoren gegeben, die fiktive Bücher erfanden, aber keiner ist dabei so weit gegangen, um deren Existenz glaubhaft zu machen. Nach S.T. Joshi, einem Literaturkritiker und führender akademischen Figur, der eine Studie über phantastische Geschichten schrieb, baut True Detective auf die Kraft einer Idee, die seit mehr als einem Jahrhundert gewachsen ist.

“Mit Der König in Gelb stellt Chambers eine flüchtige Verbindung zwischen Geschichten her, die ansonsten nichts miteinander zu tun haben. Er tut das auf eine sehr indirekte Weise, tröpfchenweise, und hat somit viele spätere Schriftsteller mit dem fasziniert, was er nicht schrieb.”

Das macht den Mythos als literarische Form so gewaltig. Es gilt, damit einen fruchtbaren Boden für künftige Autoren zu schaffen.

“Schriftsteller wie Chambers waren sehr zurückhaltend, wenn es darum ging, jedes Detail des Universums, das sie entworfen hatten, auszuarbeiten, während sie gleichzeitig darum bemüht waren, zu erklären, dass da noch so viel mehr unter der Oberfläche lauert,”

sagt Joshi.

“Es ist dieser Mangel an Definition, das anderen Autoren erlaubt, die Lücken zu füllen, die Themen und Ideen für eine neue Zielgruppe neu zu interpretieren.”

Das ist es, was True Detective mit dem König in Gelb so faszinierend macht. Während Chambers mit nur ein paar Dutzend Sätzen seinen Mythos skizzierte, nutzt die Idee des gelben Königs unsere existentiellen Ängste, unsere Zurechnungsfähigkeit, unsere Handlungsfähigkeit und unseren Platz in einem Universum, dass sich nicht im mindesten um uns schert. Mehr als die spezifischen Handlungsdetails der Geschichte selbst, ist es der Abgrund, den die Protagonisten von True Detective untersuchen. Blickt man in Cohles Augen, sieht man die unausgesprochene nihilistische Verzweiflung. Man sieht dort gespiegelt die Seele eines Mannes, der den König in Gelb gelesen hat – nicht als billiges Taschenbuch, sondern geschrieben auf den Seiten unseres modernen Lebens. Ob es da unten im Abgrund wirklich einen Gelben König gibt, ist dabei völlig nebensächlich.

Sweeney Todd (Der teuflische Barbier)

Basiert Sweeney Todd auf einer wahren Geschichte oder ist er nur eine Figur, die sich ein Schriftsteller ausgedacht hat? Mit dieser Frage begrüße ich euch zum diesjährigen Halloween-Special, nachdem wir im letzten Jahr bereits die Legende des kopflosen Reiters und die Herkunft des herbstlichen Festes Halloween im Programm hatten.

Ich bin sicher, ihr habt alle schon einmal von ihm gehört. Sweeney Todd, der teuflische Barbier der Fleet Street. Sein Friseurstuhl war auf geniale Weise präpariert, denn nachdem Todd einem Kunden die Kehle durchgeschnitten hatte, bediente er einen Bolzen, der die Leiche rückwärts durch eine Falltür schickte, die in den Keller führte. Dort wurden die Opfer zu Fleischpastete verarbeitet, die in der angrenzenden Konditorei verkauft werden sollte. Geleitet wurde das Geschäft von einer Mrs Lovett, deren Vorname – je nachdem, wer die Geschichte erzählt – variiert.

Seinen ersten Auftritt hatte Sweeney Todd in “The String of Pearls” im Jahre 1846. Autor und Herausgeber: Edward Lloyd, auch wenn man hier und da etwas anderes liest. Etwa zur gleichen Zeit war bereits ein Bühnenstück aufgeführt worden, und das mit großem Erfolg. Die Bühnenversion hatte Dibdin Pitt verfasst und im Britannia Theatre in London aufgeführt. Seit der Konzeption von Sweeney Todd gibt es jedoch Stimmen, die behaupten, dass der Mann auf die ein oder andere Weise tatsächlich gelebt haben könnte. Einige sagen, dass die Figur auf einem historischen Psychokiller basiert, und wieder andere behaupten, dass er genau unter diesem Namen existiert hat. All diese Menschen betrachten Sweeney Todd als die Geschichte wahrer Begebenheiten. Zumindest bis zu einem gewissen Grad. Heute werden wir also versuchen, alle Beweise, die es da draußen gibt, zu präsentieren und so viel wie möglich über die Wahrheit herauszufinden.

Zu Beginn wollen wir Folgendes klarstellen: Es gibt keinen einzigen Beleg dafür, dass es jemals einen Menschen namens Sweeney Todd gab, der Verbrechen in der ihm zugeschriebenen Weise begangen hat. Die urbane Legende von Todd wurde schon in der viktorianischen Ära erzählt und ausgeschmückt. So wie man die Geschichte kennt, ist sie jedoch falsch, zumindest so lange, bis Historiker einen Anhaltspunkt dafür finden. Was sehr unwahrscheinlich ist. Es besteht jedoch immer noch die Möglichkeit, dass Sweeney Todd nach dem Vorbild eines echten Mörders, eines Verbrechers oder einer Legende geschaffen wurde; und genau das werden wir in dieser Folge untersuchen.

Aber bevor wir zu den interessanteren Dingen kommen, lasst uns kurz ein paar einfache Optionen besprechen. Die erste ist sehr prosaisch und wird von Michael Anglo in seinem Buch über Penny Dreadfuls – den viktorianischen Horror-Groschenheften – erwähnt, das heute etwas schwer zu finden ist. Er behauptet, dass ein Forscher nach einer gründlichen Suche in den Londoner Verzeichnissen von 1768 – 1850 entdeckte – es ist bezeichnend, dass der Name des Forschers nicht genannt wird – dass ein gewisser Samuel Todd, dessen Geschäft die Herstellung von Perlenketten war, in den 1830er Jahren in der Nähe der Fleet Street lebte. Anglo kommt zu dem Schluss, dass der Autor, während er über die Handlung einer neuen Penny Dreadful-Geschichte nachdachte, von diesem Namen inspiriert wurde und ihn einfach benutzte.

Die zweite Variante ist noch alltäglicher. Sie bezieht sich auf ein Fragment aus Charles Dickens Roman “Leben und Abenteuer des Martin Chuzzlewit”, der zwischen 1843 und 1844, also kurz bevor “The String Of Pearls” veröffentlicht wurde, in Fortsetzungen erschien. Es lautet so:

“Toms böses Genie führte ihn allerdings nicht in die Buden eines jener Hersteller von Kannibalengebäck, das in vielen gängigen ländlichen Legenden als gutgehendes Einzelhandelsgeschäft in der Großstadt dargestellt wird.”

Das soll nicht heißen, dass der Autor von “The String Of Pearls” genau dieses Fragment gelesen und als Grundlage für seine Geschichte verwendet hat, obwohl es eine interessante Hypothese ist, da eine große Anzahl von Dickens Werken sofort nach ihrer Veröffentlichung von Autoren der Groschenromane plagiiert wurde. Vielmehr war es im damaligen London eine ziemlich bekannte urbane Legende.

Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass die Geschichte über Sweeney Todd auf einen echten Mörder zurückzuführen ist, oder zumindest auf einen bestimmten Fall, der in den Zeitungen erwähnt wurde. Besagter Vorfall, der im Jahresregister gefunden wurde, weist einige Ähnlichkeiten mit der Legende auf. Hier der betreffende Ausschnitt vom Dezember 1784, Seite 208:

“Ein bemerkenswerter Mord wurde auf folgende Weise von einem Barbiergesellen begangen, der in der Nähe der Hyde Park Corner lebt. Lange Zeit war er Eifersüchtig auf seine Frau gewesen, aber es gelang ihm doch nie, ihr eine Verfehlung nachzuweisen. Zufällig kam ein junger Herr in den Salon seines Meisters, um sich rasieren und kleiden zu lassen, und als er redselig wurde, erwähnte er, einem feinen Mädchen in der Hamilton Street wiederbegegnet zu sein, von der er in der Nacht zuvor gewisse Gefälligkeiten erhalten hatte, und beschrieb gleichzeitig ihre Person. Der Friseur, der sie als seine Frau erkannte, schnitt dem Herrn, völlig wahnsinnig geworden, die Kehle von einem Ohr zum anderen auf und entwischte.”

Einige Verbinden die Geschichte von Sweeney Todd auch mit dem schrecklichen Fall von Sawney Bean, eines berüchtigten schottischen Kannibalen aus dem 16ten Jahrhundert. Meiner Meinung nach gibt es nichts, was Bean überzeugend mit unserem Barbier verbindet, außer vielleicht einer leichten Ähnlichkeit der Vornamen. Wenn Bean also tatsächlich der Mörder war, auf dem unsere Geschichte basiert, könnten wir Sweeney Todd überhaupt nicht als wahre Geschichte betrachten. Historiker haben die Legende von Sawney Bean längst entlarvt – was wir uns allerdings in einer anderen Folge etwas genauer ansehen werden.

War Sweeney Todd vielleicht ein Franzose?

Dies ist eine der Hypothesen, die aus mehreren Quellen gespeist wird. Es wurde vermutet, dass der Schriftsteller, der die Figur geschaffen hat, die Idee dazu bekam, als er mehrere ältere Ausgaben des Tell-Tale von 1824 durchging, wo er eine Geschichte über mehrere Verbrechen fand, die in der Rue de la Harpe (arp) in Paris begangen wurden. Diese Geschichte basiert auf einem früheren Bericht, der im Archiv der Pariser Polizei abgelegt wurde. Ich recherchierte selbst und ich fand tatsächlich ein Buch mit dem Namen “The Terrific Register: Or, Record of Crimes, Judgments, Providences, and Calamities”, das die gleiche Geschichte enthält wie das Tell-Tale, sozusagen Wort für Wort. Sie wurde 1925 veröffentlicht und enthält eine vollständige Darstellung der Verbrechen in der Rue de la Harpe, die ich im Folgenden zusammenfasse:

Zwei opulente Männer, begleitet von einem Hund, gingen in die Rue de la Harpe und betraten den Laden eines Frisörs, um sich rasieren zu lassen. Sie waren in Eile, also trennten sie sich, nachdem der erste Mann fertig war, der daraufhin einige Geschäfte in der Nachbarschaft erledigte, und danach zurückkommen wollte, bevor der Frisör mit seinem Freund fertig war. Als er jedoch zurückkam, informierte ihn der Frisör, dass sein Freund bereits gegangen sei. Dennoch blieb der Hund vor der Tür sitzen, also dachte der Mann, dass sein Freund nur für einen Moment weggegangen sein musste und bald zurückkehren würde. Das tat er nicht. Dann fing der Hund an zu jaulen und der Frisör bat den Mann, ihn zu entfernen. Er versuchte es, der Hund aber blieb hartnäckig. Mittlerweile hatte sich eine kleine Menge vor dem Laden versammelt und die Leute schlugen vor, hineinzugehen und nach dem verschwundenen Mann zu suchen. Als sie schließlich hineinstürmten, fanden sie niemanden. Der Frisör behauptete, er sei unschuldig, und in diesem Moment sprang ihm der Hund an die Kehle. Der Frisör wurde ohnmächtig, und er wäre gestorben, wenn man den Hund nicht angeleint hätte. Jemand schlug vor, das Tier freizulassen, um zu sehen, ob es seinen Besitzer finden könnte. Der Hund stürmte in den Keller. Bei näherer Untersuchung wurde eine Öffnung zum Nachbarhaus entdeckt, wo eine Konditorei lag. Und dort fanden sie die Leiche des vermissten Mannes. Während des Prozesses, bei dem auch die Besitzerin der Konditorei angeklagt wurde, gab der Barbier zu, dass er seine reichsten Kunden ermordete, um sie auszurauben. Die schreckliche Wahrheit wurde enthüllt.

Die Besitzerin der Konditorei, deren Laden so berühmt für herzhafte Pasteten war, dass die Leute aus den entferntesten Teilen von Paris in die Rue de la Harpe strömten, war die Komplizin dieses Halsabschneiders, und diejenigen, die vom Rasiermesser des einen ermordet wurden, wurden durch das Messer der anderen zu diesen Pasteten verarbeitet, mit denen sie – unabhängig von diesen Raubmorden – ein Vermögen verdient hatte.

Diese Geschichte wurde fast zwanzig Jahre vor der angeblich ersten Version von “The String of Pearls” auf englisch veröffentlicht. Daher müssen wir aufgrund der auffallenden Ähnlichkeit zu dem Schluss kommen, dass die Geschichte des teuflischen Barbiers aus der Fleet Street auf diesem oder einem ähnlichen Bericht basiert. Wenn die Fakten aus diesem Buch korrekt sind, hätten wir eine starke Basis, um Sweeney Todd als eine wahre Geschichte zu betrachten.

Aber – sind die Ereignisse in der Rue de la Harpe wirklich passiert? Ist Sweeney Todd eine wahre Geschichte, die zumindest teilweise auf diesen Verbrechen beruht? Es ist unwahrscheinlich, und ich habe noch keinen endgültigen Beweis dafür gefunden. Manche haben die Wahrhaftigkeit der Geschichte verteidigt, weil sie in den Memoiren aus den Archiven der Pariser Polizei von Fouché erschien, dem ersten Polizeipräsidenten der Stadt. Aber das Problem ist, dass kein anderes Dokument oder Register existiert, was angesichts der Art des Falles verdächtig erscheint.

Einige Quellen behaupten sogar, dass die Darstellung der Rue de la Harpe einer alten französischen Volkserzählung sehr ähnlich ist, die als “Geschichte des Barbiers und der blutigen Pastetenverkäuferin” aus dem Mittelalter bekannt ist. Theoretisch ist die Geschichte in einer alten Ballade nachweisbar, die folgendermaßen lautet:

Gegen Ende des 14. Jahrhunderts, das wissen wir,
da lebte dieser teuflische Barbier,
an einer Ecke in der Rue de Marmosette.
Er führte dieses schreckliche Handwerk fort
und niemand hielt ihn auf bei seinem Mord.
In seinem Keller machte er sie dann
bereit für die Arbeit nebenan.

Chor. Mit einem Kuchen, mit einem Wein, mit einem Gesang,
mit einem Kuchen, Wein, Gesang – Haha!

Die Geschichte erzählt uns auch genau
von seiner Komplizin, einer üblen Frau,
Kaltherziger als der schlimmste Landvogt.
Und all die armen Teufel, die er getötet hat
verwandelte sie in Fleischpasteten.

Und er sagte von seinen Kunden, als sie tot darniederlagen:
“Fort sind nun diese Schweinekreaturen”.

