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Wie Poe durch Dupin die literarische Welt für immer veränderte

Olivia Rutigliano ist die stellvertretende CrimeReads-Redakteurin bei Lit Hub. Ihre Arbeiten erscheinen darüber hinaus auf vielen anderen Plattformen. Sie ist Doktorandin und Marion E. Ponsford-Stipendiatin an der Columbia University, wo sie sich auf Literatur und Unterhaltung des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts spezialisiert hat. Wir danken für ihre Bereitschaft, bei uns mitzuwirken. —M.E.P.

Obwohl es in der Literatur seit Jahrhunderten nur so von cleveren Problemlösern wimmelt, von Trickbetrügern über geläuterte Diebe bis hin zu weisen Männern und Polizeipräfekten, versetzte Edgar Allan Poes Detektivgeschichte “Die Morde in der Rue Morgue”, als sie 1841 erschien, die literarische Welt in Erstaunen. In einem Haus in der Rue Morgue (einer fiktiven Straße in Paris) ist ein grausamer Doppelmord geschehen. Mehrere Zeugen bestätigen, dass sie mehrere Stimmen gehört haben, aber niemand kann sich darauf einigen, welche Sprache einer der Sprecher verwendet haben könnte. Es gibt mehrere Hinweise, von denen einer rätselhafter ist als der andere. Die Polizei ist ratlos. Doch C. Auguste Dupin, ein Liebhaber seltener Bücher, löst das Rätsel zu Hause, nachdem er die Details in der Zeitung gelesen hat, und wird so zur ersten echten Detektivfigur der Literatur und löst damit eine Revolution aus, in dem er ein Genres definiert. Er taucht in zwei weiteren Geschichten auf: “Das Geheimnis der Marie Rogêt”,  und “Der entwendete Brief” von 1844.

Wie der Literaturkritiker A. E. Murch schreibt, handelt es sich bei der Detektivgeschichte um eine Erzählung, bei der “das Hauptinteresse in der methodischen Entdeckung der genauen Umstände eines mysteriösen Ereignisses oder einer Reihe von Ereignissen mithilfe rationaler Mittel liegt“. Der Kritiker Peter Thoms führt dies weiter aus und definiert den Kriminalroman als “Chronik einer Suche nach Erklärung und Lösung” und fügt hinzu:

“Eine solche Fiktion gestaltet sich typischerweise als eine Art Rätsel oder Spiel, als ein Ort des Spiels und des Vergnügens sowohl für den Detektiv als auch für den Leser.”

Der wohlhabende Dupin ist ein Sesseldetektiv, der Rätsel löst, weil er es kann, indem er eine Methode  der “Folgerung” anwendet, bei der er im Grunde “über den Tellerrand hinausschaut” (und es ist gut, dass er das tut, sonst würde niemand diese Verbrechen lösen; der Mörder in “Die Morde in der Rue Morgue” entpuppt sich als entlaufener Orang-Utan. Man kann wohl mit Sicherheit sagen, dass niemand sonst darauf kommen würde). Er teilt seine Schlussfolgerungen seinem guten Freund, dem anonymen und oft verblüfften Ich-Erzähler mit.

Hätte Poe nicht die Konventionen festgelegt, die wir als Kennzeichen der modernen Detektivgeschichte kennen, hätten andere wahrscheinlich nicht lange danach das Gleiche getan. Die Literatur war auf dem Weg zu dieser Entdeckung; sicherlich gab es eine lange Reihe von Figuren, die ähnlich vorgingen, gestohlene Gegenstände aufspürten und unmögliche Rätsel knackten, und wie Dupin taten sie dies als Privatleute und nicht als Angestellte des Staates. Voltaire schrieb 1747 die philosophische Novelle Zadig oder das Schicksal zum Thema Problemlösung, in der es um einen weisen jungen Mann in Babylonien geht, dessen Wissen ihn zwar in Schwierigkeiten bringt, ihn aber letztlich oft rettet. In William Godwins 1794 erschienenem Roman Die Abenteuer des Caleb Williams oder: Die Dinge wie sie sind, einer vernichtenden Anklage gegen die Fähigkeit des so genannten Justizsystems, Leben zu ruinieren, werden staatlich sanktionierte Ermittler zugunsten von nicht-traditionellen Problemlösern desavouiert. 1819 schrieb der deutsche Schriftsteller E. T. A. Hoffmann Das Fräulein von Scuderi, wo eine neugierige Frau namens Madeleine von Scuderi (die man als Vorläuferin von Miss Marple betrachten könnte) eine gestohlene Perlenkette findet.

