Julio Cortázar: Die Erzählungen

Cortazar

Julio Cortázar war einer der Begründer dessen, was als Lateinamerikanischer Boom bekannt wurde. Ein Romanschriftsteller, Dichter, Dramatiker und Essayist war er, aber – und das ist das Wesentliche seiner Arbeit – vor allem ein fleißiger Erzähler von Kurzgeschichten. Er begann seine Arbeit unter dem Einfluss des Surrealismus. Seine phantastischen Erzählungen beginnen meistens mit einem gewöhnlichen Setting, in das unerwartet das Fremde, Seltsame einbricht. Seine Tätigkeit als Übersetzer, inklusive der Erzählungen Poes, beeinflussten sein Schaffen ebenfalls.

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Handbuch für Detektive

Borges lobte an der Detektivgeschichte dass sie „in einer Epoche der Unordnung eine gewisse Ordnung aufrechterhalten kann“. Dieser Gedanke wird im Handbuch für Detektive von Jedediah Berry spielerisch und surrealistisch umgesetzt. Berry ist bei uns ein Unbekannter, in Amerika kennt man ihn als stellvertretenden Redakteur eines kleinen Verlags, der sich mit Phantastik sehr gut auskennt. Seine Kurzgeschichten fanden nicht selten den stürmischen Beifall der Kritiker. Das Handbuch allerdings ist sein Debüt. 2009 geschrieben, erschien es erstaunlicher Weise 2010 bereits bei uns. In diesem Roman ist die Detektivarbeit mehr als ein Job, sie verkörpert einen geordneten Zugang zum Leben. Rätsel müssen gelöst werden, um Wahrheit und Illusion voneinander zu trennen. Sogar die Verbrecher scheinen sich hauptsächlich für das Verbrechen als Mission, als Kunstform, als Mittel zur Beeinflussung der Welt zu interessieren. Ihre Anführer sind Magier, Meister der Verkleidung, Illusionisten. Der Konflikt zwischen Detektiven und Kriminellen ist ein Aufeinanderprallen philosophischer Positionen, ein metaphysischer Kampf um die Vorherrschaft.

Unser Held ist Charles Unwin, freundlicher Aktenschreiber von Detective Travis Sivart. Er arbeitet bei der Agentur, einem Monolith der Seriosität, der seine Stadt schützt, indem er fest gegen das kriminelle Element steht. Unwin ist ein sanfter, bescheidener Kerl und nie ohne Regenschirm (es regnet immer in der Stadt). Er zeichnet sich vor allem durch die Organisation und Katalogisierung von Akten aus, die er in seiner Funktion komfortabel und zufriedenstellend erledigt. Aber als Detective Sivart verschwindet, wird Unwin unerwartet zum Detektiv befördert und als Agent ins Feld geworfen. Da er völlig ungeeignet für den Job ist, protestiert er gegen seine Beförderung, aber als er wegen Mordes verdächtigt wird, muss er den Hinweisen folgen, um herauszufinden, was vor sich geht. Als er widerwillig anfängt, Fragen zu stellen, stellt er fest, dass viele Fakten in Detective Sivarts Akten falsch dargestellt sind. Bald taucht er aus seinem Schlummer auf und versinkt in Rätseln. In der sich verdichtenden Handlung findet er Beweise, die sich nicht nur auf den vorliegenden Fall beziehen, sondern auch auf Geheimnisse, die alles untergraben könnten, was er für wahr hält.

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Gedanken zum „Slipstream“

(c) Tachyon

Kommen wir nun zu einer merkwürdigen Geschichte, die als „Slipstream“ begann, die „New Wave Fabulists“ unter ihren Mantel nahm, die Postmodernisten sowieso, und heute mit dem gleichermaßen irreführenden Begriff „New Weird“ einen neuen Anlauf nimmt. Keiner der aufgeführten Begriffe ist eine wirkliche Genrebezeichnung, die man noch um „Surrealismus“ und „Bizarro Fiction“ erweitern könnte, ohne den Kern zu treffen.