Obwohl viele Artikel im Internet sich auf diese Übersetzung beziehen, konnte ich die originale französische Ballade nirgendwo finden und niemand bietet eine seriöse Quelle dafür. Mir erscheint es auch seltsam, dass der Begriff “teuflischer Barbier” bereits in einer so frühen Version verwendet wird, und auch der Stil der Ballade ist mehr als ungewöhnlich.

In einem der Kapitel von Paul Févals “Le Vampire” wird die Rue de Marmosette vom Schriftsteller kurz erwähnt:

Paris hat schon immer Märchen geliebt, die ihr das köstliche Gefühl von Gänsehaut geben konnten. Als Paris noch sehr jung war, hatte es bereits viele Geschichten zu erzählen; von der schuldhaften Komplizenschaft zwischen dem Frisör in der Rue de Marmosette, vom Blutstrom der feinen Herren bis hin zu der galanten Metzgerei des Hauses in der Sackgasse Saint-Bernard, dessen abgerissene Mauern mehr menschliche Knochen als Steine beinhalten.

Le Vampire stammt jedoch aus dem Jahre 1865, als der Bericht über die Verbrechen in der Rue de la Harpe bereits veröffentlicht war, und hilft uns daher nicht viel.

Einer Quelle am nächsten kommt das, was in einem Buch über Sweeney Todd von Peter Haining enthalten ist. Dort heißt es, dass er ein Lied in einem Buch mit alten französischen Balladen, das 1845 veröffentlicht wurde, gefunden hat. Er nennt sogar den Namen des Herausgebers, einen gewissen M. Lurin, aber ich konnte keine Notiz über ihn oder über sein Werk finden. Angesicht der Kritik, die Hainings Buch – zumindest teilweise – für eine Erfindung ohne historische Fakten hält, ziehe ich es vor, vorsichtig zu bleiben.

Und zusammengefasst kommen wir zu dem Schluss, dass jedes Argument, das für Sweeney Todd als eine wahre Geschichte sprechen könnte, keine Berechtigung hat. Festzustellen ist, dass seit der viktorianischen Ära eine Tradition existiert, die dieses Geheimnis gerne lüften möchte. Ich schätze, dass viele Webseiten, die sich mit diesem Thema befassen, nur auf den Zug aufspringen möchten. Doch wer weiß, ob eines Tages nicht neue Beweise auftauchen werden. In der Zwischenzeit können wir noch das Penny-Dreadful-Original “The String of Pearls” und das Musical über Sweeney Todd von Steven Sondheim genießen, auf dem der Film von Tim Burton basiert. Schließlich ist jede einzelne Geschichte auf eine bestimmte Weise wahr.

Stadt der Mörder

Britta Habekost: Stadt der Mörder

Will man das Paris der 20er Jahre einfangen, steht man vor dem Problem, eines der schillerndsten Jahrzehnte der Geschichte vor sich zu haben. Der Geist der 20er war geprägt von einem allgemeinen Gefühl der Diskontinuität, das mit der Moderne und dem Bruch mit Traditionen einherging. Paris war das Zentrum der Moderne in Kunst und Literatur. Gertrude Stein drückte es einmal so aus: “Paris war der Ort, an dem sich das zwanzigste Jahrhundert aufhielt”.

Noch in meinen jungen Jahren war Paris ein nahezu mystischer Ort, den ich so oft besuchte, wie es mir möglich war. So ging es vielen Dichtern zu vielen Zeiten. Schuld war unter anderem der Surrealismus, und es gab eine Zeit, in der ich versucht war, jedes Buch über Paris zu erwerben, in dem der Surrealismus überhaupt nur erwähnt wurde. Britta Habekost hat nun mit “Stadt der Mörder” einen Kriminalroman geschrieben, der nicht nur in Paris spielt, sondern auch die Gruppe der Surrealisten mit einbezieht. Zwar hat die Autorin unter anderem auch Heimatkrimis verfasst, aber das kann nicht darüber hinweg täuschen, dass sie auch eine historische Ader hat. Als Britta Hasler hat sie bereits zwei Thriller im Wien der Jahrhundertwende angesiedelt, und das hat mich meine anfängliche Skepsis erst mal verlieren lassen.

Als Lysanne Magliore dem jungen Luis Aragon zum ersten Mal begegnet, zeichnet Habekost ihn so, wie man es aus seinen Werken entnehmen kann, oder besser: wie man sich überhaupt die legendären Revolutionäre des Geistes vorstellen kann, bevor die Hälfte von ihnen Kommunisten wurden. Wir befinden uns im Jahre 1924, Breton hatte gerade sein erstes surrealistisches Manifest verfasst und in Paris wimmelt es von Dichtern, die eine Trennung zwischen Traum und Wirklichkeit nicht mehr akzeptieren wollen. Es ist vor allem anzumerken, dass Habekost auch einer Leserin, die nicht mir dieser bedeutenden Geistesströmung vertraut ist, das Gefühl der damaligen Aufruhr nahezubringen weiß, und das ganz ohne ellenlange Exkursionen. Das gelingt ihr vor allem auch durch ihre Figuren, die oft genauso ahnungslos sind wie der etwaige Leser, und so erfolgen die Erläuterungen ausschließlich über Dialoge.

Lysanne ist nach Paris gekommen um nach ihrer verschwundenen Schwester zu suchen. Ihr Geld reicht gerade noch für eine Woche, als sie Aragon begegnet, von dem sie sofort fasziniert ist. Was sie noch nicht weiß ist der Umstand, dass der Name ihrer Schwester in Folge eines Verbrechens auftaucht, das Julien Vioric gerade untersucht Dabei handelt es sich um den brutalen Mord an Clément Faucogney, der zuletzt mit seiner Gouvernante Isabelle Magliore gesehen wurde, die seit dem Mord verschwunden ist. Für Paris-Kenner gibt es einige schöne Passagen, in dieser dunklen Geschichte; unter anderem sind das die beiläufig erwähnten Namen zweier für die Geschichte völlig unerheblicher Polizisten, die Gallimard und Gautier heißen, große Namen der französischen Literatur, die hier von der Autorin wie ein Gruß an ihre Leserschaft eingefügt wurden. Ein etwas größeres Osterei findet sich dann in der Verbindung von André Breton und der somnambulen Nadja, die in der Erzählung etwas prominenter auftreten. Ganz im Sinne der Surrealisten wimmelt es in diesem Buch von Zufällen und an mancher Stelle hat man das Gefühl, Paris sei ein Dorf. Man kann das zwar kritisieren, aber die Autorin versucht erst gar nicht zu verschleiern, dass sie die Jahreszahlen und Ereignisse hier und da ziemlich frei verwendet, wenn es der Geschichte dienlich ist. Dennoch entsteht dadurch nicht selten ein Missklang, der aber durch eine ganz und gar einnehmende Handlung wieder eingefangen wird.

Es geht ein Mörder um in Paris, der nach dem Muster der berechtigen “Gesänge des Maldoror” von Leautréamont mordet. Das Buch selbst wurde von den Surrealisten aufgrund seiner Ablehnung, des Protestes und der Revolte, ausgiebig analysiert, und so ist es kein Wunder, dass auch Bretons Künstlergruppe schnell in Verdacht gerät, etwas mit den Morden zu tun zu haben. Tatsächlich bekommt man beim Lesen der “Gesänge” leicht den Eindruck, dass es von einem Wahnsinnigen geschrieben wurde, und so spielen in diesem Roman auch Irrenhäuser eine nicht unerhebliche Rolle.