Diese Aufzählung wäre unvollständig ohne Eugène-François Vidocq, einen Kriminellen, der sich zum Kriminologen wandelte und von 1775 bis 1857 lebte. Er gründete und leitete die erste nationale Polizei Frankreichs, die Sûreté nationale, sowie die erste private Detektei Frankreichs. Sein Leben inspirierte zahllose (verwegene) Adaptionen, darunter auch eine amerikanische, die 1828 in Burton’s Gentleman’s Magazine unter dem Titel “Unpublished passages in the Life of Vidocq, the French Minister of Police” veröffentlicht wurde und die Poe sehr wohl gelesen haben könnte. Interessanterweise gibt es in dieser Geschichte eine Figur namens “Dupin”.

Der berühmte Drehbuchautor Brander Matthews schrieb:

“Die wahre Detektivgeschichte, wie Poe sie sich vorstellte, hat nicht das Rätsel selbst zum Ziel, sondern die aufeinanderfolgenden Schritte, die den analytischen Beobachter in die Lage versetzen, das Problem zu lösen, das als jenseits menschlicher Möglichkeit abgetan werden könnte.”

In der Tat könnte Dupins größter Einfluss außerhalb des Kriminalromans und innerhalb des breiteren, späteren Feldes der Literaturkritik liegen. Dupins Fähigkeit, Hinweisen eine außergewöhnliche Bedeutung zu entlocken, macht ihn zum ersten Semiotiker, der mehr als ein Jahrhundert vor Ferdinand de Saussure, der 1966 sein Werk zu diesem Thema veröffentlichte, die Beziehung zwischen Zeichen, Signifikanten und Signifikaten aufklärte – vor allem, weil Dupin seine Hinweise eher über die Linguistik als über physische Objekte findet. In “Die Morde in der Rue Morgue” zum Beispiel leitet er die gesamte Lösung aus zwei Worten ab, die angeblich während des Verbrechens gesprochen wurden. (“Auf diese beiden Worte [‘mon Dieu!’]… habe ich hauptsächlich meine Hoffnungen auf eine vollständige Lösung des Rätsels gebaut.”)

Dupins Einfluss auf die Geschichte des Kriminalromans kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Er schuf unter anderem den Archetyp des Gentleman-Detektivs, der im Goldenen Zeitalter des Kriminalromans in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts so allgegenwärtig werden sollte. Jahre später schrieb Arthur Conan Doyle:

“Jede [von Poes Detektivgeschichten] ist eine Quelle, aus der sich eine ganze Literatur entwickelt hat… Wo war die Detektivgeschichte, bevor Poe ihr Leben einhauchte?”

In der Tat konstruierte Doyle seinen Detektiv Sherlock Holmes als einen intellektuellen Nachfahren von Dupin, indem er Watson (der ebenfalls direkt von den Dupin-Geschichten als Freund/Erzähler/Chronist abgeleitet werden kann, Dupin zitieren ließ, als er zum ersten Mal Zeuge von Holmes’ deduktivem Genie wurde.

»Klingt kinderleicht, wie Sie es erklären«, sagt Watson1887 zu Sherlock Holmes in der ersten gemeinsamen Novelle “Eine Studie in Scharlachrot”. »Sie erinnern mich an Edgar Allan Poes Dupin. Und ich habe immer geglaubt, dass solche Menschen nur in Geschichten vorkommen.«

Holmes äußert sich abfällig über dieses Lob: »Ihr Vergleich mit Dupin ist bestimmt als Kompliment gemeint«, erwiderte er. »Aber in meinen Augen war der Mann eine Flasche. Angeblich hat er nach fünfzehnminütigem Schweigen durch eine spontane Bemerkung herausgefunden, was in den Köpfen seiner Freunde vorging – ein angeberischer und billiger Trick. Er besaß zweifellos ein gewisses analytisches Genie, war aber keineswegs so phänomenal, wie Poe glaubte.«

Nun… bis auf die Tatsache, dass er es doch war. Holmes weiß es nicht, aber ohne Dupin hätte es ihn nicht gegeben.