Slipstream ist die etwas unbequeme Definition einer Literatur, die die Kluft zwischen dem Mainstream und der spekulativen Literatur, bestehend aus Science Fiction, Fantasy und Horror überwindet. Wenn die gemeinte Literatur aber wirklich definiert werden soll, dann kann man sie im günstigsten Fall „seltsam“ oder „äußerst seltsam“ nennen, abgeleitet von der Anthologie, die neben einem Aufsatz von Bruce Sterling, der „Slipstream“ als Genre im Jahre 1989 einführte: „Feeling very strange – The Slipstream Anthology“, die allerdings erst im Jahre 2006 von James Patrick Kelly und John Kessel herausgegeben wurde. Darin erklären die Autoren, dass die „kognitive Dissonanz“ das Herzstück des „Slipstream“ sei, und dass es sich dabei weniger um ein Genre als vielmehr um einen literarischen Effekt wie „Horror“ oder „Komödie“ handelt, um einen Geisteszustand oder eine Herangehensweise, die außerhalb jeder Kategorisierung liegt. Ähnlich wie im „Magischen Realismus“ werden physikalische Gesetze gebrochen, aber niemand wundert sich darüber, was der herkömmlichen Phantastik-Theorie mit ihrem angeblichen „Riss“ widerspricht. Die typischen Charaktere der spekulativen Literatur – Magier, Zombies, Aliens gibt es hier normalerweise nicht, also können die seltsamen Begebenheiten auch nicht auf sie abgewälzt werden. Es sind die gewöhnlichen Menschen im Angesicht merkwürdiger Umstände selbst, die eine „Slipstream“-Geschichte erleben.

Hinzu kommt ein „literarisches“ Anliegen. Die Autoren gehen durch ihren Stil ein Risiko ein. Form, Thema und Stimmung erheben sich über die Handlung, die zwar nicht unwichtig ist, die sich aber dem, was der Autor sagt und wie er es sagt, unterordnet. Die Form ist wichtiger als die bloße Abfolge von Ereignissen, wie man sie heute überall vorgesetzt bekommt. Das berühmteste Beispiel einer „Slipstream“-Geschichte ist Shirley Jacksons „Die Lotterie“. Oberflächlich betrachtet geht es darin um eine kleine amerikanische Gemeinschaft. Es gibt kein zugrundeliegendes Übel, das wie in einer gewöhnlichen Horrorgeschichte im Hintergrund lauert. Sicher ist das eine Horrorgeschichte, aber die Natürlichkeit der Kulisse und der Figuren weicht niemals dem entfesselten Terror. Es gibt kein Monster, das man fürchten muss. Die Plausibilität der Geschichte wird nie in Frage gestellt. Die Ereignisse fühlen sich real an, auch wenn die Umstände unglaublich sind. Das ist Slipstream. Die Grenze zwischen Realität und Phantasie ist schlicht und einfach verwisch oder gar nicht vorhanden.

Der größte Teil dieser Geschichten wird in der Kurzform geschrieben, daher tauchen einige der besten von ihnen in Zeitschriften oder Magazinen auf. Längere Romane neigen dazu, eher durch kommerzielle Beschränkungen ihr Ziel zu verfehlen. Kurzgeschichtenschreiber hingegen dürfen sich austoben und experimentieren. Andererseits liegt hier das gleiche Problem vor wie in der „Weird Fiction“; es ist schwieriger, die Atmosphäre des Unheimlichen, Seltsamen in einem Roman in voller Länge aufrechtzuerhalten. Michael Cisco gilt als einer der wenigen Autoren, die das überhaupt je geschafft haben.

Nachtrag zum Magischen Realismus

Der Magische Realismus, über den ich in der Vergangenheit immer einmal wieder gesprochen habe, ist mehr ein literarischer Stil als ein eigenständiges Genre, der sich in seiner Herangehensweise durch zwei unterschiedliche Perspektiven auszeichnet. Die eine basiert auf einer sogenannten rationalen Sicht der Realität und die andere auf der Akzeptanz des Übernatürlichen als prosaische Realität. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass der Magische Realismus eine Weltanschauung bietet, die weder auf natürlichen oder physikalischen Gesetzen, noch auf objektiver Realität fußt, denn auch die fiktive Welt ist nicht von der Realität getrennt. Er zielt vielmehr darauf ab, das Paradoxon der Vereinigung von Gegensätzen zu erfassen; so stellt er beispielsweise in der lateinamerikanischen Literatur binäre Gegensätze wie Leben und Tod und die vorkoloniale Vergangenheit gegenüber der postindustriellen Gegenwart in Frage. Hier ist die Präsenz des Übernatürlichen oft mit der urzeitlichen oder magischen „einheimischen“ Mentalität verbunden, die im Gegensatz zur europäischen Rationalität steht.