Neben der anfangs geschilderten Problematik, eine besondere Epoche wie die 20er lebendig werden zu lassen, besteht eine weitere Schwierigkeit wohl darin, ein Werk wie das von Leautréamont in einen Roman einfließen zu lassen, ein Werk, das kaum jemand gelesen hat – und ich rate es auch nur den stabilsten unter den Lesern und Leserinnen. Und so kann immer nur ein Schatten von dem übernommen werden, was damals der Wirklichkeit entsprach. Natürlich trifft das auch auf die Surrealisten selbst zu, die im Roman immer als etwas verrückt geschildert werden, was natürlich von einer bestimmten Warte aus gesehen auch stimmt, aber der Sache nie ganz gerecht wird. Bei Habekost scheint diese Gruppe fast kindlich naiv, Breton selbst als exaltiert und unnahbar. Die Gefahr der Plattitüde ist im ganzen Roman zu spüren.

Trotz der ganzen Schwierigkeiten in der Umsetzung ist dies hier ein durchaus lesenswerter historischer Roman, der eine interessante Geschichte in einer interessanten Zeit ansiedelt und ich wurde im Grunde nicht enttäuscht.

Erschienen ist das Buch im September 2021 bei Penguin-Random House.

Einer, der in den Katakomben schläft

Dieser Artikel ist Teil 3 von 54 der Reihe Gespenstersuite

Ich hatte mich am Denken gehindert und stopfte alles in mich hinein, das mich an ein Zwiegespräch erinnern könnte. Es war wie ein Frieden, auf einmal war Frieden.

Mir sollten die Tage nicht lang genug werden, denn die Dämmerung zog früh schon heran. Ich genieße die Beschreibung, aber ich selbst fülle nur die Korridore aus, nie die Zimmer. Ich bin noch keinem Leuchten begegnet, das mir nicht auswich. Es liegt das Fremde nie weit entfernt, es setzt sich in der Nähe an den nächsten Tisch. Und an den nächsten. Es kann alle Fassaden erklimmen und in allen Gläsern zuhause sein, so lange man nur nicht weit entfernt erspäht werden kann. Ich könnte mich hinabwinden in die Katakomben von Paris, die dem Schlund der Hölle entsprechen.

Ich werde nicht ankommen in meinem verlorenen Paradies, aber wenn ich dort eine kleine Bastion in Form eines Appartements hätte, mit Licht und einer gemütlichen Uhr, die nicht nur den Staub vertreibt – die finsteren Momente wären nur noch Willkür. Ich dürfte nur nie versuchen, wieder an die Oberfläche zu kommen, denn der Weg wäre mörderisch und führte direkt in den Wahnsinn.

Der falsche Preuße

Uta Seeburg: Der falsche Preuße (Gryszinski #1)

Uta Seeburgs Debüt um den Preußischen Sonderermittler Gryszinski, den es in die Landeshauptstadt Bayerns verschlagen hat, erschien im August 2020 und es war natürlich davon auszugehen, dass die Autorin bald ihrem zweiten Roman dieser überaus genussvollen neuen Reihe vorlegt. Der ist auch schon unter dem Titel “Das wahre Motiv” erschienen und wir sehen uns auch den bald hier an.

Historische Kulissen sind bei Weitem nichts neues in der Literatur, aber in den letzten zehn Jahren ist das Genre regelrecht explodiert und während angelsächsische Erzähler an ihrem viktorianischen London arbeiten, Franzosen ihr pittoreskes Paris auspacken und auch in der Fantasy immer mehr auf historische Schlachten Bezug genommen wird, können deutschsprachige Autoren natürlich ebenfalls auf eine sehr erlebnisreiche Zeit zurückgreifen. Neben dem offensichtlichen Magneten zwischen den beiden Weltkriegen, hat sich Uta Seeburg für den nahenden fin de siecle entschieden, ein neunzehntes Jahrhundert, das mit reichlichen Innovationen zu Ende geht, die Elektrizität gerade auf dem Vormarsch ist und so eine Epoche des Übergangs markiert.

Natürlich sieht diese Zeit, in der Sherlock Holmes gerade druckfrisch aus England herüberschwappt, in den deutschen Metropolen mit ihrer Volkstümlichkeit noch ganz anders aus. Und darin liegt eine der Stärken des vorliegenden Romans, denn die Autorin ist selbst eine sogenannte Zugereiste, die ihren Weg von Berlin nach München machte. Dass ihre literarische Vorliebe dann auch genau in jener Zeit anzusiedeln ist, die sie da beschreibt, verleugnet der Text zu keiner Zeit. Überhaupt ist das mysteriöse Gebaren um Bayern und Preußen eines, das man sich genauer anschauen sollte, und während man das tut, stößt man auf eine große Lücke in den Veröffentlichungen zu diesem Thema. Uta Seeburg hat sie gefunden und es ist ein Gewinn für jene, die gerne kopfüber die die Vergangenheit springen, um dort eine lebendige und skurrile Erfahrung zu machen, die einer üppigen Geschichte; nicht etwa verschnörkelt und überladen, sondern die eines prallen Lebens in einer Metropole, in der es natürlich sehr um den Genuss geht, der so eigenwillig ist, dass er Weltgeschichte schrieb.

Die Epoche, in der es vor kurioser Figuren nur so wimmelte, vor Entdeckungen, Erfindungen und Abnormitäten wird von der Autorin nicht nur aufgesetzt, sondern so lebendig geschildert, als käme sie selbst aus dieser Zeit; ein ganzes Kuriositätenkabinett kommt hier zusammen. Und so ist dann auch der Mordfall, in dem der Preuße Gryszinski ermittelt, kein gewöhnlicher: Ein Bierbeschauer wird mit weggeschossenem Gesicht und gekleidet in ein Federkostüm an der Isar aufgefunden. Nicht weit von ihm entfernt findet man noch den einzelnen Abdruck eines Elefanten, aber keine weitere Spuren von diesem doch eher ungewöhnlichen Tier. Zur Verfügung stehen dem preußischen Reserve-Offizier zwei Wachtmeister, die er wie Flügelspieler auf seinem unterhaltsamen Weg durch diese spezielle Zeit und ihren speziellen Raum einsetzt.

“Am Ende sind Sie auf jeden Fall der Unpreußischste von uns Preußen. Ein falscher Preuße, wenn man so will,” wird ihm ein Freund aus militärischen Tagen später erklären, aber das hat sich der Leser schon länger gedacht, denn Gryszinski fühlt sich bei den Bayern doch sichtlich wohl, vor allem die urtümliche Küche hat es ihm derart angetan, dass wir immer wieder Schwärmereien wie diese erleben:

“Der Knödel, mein Minchen […] ist die Signatur der bayerischen Seele. Seine Kugelförmigkeit steht für die Uneindeutigkeit […]”

Uta Seeburg: Der falsche Preuße

Diese Uneindeutigkeit ist ein zentrales Thema des ganzen Romans; ob es nun Gryszinski ist, dessen Gewissenskonflikt auf die Spitze getrieben wird, als er versucht, den Mordfall zu lösen und dabei Eduard Lemke im Visier hat, eine schillernde Figur, ebenfalls aus Preußen, jedoch mit einer völlig obskuren Vergangenheit, mit Geld wie Heu und einer protzigen Villa, die im Verlauf der Geschichte in allen Einzelheiten beschrieben wird und mit seinen labyrinthischen und opulenten Räumen so verwirrend und kurios wirkt, dass sie auch in einer Steampunk-Erzählung Platz finden könnte, oder in einem Abenteuerroman aus dem 19. Jahrhundert, in dem wir uns befinden. Plötzlich fordert die preußische Seite nämlich seine Loyalität in Bezug auf eben jenen Exzentriker, der angeblich für den Tod von 30 Männern einer preußischen Expedition verantwortlich sein soll. Von dieser Sonderermittlung aber soll sein bayerischer Arbeitgeber nichts wissen, und so wird es für unserer falschen Preußen ein Eiertanz, den er aber auf seine spezielle Art und Weise meistert, die der ganzen Geschichte einen wirklichen Eventcharekter beschert, wenn er sich einem Duell stellen muss, sich Attentaten ausgesetzt sieht und sein Geheimnis schweren Herzens verbirgt.