Sweeney Todd (Der teuflische Barbier)

Basiert Sweeney Todd auf einer wahren Geschichte oder ist er nur eine Figur, die sich ein Schriftsteller ausgedacht hat? Mit dieser Frage begrüße ich euch zum diesjährigen Halloween-Special, nachdem wir im letzten Jahr bereits die Legende des kopflosen Reiters und die Herkunft des herbstlichen Festes Halloween im Programm hatten.

Ich bin sicher, ihr habt alle schon einmal von ihm gehört. Sweeney Todd, der teuflische Barbier der Fleet Street. Sein Friseurstuhl war auf geniale Weise präpariert, denn nachdem Todd einem Kunden die Kehle durchgeschnitten hatte, bediente er einen Bolzen, der die Leiche rückwärts durch eine Falltür schickte, die in den Keller führte. Dort wurden die Opfer zu Fleischpastete verarbeitet, die in der angrenzenden Konditorei verkauft werden sollte. Geleitet wurde das Geschäft von einer Mrs Lovett, deren Vorname – je nachdem, wer die Geschichte erzählt – variiert.

Seinen ersten Auftritt hatte Sweeney Todd in “The String of Pearls” im Jahre 1846. Autor und Herausgeber: Edward Lloyd, auch wenn man hier und da etwas anderes liest. Etwa zur gleichen Zeit war bereits ein Bühnenstück aufgeführt worden, und das mit großem Erfolg. Die Bühnenversion hatte Dibdin Pitt verfasst und im Britannia Theatre in London aufgeführt. Seit der Konzeption von Sweeney Todd gibt es jedoch Stimmen, die behaupten, dass der Mann auf die ein oder andere Weise tatsächlich gelebt haben könnte. Einige sagen, dass die Figur auf einem historischen Psychokiller basiert, und wieder andere behaupten, dass er genau unter diesem Namen existiert hat. All diese Menschen betrachten Sweeney Todd als die Geschichte wahrer Begebenheiten. Zumindest bis zu einem gewissen Grad. Heute werden wir also versuchen, alle Beweise, die es da draußen gibt, zu präsentieren und so viel wie möglich über die Wahrheit herauszufinden.

Zu Beginn wollen wir Folgendes klarstellen: Es gibt keinen einzigen Beleg dafür, dass es jemals einen Menschen namens Sweeney Todd gab, der Verbrechen in der ihm zugeschriebenen Weise begangen hat. Die urbane Legende von Todd wurde schon in der viktorianischen Ära erzählt und ausgeschmückt. So wie man die Geschichte kennt, ist sie jedoch falsch, zumindest so lange, bis Historiker einen Anhaltspunkt dafür finden. Was sehr unwahrscheinlich ist. Es besteht jedoch immer noch die Möglichkeit, dass Sweeney Todd nach dem Vorbild eines echten Mörders, eines Verbrechers oder einer Legende geschaffen wurde; und genau das werden wir in dieser Folge untersuchen.

Aber bevor wir zu den interessanteren Dingen kommen, lasst uns kurz ein paar einfache Optionen besprechen. Die erste ist sehr prosaisch und wird von Michael Anglo in seinem Buch über Penny Dreadfuls – den viktorianischen Horror-Groschenheften – erwähnt, das heute etwas schwer zu finden ist. Er behauptet, dass ein Forscher nach einer gründlichen Suche in den Londoner Verzeichnissen von 1768 – 1850 entdeckte – es ist bezeichnend, dass der Name des Forschers nicht genannt wird – dass ein gewisser Samuel Todd, dessen Geschäft die Herstellung von Perlenketten war, in den 1830er Jahren in der Nähe der Fleet Street lebte. Anglo kommt zu dem Schluss, dass der Autor, während er über die Handlung einer neuen Penny Dreadful-Geschichte nachdachte, von diesem Namen inspiriert wurde und ihn einfach benutzte.