Die Ironie, dass der Begriff des Magischen Realismus eigentlich ein Europäischer ist, darf dabei nicht geleugnet werden.

Der Begriff „Magischer Realismus“ wurde erstmals von Franz Roh, einem deutschen Kunstkritiker, eingeführt, der den Magischen Realismus für eine Kunstkategorie hielt. Für ihn dieser Stil eine Möglichkeit, die Realität darzustellen und darauf zu reagieren und die Rätsel der Realität bildlich darzustellen. In den 1940er Jahren in Lateinamerika war der magische Realismus eine Möglichkeit, die realistische amerikanische Mentalität auszudrücken und einen autonomen Literaturstil zu schaffen. Doch der magische Realismus beschränkt sich nicht nur auf die lateinamerikanische Literatur, denn viele lateinamerikanische Schriftsteller haben andere auf der ganzen Welt beeinflusst, wie etwa den indischen Schriftsteller Salman Rushdie und den nigerianischen Dichter und Schriftsteller Ben Okri.

Magische Realisten verwenden viele Techniken, die mit dem Postkolonialismus verbunden sind, wobei Hybridität ein primäres Merkmal ist. Insbesondere wirkt der Magische Realismus in den unharmonischen Arenen von Gegensätzen wie urban und ländlich und westlich und indigen.

Die Handlungsstränge magischer realistischer Werke beinhalten Fragen nach Grenzen, Vermischung und Veränderung. Die Autoren legen diese Handlungsstränge fest, um einen entscheidenden Zweck des magischen Realismus zu enthüllen: eine tiefere und definiertere Realität, als sie herkömmliche realistische Techniken veranschaulichen könnten. Das erinnert einerseits an die Surrealisten, die durch eine ähnliche Technik eine „Überwirklichkeit“ erschaffen wollten, eine Surrealité, und auf der anderen Seite an die Romantik, die sich für das Unendliche interessierte, für das Erhöhen des Banalen.

Das Entscheidende ist dabei die Haltung des Autors, denn erstens muss er eine ironische Distanz zum magischen Weltbild pflegen, damit der Realismus nicht beeinträchtigt wird, und gleichzeitig muss er dann eben doch die Magie repräsentieren, sonst löst sie sich in einem einfachen Volksglauben oder in einem gewöhnlichen Fantasysetting auf, vom Realen getrennt und nicht mit ihm synchron. Die Zurückhaltung des Autors bezogen auf eine klare Meinung über die Richtigkeit der Ereignisse und die Glaubwürdigkeit der von den Charakteren im Text geäußerten Weltanschauung ist ein weiterer Kniff.

Erst diese Technik fördert die Akzeptanz im Magischen Realismus. Hier würde der einfache Akt der Erklärung des Übernatürlichen seine Position der Gleichheit gegenüber der konventionellen Sichtweise einer Person auf die Realität beseitigen. Da sie dann weniger gültig wäre, würde die übernatürliche Welt als unrichtig dargestellt, aber im Magischen Realismus wird das Übernatürliche nicht als fragwürdig dargestellt. Während der Leser erkennt, dass das Rationale und Irrationale gegensätzliche und widersprüchliche Polaritäten sind, ist er dennoch nicht verunsichert, weil das Übernatürliche in die Wahrnehmungsnormen des Erzählers und der Figuren in der fiktiven Welt integriert ist.