Dieser Roman setzte sich im Erscheinungsjahr 2020 mühelos an die Spitze der historischen Kriminalromane. Wer ohnehin ein Faible für die Zeit der Jahrhundertwende hat, ist hier bestens aufgehoben, wer ein wirklich süffiges Abenteuer sucht, ebenfalls. Und so bleibt zu sagen, dass es sich zwar um einen Krimi handelt, aber eindeutig nicht nur Liebhaber des Genres ansprechen wird. Mit dem Wörtchen “unterhaltsam” sollte man immer etwas vorsichtig sein, weil man damit automatisch eine mindere Qualität verquickt, die hier gar nicht zur Debatte steht.

Alex Van Galen: Die Teufelssonate

Dieser Roman erschien 2010 bei Suhrkamp, einst eine große Adresse für einen gewissen Anspruch. Nachdem man in Deutschland jegliche Qualität komplett runtergefahren hat, um überhaupt noch Bücher verkaufen zu können, ist das auch an diesem Verlag nicht spurlos vorbeigegangen. Selbstverständlich hat man da längst ein Krimi-Thriller-Segment. Das Problem ist nur, dass dieses schon lange von anderen Verlagen besetzt wird und es den Eindruck macht, als müsse man sich mit zweitklassigen Abschlüssen zufrieden geben. Alex Van Galens “Teufelssonate” ist so ein typischer Thriller aus der hinteren Reihe – und er soll an dieser Stelle nur exemplarisch genannt werden. Warum aber die Mühe einer Erwähnung? Weil das Mittelmaß, das stets an einem Reißbrett entsteht, hier fast schon Schulcharakter hat. (Interessanterweise wurde das Buch von der Webseite des Verlags komplett entfernt und ist dort nicht mal mehr als eBook erhältlich; eine Leseprobe gibt es dennoch.).

Die ursprüngliche “Teufelssonate” wird dem italienischen Komponisten Guiseppe Tartini (1692-1770) zugeschrieben. Tartini hatte einen Traum, in dem er den Teufel eine höllisch schwierige, aber brillante Sonate spielen hörte. Er wachte auf und schrieb alles auf, woran er sich erinnerte.

Alex van Galen schreibt in seiner “Teufelssonate” das Ereignis Franz Liszt (1811-1886) zu, dem berühmtesten und berüchtigtsten Pianisten seiner Zeit. Der verliebte sich in Marie d’Agoult, die mit einem Grafen verheiratet war. Ihre Beziehung mit dem Pianisten galt damals als eine Sünde. Gemeinsam flohen sie aus Paris und reisten durch Europa. Ein anderer Pianist und Zeitgenosse von Liszt, Sigismund Thalberg, trat an seine Stelle. Liszts Name wurde vergessen, Thalberg feierte an seiner Stelle Erfolge.

Sobald Liszt aber von Thalbergs Erfolg hörte, nahm er den ersten Zug nach Paris, um sich mit ihm zu treffen. Dann traten sie in einem Konzertsaal am Klavier gegeneinander an. Pianisten waren die Popstars des neunzehnten Jahrhunderts. Frauen stritten sich um ihre weißen Handschuhe, die sie absichtlich liegen ließen. Außerdem waren sie so herausragende Künstler, dass die Leute dachten, sie hätten ihre Seelen dem Teufel verkauft. Anders konnte sich das Konzertpublikum die Virtuosität der Pianisten nicht erklären.

Van Galens Grundidee stammt nun aus dieser Geschichte der rivalisierenden Klaviervirtuosen, und es ist eine verlockende Idee, das sei ins Feld geführt. Van Galen hat erwähnt, dass er während seiner Recherche mit vielen Musikern aus dem Konzertbereich gesprochen hat und dabei feststellte, dass über die Hälfte von ihnen manisch-depressiv ist, so viele nämlich, dass es geradezu eine Grundvoraussetzung zu sein scheint, um überhaupt ein guter Künstler zu sein. Eines der Probleme, mit denen manische Künstler zu kämpfen haben, sei, dass ihre Medikamente ihnen zwar helfen, aber auch ihre Emotionen stark abflachen, wodurch sie weniger in der Lage sind, in ihrer Kunst zu brillieren. Das Dilemma ist: Nehme ich meine Pillen und bin ein mittelmäßiger Künstler, oder nehme ich sie nicht – mit allen Konsequenzen? Weiterlesen

Der Straßenmagier

Bryan Camp – Der Straßenmagier; Die Götter von New Orleans (Urban Fantasy)

Obwohl das Cover von Bryan Camps Urban Fantasy-Auftakt nicht gerade dazu einlädt, mich hinter irgendeinem Ofen hervorzulocken, sollte man das nicht dem Autor ankreiden. Wir wissen alle, dass deutsche Verlage nicht gerade ein glückliches Händchen in Sachen Cover haben, was – und auch das muss erwähnt werden – auch dem Publikum geschuldet ist, das damit angesprochen werden soll.

Ich bin mir sicher, das Buch kommt dennoch in die richtigen Hände, denn bei diesem Auftakt zur Reihe “Die Halbmondstadt” handelt es sich um einen Urban-Fantasy-Roman. Allerdings muss er sich – wie fast alle Romane dieser Art – natürlich an Jim Butchers Harry Dresden messen lassen. Mehr noch, es wirkt so, als hätte Bryan Cramp Harry Dresden mit Neil Gaimans American Gods verknüpft, um zu seinem eigenen Ergebnis zu kommen.

Der Unterschied besteht darin, dass der Schauplatz eine Stadt ist, die sich in Sachen Mythen nicht gerade verstecken muss – New Orleans. Um ehrlich zu sein, war das auch der Grund, warum ich mich überhaupt für diesen Roman interessieren konnte. Dresden-Klone gibt es schließlich wie Sand am Meer, und alle schneiden eher bescheiden ab.

Jude Dubuisson ist ein Straßenmagier aus New Orleans, dessen besonderes Talent darin besteht, verlorene Dinge wiederzufinden – ein Talent, das nicht auf Irreführung und Intuition beruht, sondern auf echter Magie, die ihm von einem Vater vererbt wurde, den er nie kennengelernt hat. Ein Vater, der … mehr als ein Mensch ist, was Jude zu einer Halbgottheit macht. Doch als der Hurrikan Katrina aufzog, wurde Jude von dem immensen Ausmaß des Verlustes überwältigt und verschwand von der Bildfläche.