Die Idee des Schreckens erschwert die Möglichkeit der Erholung im Magischen Realismus. Mehrere prominente autoritäre Persönlichkeiten wie Soldaten, Polizisten und Sadisten haben alle die Macht zu foltern und zu töten. Ein weiteres auffälliges Thema ist die Zeit, die häufig als zyklisch statt linear dargestellt wird. Was einmal passiert, ist dazu bestimmt, wieder zu geschehen. Charaktere sehen nirgends die Möglichkeit eines besseren Lebens. Infolgedessen bleiben Ironie und Paradoxie in immer wiederkehrenden sozialen und politischen Ambitionen verwurzelt.

Zweites surrealistisches Märchen (Pilze zu Gast)

Miniaturen

C: Könntest du dir – und ich frage das ohne Hintergedanken – sonnengebräunte Pfifferlinge vorstellen, die eines Tages ihren Standort wechseln wollen? Und jetzt die eigentliche Frage: müssen sie nicht bei uns vorbeikommen, wenn sie ihr Ziel je erreichen wollen?

A: Aber doch, ja, ich denke, sie sollten sich Beine machen und recht flink bei uns vorbeikommen. Dann gesellen sich zu Flora und Faun auch die Fungi. Ich mag die Plasmodien der Gelben Lohblüte gebraten als „caca de luna“ („Mondkacke“). Pilze sind hübsch. Besonders die mit den Häubchen, den Schwammporen oder Lamellen.

C: Sie leben ja auch zu Mars, die Pilze. Da müsste sich doch was machen lassen, um für immer in den interstellaren Gebräuchen zu verschwinden? Sind sie erst da, werden sie schnell flach und alt. Sie seibern Stoffe von hoher Qualität und drängeln nicht wissentlich. Mehr von der Hinterfotze, also heimlich. Nun, du deckst den Tisch und ich suche in den Winkeln. Da fand ich noch immer von Spinnen geröstete Hüllen einst blühender Larven.

A: Dann sind sie, wenn sie auf meinem Tellerchen landen, flunderflach? Ist ihr Durchmesser dann nicht um ein Beträchtliches gestiegen? Wie soll ich sie dann verspeisen können? Klingt, als bräuchte ich danach einen „Fotzenspangler“.

C: Oh ja, ja oh! Sie sind dann so grooß wie einmal um die Oberfläche Gottes gelegt. Wie soll ein kleines Schnütchen wie das deine alles auf einmal wagen? Es gälte, sofort den Yogi – so man kennt – anzurufen, um eine fernöstliche Fressmethode zu erlernen. Wir machen es uns einfacher. Du wirst sehen: mit einer frisierten Kettensäge lassen sich auch Flunder brechen und in schlummernde Frittengröße schneiden. Aber horch! Da klingelts’s schon!

A: Äh, Monsieur Frits holt di Kättensege aus där Schübläd. Nurzu! Werden ja sehen, ob der Lappen Gottes nicht rechtzeitig über den Tellerrand schaut und hüpft. Vielleicht zieht er dann, höchst beleidigt, ziharmonisch reisend von dannen und es ertönt eine kosmische Melodei …

(RÖÖÖÄÄÄÄÄMMM BRABA BRABABA BRA, FROMM FROOOOOMM … (lautes Geschrei, das sich verbietet hier in Worte zu fassen. Und dann kippt auch noch irgendwo ein verdammter Stuhl um!)

ENDE

Erstes surreales Märchen (als Dialog)

Miniaturen

M: Würdest du von goldnem Mottenstaub mich umringt wissen – wie wäre dann dein Vorschlag, unter rettende Trauben zu eilen? Oh, und start müsste es außerdem sein.

A: Du würdest nicht wissen, wie dir geschieht! Es wär‘ dir, als bekämst du die Motten.

M: Die mir, wie gehabt, unter den Biberpelz fahren, um die Kissen zu kitzeln, die ich einst unter meiner Haut versteckte? Aber kannst du mir nichts Bessres raten, als tatenlos die Falle zuschnappen zu lassen?

A: Nein, von solchen Motten kann die Rede nicht sein! Ich sag dir, wenn ich’s täte, du schnapptest nach mir, schnapptest mit den Händen hier und dort, schnapptest als wolltest du sie, die Motten, fangen, die dich streifen mit wimpernem Aug‘, hie und da, hie und da dich kitzeln, denn du sähest mich nicht. Doch ich nähme von dir das goldene Puder und knetete draus dir zwei Schuh, die dich windgeschwind ins Tal der Zwölfmittagsuhr bringen, zu den Wölflingswiesen und Käfermarien. Dort, wo der Schleierbaum steht. Denn nur unter diesem kann ich dir erscheinen.

M: Dann ist Windeseile geboten, das Mopezoid aus dem Kerker zu holen und mit ihm – fusch – hinweg gerast, durchs Tal der drei Glocken (wo man einst eine Jungfrau hat Jungfrau sein lassen, bis sie dann als Jungfer starb), über die Hügel der glorreichen Witzschänke (die heute keinen Wirt mehr findet, des maroden Kellers wegen), und hin zum Schleierbaum, den ich mit dir zusammen doch in meiner Kindheit ersann (als ich noch nicht der Körper war, sondern nur ein Raunen unter Liebesfenstern.). Du wartest, ja?

A: Ja hört’s denn nicht zu?! Was will es faul die Räder mühen, der Stadt eine Küss-meinen-Staub-Wolke zu hinterlassen. Nein, der Staub muss zu Teig, der Teig zu deinen Schuhen werden, die dich zu mir bringen. Von meiner Hand zu deinen Füßen. Denn ohne das, bleibt Staub nur immer Staub. Und sei er noch so golden. Es vermengt sich nichts.

M: Aber ich hatte doch nur geschwinde Winde im Sinn. Da muss ich gleich gestehen, wie mir die Sockpocken erst jüngst kuriert wurden, so dass ich vielleicht ignoriert habe, was da Gutes unter mich zu bringen sei. Aber ich will es noch einmal versuchen: trompete die Füße an und bewedel‘ sie dann mit Eukalyptuslikör. Und dann eile ich. Per pedes, versteht sich, so nämlich, wie mir geheißen! Ja.

Von nicht geringer Konzentration

Es sollte also Johanniskraut sein gegen meinen fundamentalen Kummer. Aber ich löse mich in meine Bestandteile auf, wenn mir nicht etwas grundlegendes widerfährt. Doch liegt es am Zeitstrahl, dass ich, bevor ich meine Mitte erreichen kann, in den Orkus abdrifte. Ich habe mir schon oft überlegt, wie es kam, dass nichts kam, dass nichts wurde, wie ich das wohl geschafft haben könnte. Ohne Zutun freilich nicht, aber welches? Ich war doch stets ein Blatt Papier, das durch die Gegend geweht wurde. Ich war hier, um mir alles einmal anzusehen, zu befühlen. Aber ins Leben kam ich nie, es befand sich stets außerhalb von mir. Ich glotzte es an wie ein fremdes Wesen. Dabei kann man es zähmen, man kann es aber auch wild lassen. Mir widerfuhren die Dinge wie es der objektive Zufall vorschreibt. Erstaunliche Dinge, unmögliche Dinge. Genug für ein magisches Leben, genug zu behaupten, Surrealist gewesen zu sein. Von Handreichungen spreche ich gar nicht erst. Aber auf allen Wegen steht der Teufel, ich habe ihn gesehen.

Der Magische Realismus

Wenn Massimo Bontempelli, der die italienische Literatur in den 20iger Jahren prägte, seine ersten magisch-realistischen Werke vorlegt, wird er einer jener Pioniere sein, die einen bisher nicht fest umrissenen Begriff in die Literaturwelt einführen, der sich irgendwo zwischen phantastischer Literatur, Surrealismus und Neuer Sachlichkeit bewegt.

Bontempelli tat das, indem er gegen den Realismus und Naturalismus des etablierten 19. Jahrhunderts und dessen bürgerlichen Geschmack, die Literatur thematisch und technisch zu erneuern versuchte – durch einen Magischen Realismus, der übernatürliche, phantastische Ingredienzien und Begebenheiten, die an sich der Gattung des Märchens und der Mythologie angehören, wie selbstverständlich und so, dass sie den Anschein des Wirklichen und Wahrscheinlichen haben, in eine realistisch geschilderte Alltagswelt integriert.