Er wird in ein Kartenspiel zwischen Unsterblichen hineingezogen. Ein Kartenspiel, bei dem sein Körper zerrissen und unter den Siegern verteilt wird. Ein Kartenspiel, das das Schicksal der Stadt bestimmt.

Der Roman beginnt jedes Kapitel mit einer Schöpfungsgeschichte oder Mythologie, die Parallelen zwischen den heutigen Ereignissen und diesen Mythen zieht: Szenen und Verbindungen ziehen sich durch die Kapitel und fügen eine neue Perspektive hinzu, um das Alte und das Neue zu betrachten. Der Schreibstil ist beschreibend, vielleicht sogar zu beschreibend, was sich hier und da mehr wie ein Drehbuch liest, bei dem jeder Moment und jeder Augenaufschlag darauf abzielt, ein bestimmtes Bild hervorzurufen, so dass der Leser passiv bleibt und schlecht in die Geschichte hinein findet.

Camps Schreibstil ist zwar reizvoll, aber die übermäßige Verwendung von Worten, die scheinbar nur dazu dienen, den Leser auf einen vom Autor vorgegebenen Weg zu lenken, lässt die persönliche Beteiligung an der Geschichte nicht zur Entfaltung kommen. Dennoch ist die Geschichte in einem angenehmen Tonfall vorgetragen, der Momente der Spannung, der Introspektion und der Action gleichermaßen gut wiedergab und so die Klarheit und das auditive Interesse an einer Handlung aufrechterhielt, die sich oft im Aufbau von Raum, Ort oder Geschichte verzettelt.

Kurz gesagt, Camps Schreibstil ist faszinierend, und niemand kann behaupten, dass er Worte nicht wirkungsvoll einsetzen kann, aber es fehlte der Fokus auf die Entwicklung irgendeines seiner Protagonisten.

Allerdings, und auch das sei vermerkt, kann dieser Roman nur in New Orleans spielen. So viele Städte haben ihre eigene Mystik (man denke an New York, London, Paris), aber die Mischung aus Heiligem und Profanem ist in New Orleans einzigartiger und effektiver als anderswo. Die Götter und Monster (oft beides), die dieses Buch beiläufig bevölkern, fangen den Geist und die Legende von New Orleans ein und gehen über die bloße Atmosphäre hinaus.

Das Buch ist vollgepackt mit Charakteren, sowohl gutartig als auch bösartig. Jude selbst hingegen könnte zwar fesselnd sein, weil er dadurch Zugang zu den Göttern und übernatürlichen Wesen hat, während er gleichzeitig seine Verbissenheit gegenüber der Menschheit beibehält, bleibt für mich aber eher uninteressant.

Ich selbst werde der Serie zwar nicht weiter folgen, was aber nicht bedeuten soll, dass es sich hier um einen Rohrkrepierer handelt. Für die meisten Leser, die mit Urban Fantasy etwas anfangen können, wird dieses Buch wahrscheinlich sogar ein Volltreffer sein.

Kai Meyer: Das zweite Gesicht

Heute schaue ich mir einen der besten und erfolgreichsten Erzähler der deutschsprachigen Phantastik etwas näher an, zumindest eines seiner Bücher. Die Rede ist von Kai Meyer und seinem Roman “Das zweite Gesicht”, das urprünglich 2002 bei Heyne erschien und im Blitz-verlag 2012 als schön gestaltetes Hardcover neu aufgelegt wurde und als solches leider längst schon wieder vergriffen ist. Das mag auch daran liegen, weil die Neuauflage im selben Jahr den Vincent Preis für den besten Horrorroman gewonnen hat, obwohl es sich gar nicht um einen Horroroman handelt, aber es sei jedem selbst überlassen, das zu beurteilen.

Besonders stark ist Kai Meyer immer dann, wenn er historisch wird und seine Fabulierlust mit geschichtlichen Ereignissen verquicken kann. So ein Buch haben wir hier vor uns.

Die Jahrhundertwende als künstlerischer Ausdruck

Die Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert war aus künstlerischer Sicht eine der fruchtbarsten und interessantesten überhaupt, und eine der letzten Keimquellen der deutschen Phantastik. Motive der Spätromantik wurden hier mit modernen Facetten versehen und ein roter Faden dieser literarischen Entwicklung war eindeutig zu erkennen. Doch der Aufbruch war nicht nur ein literarischer, sondern ein gesamtkünstlerischer und auch gesellschaftlicher. Deutschland war weltweit die Hochburg des neuen und aufregenden Mediums Film, und das Berlin der 20er Jahre neben Paris die Welthauptstadt der Kultur.Die Freizügigkeit dieser Ära stand den Hippies der 60er Jahre in nichts nach und ist mit heutigen Maßstäben nicht mehr zu erfassen. Und hinter allem stand die Lust am Okkulten, am Verborgenen. Der Spiritismus hatte bereits seit Jahrzehnten Hochkonjunktur, was viele Historiker sich als Gegenbewegung zur explodierenden Macht der Industrialisierung erklären. Ähnliches hatte es zu Zeiten der Aufklärung gegeben, als die Romantiker wie zum Trotz die Nachtseite der Natur aus dem Hut zauberten. Musik, Literatur, Tanz, Film … der Expressionismus war das Ding der Stunde, starker Ausdruck und subjektives Erleben waren erwünscht. Die Themen Krieg, Verfall, Angst und Weltuntergang trieben starke stilistische und thematische Blüten.

Kai Meyer hat sich mit dieser düsteren, aber auch kreativen Epoche beschäftigt. Neben historischen Figuren, die hier erwähnt werden (Alfred Kubin, Fritz Lang, Ernst Lubitsch, Bernhard Goetzke usw.), die das deutsche Filmschaffen als Realität dokumentieren, gelingt es Meyer, seine fiktiven Figuren so geschickt zu platzieren, dass man das eine kaum vom anderen Unterscheiden kann. Während zum Beispiel Augusto Cruz in seinem Roman  “Um Mitternacht” die Fakten nimmt und daraus einen dunklen Thriller spinnt, macht Kai Meyer das genau umgekehrt. Er nimmt seine fiktive Geschichte und garniert sie mit geschichtlichen Ereignissen. Das Ergebnis ist genauso effizient.

Das Prinzip der Zwillinge

Chiara Mondschein reißt von Meißen nach Berlin, um ihre Schwester Jula Mondschein zu Grabe zu tragen, die sie seit sieben Jahren nicht mehr gesehen hat und von der sie mittlerweile nicht mehr viel weiß. In der Zwischenzeit ist diese nämlich zu einem gefeierten Star der Stummfilm-Ära geworden. Dabei ist unklar, warum sie sich umgebracht hat. Eigentlich will Chiara nur die Formalitäten der Bestattung hinter sich bringen und wieder abreisen. Dabei trifft sie auf Felix Masken, Autor und Produzent, der Jula als Mentor diente. Der bietet Chiara an, den unvollendeten Film “Der Fall des Hauses Usher”, in dem ihre Schwester agierte, dann aber das Handtuch warf, fertigzustellen, da die Ähnlichkeit der beiden frappant ist. Außerdem könnte der Film den in Misskredit geratenen Felix Masken rehabilitieren. Seit der Katastrophe beim Dreh zu Medusa, wo etliche Komparsen jämmerlich verbrannten, und der nie fertiggestellt wurde, steht es mit seinem Ruf nämlich nicht zum Besten.

Diese Idee ist natürlich selbst schon melodramatisch. Die tote Schwester wäre dann in einigen Szenen zu sehen, während die jüngere Schwester den Film beendet. Poe, für den der Tod einer jungen Frau die höchste Form der Poesie darstellte, wäre wahrscheinlich entzückt gewesen, hätte er zu seiner Zeit schon etwas über das Prinzip des Films gewusst. Chiara, die alles andere als eine Diva oder gar Schauspielerin ist, nimmt nach einigem Zögern das Angebot an, denn auch wenn sie vorgibt, Jula zu hassen, weil sie die fünf Jahre jüngere Chiara und ihren Vater allein gelassen hat, um in Saus und Braus zu leben, ist sie doch neugierig geworden. Die tote Schwester schwebt in all ihren bekannten und unbekannten Facetten um sie herum, schaut Chiara in einen Spiegel, sieht sie weniger sich selbst als Jula, von der sie doch so wenig zu wissen scheint. Möglicherweise kommt sie Julas Beweggründen für ihr Leben und ihren Tod niemals näher, als wenn sie in ihre Fußstapfen tritt.

Die erste wirkliche Verfilmung des Stoffes um Poes berühmte Geschichte erfolgte erst 1927. Daran beteiligt war der mexikanische Surrealist und Filmemacher Luis Buñuel, aber Kai Meyers Felix Masken hätte durchaus das Recht gehabt, noch früher dran zu sein, vor allem, wenn man bedenkt, dass Alfred Kubin die Kulisse des Films erschaffen hätte. Die Zutaten, die Meyer hier versammelt und durchmischt, sind derart gut in den historischen Fluss eingewirkt, dass man sich manchmal die Augen reibt und denkt: So hätte es durchaus sein können.

Kai Meyer fängt die extremen Verhältnisse an den Sets der damaligen Zeit genauso beklemmend ein, wie sie gewesen sein müssen, als man noch nichts von Arbeits- oder Brandschutz wusste, als Statisten noch für einen Teller Suppe von der Straße geholt wurden und quasi vogelfrei waren.

Die spiritistische Mode

Die erste Spiritismuswelle, die durch die Kulturzentren Europas ging, hatte ihren Ursprung bereits 1849. Begünstigt durch Katastrophen wie den ersten Weltkrieg erlebte das Sprechen mit den Toten jedoch im frühen 20. Jahrhundert einen enormen Aufwind. Es gab wohl keine Schicht, die diese denkwürdige Praxis nicht in der ein oder anderen Form umsetzte. Chiara Mondschein macht während ihrer Entwicklung von der Landpomeranze zur Diva, die sie niemals sein wollte, selbstverständlich ebenfalls einschlägige Erlebnisse. Nun kann man ihre Versuche, mit ihrer Schwester Kontakt aufzunehmen, allerdings nicht als harmlos bezeichnen. Gerade die Episode im Scheunenviertel, das von Meyer mit historischer Akkuratesse gezeichnet wird, ist äußerst beklemmend geschildert. Man spürt die Gefahr förmlich aus den Seiten springen. Möglicherweise mag der Leser die erste Hälfte des Buches als lediglich historischen Abriss einstufen, herausragend und detailreich vorgetragen, aber spätestens hier wird klar, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung ist und dass Meyer nicht beabsichtigt, nur herumzuplänkeln. Er lässt Chiara nach und nach scheinbar den Verstand verlieren. Es ist unklar, ob Chiara zunehmend merkwürdige Dinge halluziniert, oder ob sie diese immer bedrohlicher werdenden Dinge wirklich erlebt, ob es sich nun um drogengeschwängerte Orgien in Berliner Prominentenlokalen handelt, oder um Stimmen in ihrem Kopf, den zunehmenden Verfolgungswahn. Stets fühlt sie sich mit ihrer toten Schwester konfrontiert, der man unter anderem auch einen Fluch angedichtet hat – Julas Fluch – der für einige Unfälle in den Filmateliers verantwortlich gemacht wird und jetzt auf sie überzugreifen scheint.

Hinzu kommt die rätselhafte Operationsnarbe an ihrem Bauch, die auch ihr ermordeter Schauspielkollege hatte. Zunächst sah es so aus, als hätte sie diesen Eingriff nach einem kleinen Autounfall tatsächlich gebraucht. Mehr und mehr verdichten sich jedoch auch hier die merkwürdigen Spuren. Als Sahnehäubchen gibt es da noch die Villa ihrer Schwester, die Chiara überhaupt nicht beziehen wollte, die aber auch niemand kaufte, so dass sie schließlich doch noch einzog. Und damit wird die Überschneidung zwischen ihr und Jula perfekt. Es ist beinahe das Prinzip von Zwillingen, die – auch wenn sie getrennt von einander sind – frappierend viel Ähnlichkeiten in ihrer Lebensführung aufweisen. Hier ist diese tragisch, sie ist dunkel und rätselhaft. Doch die Wahrheit ist eine andere. Es scheint, als wäre die Schwestern-Thematik nur die Vorstufe zum Doppelgänger-Motiv, das seit der Romantik eines der beliebtesten in der Phantastischen Literatur war. Und tatsächlich gleitet Chiara immer tiefer in einen Wahnsinn, der allerdings nicht der ihre ist. Dabei spielt die Theosophie und Nietzsches Übermensch keine geringe Rolle. Die Harmlosigkeit pseudophilosophischer Kreise beginnt hier umzuschlagen und zu einer perfiden Tatsache zu werden.

Das Doppelgänger-Motiv

In der Literatur ist ein Doppelgänger meist als Zwilling, Schatten oder das lebendige Spiegelbild eines Protagonisten gekennzeichnet. Das Motiv bezieht sich auf eine Figur, die dem Protagonisten physisch ähnelt und auch den gleichen Namen haben kann. Mehrere Arten von Doppelgängern sind in der Weltliteratur zu finden. Er kann die Form eines bösen Zwillings annehmen, der der tatsächlichen Person nicht bekannt ist, und der dadurch einige Verwirrung stiften kann. Manchmal ist ein Doppelgänger das vergangene oder zukünftige Selbst einer Person.

Betrachten wir das Motiv in “Das zweite Gesicht”, dann finden wir Echos von verschiedenen Doppelgänger-Verwicklungen. Das Motiv beginnt mit den beiden Schwestern und entwickelt sich später zu einem wirklichen Problem, wo es zu den echten Doppelgängern kommt. Allerdings geht es hier nicht um einen bösen Zwilling oder ein gar dämonisches zweites Selbst, sondern um einen Missbrauch der Originale. Das zu vertiefen, steht mir hier nicht an, ich würde der Erzählung einiges von ihren Höhepunkten nehmen.

Das Buch ist hervorragend ausbalanciert und erstaunlich gut geschrieben. Darüber sollte man eigentlich kein Wort verlieren müssen, aber es ist beileibe keine Selbstverständlichkeit. Hier sitzen die Details an den richtigen Stellen, die Sprache trägt wie ein Luftkissen, so dass man sich darüber keine Gedanken machen muss und sich voll und ganz auf die Geschichte konzentrieren kann.

Die überarbeitete Hardcover-Ausgabe bei Blitz ist leider vergriffen, aber es ist nicht schwer an eine der Taschenbuchausgaben zu gelangen. Im überbordenden Œvre Kai Meyers nimmt dieser Roman sicher noch einmal eine besondere Stelle ein. Mir selbst ist kaum ein Autor bekannt, der historische Settings derart gekonnt und atmosphärisch mit einer phantastischen Handlung verwebt, so dass ein einziger – nahezu perfekter Guss – daraus entsteht. Das macht ihn zu einem der wenigen deutschen Autoren mit erzählerischem Weltniveau.