„Das Magische, Surreale im täglichen Leben der Menschen und Dinge zu entdecken, den Sinn des Geheimnisvollen und das Gleichgewicht zwischen Himmel und Erde wieder neu zu finden…“

Dieses Programm für den „realismo magico“ hat Bontempelli in dem eigenwillig komponierten okkulten Roman Sohn zweier Mütter auf überraschende Weise in Szene gesetzt.

In den folgenden Jahrzehnten treten – anfangs hauptsächlich in Deutschland und Flandern – Autoren auf, die sich als magisch-realistisch bezeichnen oder dieser Richtung zugerechnet werden. Auffallend ist jedoch das beinahe gänzliche Fehlen von entsprechenden Gruppierungen oder programmatischen Texten, wodurch die Auffassung, es handle sich weniger um eine Periode als um ein zeitunabhängiges Phänomen, bekräftigt wird. Typisches Merkmal magisch-realistischer Literatur ist das Integrieren unwahrscheinlicher, beinahe phantastischer Elemente in einen nüchtern realistischen Kontext, sodass der Anschein des Wirklichen und Wahrscheinlichen entsteht. Dem liegt oft der Zweifel an einer rein kausalen und logischen Ordnung der Welt zugrunde.

Die Literaturgeschichten, die den Begriff erwähnen, betrachten den Magischen Realismus als Reaktion auf den Expressionismus – im Brockhaus ist von einer „Stilrichtung des Nachexpressionismus“ die Rede –, die in der selben Zeit wie der Surrealismus und die Neue Sachlichkeit entstanden ist. Ernst Jüngers magisch-realistische Theorie, wie er sie in der Studie Sizilischer Brief an den Mann im Mond formulierte, kann durchaus als repräsentativ für den deutschen Magischen Realismus gelten. Jünger versucht in seiner Schrift die Dualität Phantasie-Wissenschaft, Traum-Ratio zu überbrücken, indem er beide Komponenten ineinander fließen lässt wie zwei miteinander verbundene Facetten einer einzigen Wirklichkeit. Mit dem Magischen Realismus werden auch Autoren wie Gustav Meyrink, Franz Kafka, Hermann Hesse und Hermann Kassack (Die Stadt hinter dem Strom, 1946), dann noch E. T .A. Hoffmann, Poe und sogar Oscar Wilde in Verbindung gebracht. Hierbei ist leicht zu erkennen, dass man es doch mit einer sehr großen Schwammigkeit in der Definitionskette zu tun hat.

Der Magische Realismus, der diesen Namen unverwechselbar trägt, und die Literatur, die damit unmissverständlich zusammenhängt, ist die lateinamerikanische.

Alejo Carpentier, der 1927 wegen einer politischen Protestaktion gegen die Machado-Diktatur sieben Monate inhaftiert war, und der im darauf folgenden Jahr nach Paris emigrierte, kam dort mit den Surrealisten André Breton, Tristan Tzara, Louis Aragon, Paul Eluard und dem Kubisten Pablo Picasso in Kontakt, (später wird es zum Bruch mit dieser Bewegung kommen, denn sie würde nichts Neues mehr schaffen), prägte in seinem Vorwort Das Reich von dieser Welt den Begriff der „Wunderbaren Wirklichkeit“ und wen sollte es wundern, dass dieser Begriff eng mit dem so sehr berühmten Magischen Realismus zusammenhängt.

Carpentier verstand das „wunderbar Wirkliche“ als Gegenbegriff zum Surrealismus, gegen dessen künstliche Sterilität und mangelnde Authentizität er das Konzept eines „barocken“ und zugleich gewachsenen Kulturbegriffs setzt. Das Wunderbare existiere erst dann, wenn es aus einer unerwarteten Veränderung der Wirklichkeit (dem Wunder), einer privilegierten Enthüllung der Wirklichkeit, einer ungewöhnlichen oder einzigartig begünstigten Erleuchtung unentdeckter Reichtümer der Wirklichkeit entsteht, die so intensiv wahrgenommen wird, dass der Geist, dadurch erregt, in eine Art Grenzzustand versetzt wird.