Vor einem Regal der Toten

Dieser Artikel ist Teil 48 von 54 der Reihe Gespenstersuite

Ich könnte singen von den unheilvollen und drohenden Dingen, den toten und vergessenen. Doch werde ich je wieder reisen durch den vom Wahnsinn gelb gefärbten Nebel des Vergessens, zu den Gestaden fremder Wirklichkeit? Fände ich überhaupt den Weg zurück, der mir damals so zufällig erschien wie einst Rip van Winkle sich über das Auftauchen einer flämischen Gesellschaft verwunderte? Mir selbst wurden keine Jahrzehnte durch einen sonderbaren Schnaps gestohlen, noch nicht einmal Jahre, aber von den merkwürdigen Festen wie in den Tiefen des verhängnisvollen Venusbergs könnte auch ich berichten. Doch wüsste ich nie zu sagen, was sich daran mit mit meinen halluzinatorischen Träumen mischte, denn eines ist mir klar geworden: Es gibt unterschiedliche Arten des nächtlichen Gespinstes und mindestens eines davon eröffnet uns das Jenseits mit seiner unendlichen Weite. Es ist für mich gar nicht ausgeschlossen, dass, sobald wir unserer so stabiles Sternensystem verlassen würden, wir auch außerhalb unserer fleißigen Schlaftätigkeiten dorthin gelangen könnten, allein deshalb, weil wir unsere Körper nicht behalten dürften und stürben; d.h., es stürbe das, was wir in unserer Welt so sehr benötigen, und wenn wir es verlieren, geistern wir umher, unfähig, weiter zu träumen, weil wir in einem derartigen Zustand schlicht all unsere Erinnerungen für einen Traum halten. So nötig haben wir den Schutzschild der Materie, dass wir um seinen Verlust so sehr bangen wie um nichts anderes. Es mag sein, dass wir die Geister deshalb fürchten. Sie zeigen uns, dass wir auch im Tode nicht entkommen können und endlos weiterspielen müssen. Sie zeigen uns durch ihre finsteren Auftritte, wie wichtig die Wiederholung ist und wie sich eben alles so lange wiederholt, bis das Wort Ewigkeit seine Berechtigung erlangt.

Es gibt Geschichten, die man sich ausdenken möchte, um dann zu erkennen, dass sie wahr sind. Das gleiche gilt andersherum. Eine Erinnerung, auf die man Stein und Bein schwören möchte, erweist sich als falsch. Und dann gibt es die Mischverhältnisse in verschiedenen Abstufungen. Was die Realität ist, werden wir nie herausfinden, und das Geheimnis der Fiktion ist längst legendär. Ich erinnere mich an mein Leben wie an eine Geschichte, die ich gelesen habe. Es gab eine Zeit, da ich mit den Surrealisten in Paris träumte und vielleicht hatten sie, Jahrzehnte vor meiner Geburt, von mir gehört. 1990 las ich ihre Aufzeichnungen, Pamphlete und Manifeste, um zu sehen, ob ich irgendwo darin verzeichnet war. Dann aber fiel mir ein, dass ich lange vor meiner Geburt mit einem anderen Namen ausgestattet war. Zumindest hörte ich nichts von mir, wie ich mich kannte. Man erwacht und steht vor einem Regal der Toten. Alles, was von ihnen übriggeblieben ist, ist das, was man aus ihren Gedanken macht.

Patrick Modiano: Im Café der verlorenen Jugend

In Modianos Roman von 2007 schwebt eine rätselhafte junge Frau namens Jaqueline, die von den meiste aber “Louki” genannt wird, im Text umher. Als wir ihr zum ersten Mal begegnen, wird uns gesagt, dass an ihr nichts Gewöhnliches ist. Tatsächlich spukt sie in der Erzählung herum wie ein Geist oder eine schlecht geformte Präsenz, die darauf wartet, in die Handlung einzugreifen, aber aus welchem Grund auch immer nicht in der Lage ist, die anderen Figuren voll in die Handlung einzubinden.

Aber das zentrale Thema des Romans ist nicht wirklich Louki und ihre Beziehung zu den verschiedenen Erzählern, sondern das Konzept der “Fixpunkte” oder des Fehlens solcher Fixpunkte in ihrem Leben. Fixpunkte halten uns in unseren jeweiligen Realitäten fest, aber wie Modiano in seinem gesamten Werk gezeigt hat, werden alle Bezugspunkte im Nachkriegsmilieu verdächtig, insbesondere diejenigen, die wir in der Erinnerung verorten. So wird das Leben seiner Figuren immer wieder neu durchdacht und im Geflecht seiner Erzählungen neu fixiert. Weiterlesen

Timeline

Jazzuela

Liegt zwar auf meinem Plattenspieler, ist aber eine hübsch aufgemachte CD
“Jazzuela ist meine bescheidene Hommage an Julio Cortázar”, schreibt Pilar Peyrats 2001 im Epilog seines Booklets zur CD, das eine echte Perle ist, weil sie durch die Arbeit von Julio Cortázar im Allgemeinen und detailliert durch die Kapitel von Rayuela führt – allerdings leider nur auf Spanisch und Französisch (Deutsch ist als Kultursprache ohnehin fast nirgendwo mehr anzutreffen – natürlich zurecht). Peyrat extrahiert hier Gespräche, Erklärungen, Kommentare und Apostillen rund um die Musik, die von den Protagonisten gehört wird. Die CD selbst enthält 21 Tracks (19, die in Rayuela vorkommen, und 2, die aus anderen Arbeiten Cortázars stammen). Rayuela (das in Frankreich “Marelle” genannt wird, zu lesen und Jazzuela zu hören, bedeutet, in eine Welt erstaunlicher Orte und magischer Klänge einzutauchen, die von Orchestern und Interpreten wie Duke Ellington, Louis Armstrong, Frank Trumbauer, Kansas City Six oder The Chocolate Dandies, der Stimme von Bessie Smith, Bill Big Bronzys Gitarre, Gillespies Trompete, Coleman Hawkins’ Saxophon und Eral Hines’ magischem Klavier aufsteigen. Als Julio Cortázar 1951 beschließt, nach Paris zu reisen, um dort zu bleiben, beherrscht die Jazzmusik die kleinen Clubs, die eher als Höhlen am linken Seineufer zu bezeichnen sind. Die großen amerikanischen Persönlichkeiten des Genres spielen hier ihre besten Improvisationen für eine kleine Gruppe bedingungsloser Liebhaber und wohnen in kleinen Hotels in der Nachbarschaft, darunter das legendäre La Louisiane, in dessen Zimmern sie tagsüber schlafen, Abenteuer mit Pariser Intellektuellen und der Bourgeoisie erleben (noch heute bietet La Louisiane in der Rue de Seine den Touristen, meist Amerikaner, die die Geschichte des Hotels und des Jazz kennen, sehr günstige Zimmer mit minimalem Komfort – sie haben nicht einmal einen Fernseher – sind aber sehr gemütlich). Ich war jetzt schon seit über zehn Jahren nicht mehr da, was vor allem daran liegt, daß ich nicht mehr reise, Jazzuela aber, da sich nun endlich auch in meiner Sammlung habe, gemahnt mich, diese Praxis noch einmal zu überdenken.