Ich möchte das Anhand von zwei Beispielen erläutern, in denen jeweils Frankreich der Nährboden für eine rasende Entwicklung war: Da wäre zum einen die einflussreichste Kunstrichtung überhaupt, die vielmehr eine Weltanschauung ist: der Surrealismus, der zwar von der Pariser Gruppe initiiert, zu seiner eigentlichen, eigenen und wahrlich willkommensten Blüte aber erst durch Octavio Paz, Boris Vallejo und Pablo Neruda gelangte; und zum anderen der Nouveau Roman, der als Nueva Novella von so illustren Namen wie Gabriel García Márquez und Vargas Llosa in einem facettenreichen Feuerwerk gipfelte, und sogar Namen wie Michel Butor und Claude Simon auf die Plätze verwies.

Die Frage, wann und wie man in Hispanoamerika von den europäischen Avantgardebewegungen Kenntnis erhielt, lässt sich nicht genau beantworten. Dabei ist daran zu erinnern, dass Lateinamerika sich bei aller Eigenart einer gemeinsamen abendländischen Kultur zugehörig fühlte, als deren unbestrittenes Zentrum Paris galt.

Zumal lebten in der hispanoamerikanischen Avantgarde engagierte Autoren wie Jorge Luis Borges, Miguel Angel Asturias oder Jose Carlos Mariategui (auch Julio Cortazàr) zeitweise in Europa und vor allem in Paris, während namhafte europäische Avantgardisten und Surrealisten wie Robert Desnos und Benjamin Peret zu Vortragsreisen nach Lateinamerika geladen wurden.

Die großen Höhenkamm bildenden Romane der frühen Nueva Novella haben ausnahmslos das gemein, dass wir offene Formel nennen, Werke, die nicht den geschlossenen Weg einer erzählend sich aufbauenden Einheit darstellen, sondern sich aus mehr oder weniger selbstständigen, nur locker zusammengefügten Teilen zusammensetzen. Diese offene Form wirkt sich auf die ganz konkrete Darstellung aus. An die Stelle des kausal verketteten Erzählfadens tritt das mehr oder weniger verbundene Nacheinander von gestauten Augenblicken; Julio Cortàzar wird es später in seinem epochalen Meisterwerk „Rayuela“ so formulieren:

„Das Leben der anderen, so wie es uns in der sogenannten Realität begegnet, ist nicht Kino, sondern Fotografie“

Daher sei es nicht seltsam, wenn er von seinen Personen in der denkbar sprunghaftesten Form spreche; der Fotoserie einen Zusammenhang verleihen, damit sie Kino werde, hieße, den Hiatus zwischen dem einen und dem anderen Foto mit Literatur, Vermutungen, Hypothesen, und Erfindungen auszufüllen.

Der lateinamerikanische Roman stellte allerdings eine andere Lösung dar als das chaotische Aufbrechen der Totalität bei Joyce oder dem technisch perfekten und klug abgewogenen Kalkül und europäische Werkästhetik verratenden Formeln bei Faulkner, Virginia Woolf und DosPassos.

Dabei stechen die drei Grundkomponenten lateinamerikanischen Denkens in den Vordergrund: Die monumentale indianische Seite, die im Insichruhen des Jeweiligen zum Ausdruck kommt, seiner „synthetischen“ Natur, die sich in Pluralität und Nebeneinander niederschlägt, und seiner das Heterogene bindenden romanisch-konstruktiven Komponente, der sie gerecht wird durch letztliches Festhalten an einer, wenn auch verschleierten, über alle diskontinuierlichen Techniken hinweg aufbauenden Werkstruktur.

Diese Formel bietet den Vorteil, das ästhetische Problem aus der grundsätzlichen Entscheidung zwischen Kontinuität und Diskontinuität herauszunehmen und zu einer Frage des Ausgleichs zu machen. Der Literatur Lateinamerikas öffnet sich so ein weites Feld von Möglichkeiten. Der Dichter kann gewissermaßen schon über die Form seine Botschaft dosieren. So macht es Asturias in den Maismännern, indem er die Offenheit zum beherrschenden Strukturprinzip macht.

All diese Romane können als Weg gelesen werden ohne formaliter zu sein. Als zweites Kennzeichen der großen Romane dieses Zeitraums bemerkt man eine große metaphysische Spannung, ob es nun Asturias‘ Die Maismänner, Alejo Carpentiers Das Reich von dieser Welt oder Welkes Blattwerk von Gabriel Garcia Marquez ist.

Ein Weiteres, das mit der metaphysischen Öffnung des offenen Romans zusammenhängt, ist der zirkuläre, im Grunde einheimische Zeitbegriff, dem wir hier begegnen, das Empfinden für die Wiederholbarkeit der Geschichte, ja sogar des Menschen. Letztere Erscheinung wird in Márquez Roman Hundert Jahre Einsamkeit zum dominierenden Thema. Carlos Fuentes und Vargas Llosa sind neben Garcia Márquez die Wortführer dieser ehrgeizigen Gruppe.

Dieser zirkuläre, „ungerichtete“ Zeitbegriff, der dem christlich-abendländischen Denken zuwiderläuft, aber auch im Nouveau Roman einen Adepten hat, in Claude Simon nämlich, hängt mit dem magischen Denken und der Abneigung gegen ein formales, rationalisierendes Prinzip und jegliche Abstraktion zusammen, wie es dem Lateinamerikaner zu eigen ist und wie es in Europa erst die Surrealisten aufbrechen konnten.

Klar ist demnach auch, dass die Verwandtschaft zu den alten Griechen, vor allem zu Heraklit, klare Grenzen hat. Grenzen, zu denen auch eine für europäisches Denken schwer nachvollziehbare Art magischer Transzendenz des Fleischlich-Erotischen zu zählen ist. Es handelt sich hierbei um eine in der Liebe unmittelbar aus dem Biologischen aufspringende Dimension, die bisweilen in den Bereich der Ausschweifung hineinreicht, aber in ihrer besonderen Form dort anzutreffen ist, wo das ausschließliche Interesse im reinen, wechselseitigen Erlebnis des Körpers liegt, des Körpers jedoch als eine Art Ewigkeitserfahrung.

Die Werke des Magischen Realismus schildern eine magisch bestimmte und wahrgenommene Welt, in der zwischen Legenden, Mythen, Träumen und Wirklichkeit keine wesentliche Trennung besteht. Im Falle Asturias’ erhält auch die Sprache eine besondere Bedeutung: Sprunghaft, assoziativ, ist sie häufiger durch klangliche oder rhythmische Aspekte bestimmt als durch „Sinnzusammenhänge“. Bilder und Metaphern entstammen einem vorlogischen Denken, indem Dinge und Wesen magisch miteinander verbunden sind.

Alle an der „Wirklichkeit“ orientierte Literatur, die eine „wahrscheinliche“ Intrige oder „glaubwürdige“ Charaktere in Szene setzt, lenkt nur von den tatsächlichen Lebensumständen des Lesers ab.

Andrè Breton

Breton in einigen wenigen Sätzen zu grundieren, ist ein unmögliches Unterfangen. Ob man ihn nun als den Begründer der einflussreichsten künstlerischen Bewegung, die es jemals gab, anerkennt, oder ihn zum letzten Vertreter der europäischer Intelligenz ausruft. Im Vordergrund steht kein literarisches Schaffen im herkömmlichen Sinn, was Breton sein wollte, war er ganz und gar. Es ist bezeichnend, dass der kontinentale Surrealismus durch ihn initiiert, verstörte und aufbegehrte, beinahe exaktamente mit seinem Ableben ebenfalls das Zeitliche segnete, während der Geist dieser Lebenshaltung – man kann sagen – nach Lateinamerika auswanderte, wo er nicht zuletzt durch Bretons Busenfreund Octavio Paz (aber auch durch Neruda) zu höchsten Weihen fand.

Auswahlbibliothek:

Die Manifeste des Surrealismus
Die magnetischen Felder
 (mit Soupault)
Nadja
L’amour Fou
 (in einer grottenschlechten Übersetzung bei Suhrkamp)