Die zweite Variante ist noch alltäglicher. Sie bezieht sich auf ein Fragment aus Charles Dickens Roman “Leben und Abenteuer des Martin Chuzzlewit”, der zwischen 1843 und 1844, also kurz bevor “The String Of Pearls” veröffentlicht wurde, in Fortsetzungen erschien. Es lautet so:

“Toms böses Genie führte ihn allerdings nicht in die Buden eines jener Hersteller von Kannibalengebäck, das in vielen gängigen ländlichen Legenden als gutgehendes Einzelhandelsgeschäft in der Großstadt dargestellt wird.”

Das soll nicht heißen, dass der Autor von “The String Of Pearls” genau dieses Fragment gelesen und als Grundlage für seine Geschichte verwendet hat, obwohl es eine interessante Hypothese ist, da eine große Anzahl von Dickens Werken sofort nach ihrer Veröffentlichung von Autoren der Groschenromane plagiiert wurde. Vielmehr war es im damaligen London eine ziemlich bekannte urbane Legende.

Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass die Geschichte über Sweeney Todd auf einen echten Mörder zurückzuführen ist, oder zumindest auf einen bestimmten Fall, der in den Zeitungen erwähnt wurde. Besagter Vorfall, der im Jahresregister gefunden wurde, weist einige Ähnlichkeiten mit der Legende auf. Hier der betreffende Ausschnitt vom Dezember 1784, Seite 208:

“Ein bemerkenswerter Mord wurde auf folgende Weise von einem Barbiergesellen begangen, der in der Nähe der Hyde Park Corner lebt. Lange Zeit war er Eifersüchtig auf seine Frau gewesen, aber es gelang ihm doch nie, ihr eine Verfehlung nachzuweisen. Zufällig kam ein junger Herr in den Salon seines Meisters, um sich rasieren und kleiden zu lassen, und als er redselig wurde, erwähnte er, einem feinen Mädchen in der Hamilton Street wiederbegegnet zu sein, von der er in der Nacht zuvor gewisse Gefälligkeiten erhalten hatte, und beschrieb gleichzeitig ihre Person. Der Friseur, der sie als seine Frau erkannte, schnitt dem Herrn, völlig wahnsinnig geworden, die Kehle von einem Ohr zum anderen auf und entwischte.”

Einige Verbinden die Geschichte von Sweeney Todd auch mit dem schrecklichen Fall von Sawney Bean, eines berüchtigten schottischen Kannibalen aus dem 16ten Jahrhundert. Meiner Meinung nach gibt es nichts, was Bean überzeugend mit unserem Barbier verbindet, außer vielleicht einer leichten Ähnlichkeit der Vornamen. Wenn Bean also tatsächlich der Mörder war, auf dem unsere Geschichte basiert, könnten wir Sweeney Todd überhaupt nicht als wahre Geschichte betrachten. Historiker haben die Legende von Sawney Bean längst entlarvt – was wir uns allerdings in einer anderen Folge etwas genauer ansehen werden.

War Sweeney Todd vielleicht ein Franzose?

Dies ist eine der Hypothesen, die aus mehreren Quellen gespeist wird. Es wurde vermutet, dass der Schriftsteller, der die Figur geschaffen hat, die Idee dazu bekam, als er mehrere ältere Ausgaben des Tell-Tale von 1824 durchging, wo er eine Geschichte über mehrere Verbrechen fand, die in der Rue de la Harpe (arp) in Paris begangen wurden. Diese Geschichte basiert auf einem früheren Bericht, der im Archiv der Pariser Polizei abgelegt wurde. Ich recherchierte selbst und ich fand tatsächlich ein Buch mit dem Namen “The Terrific Register: Or, Record of Crimes, Judgments, Providences, and Calamities”, das die gleiche Geschichte enthält wie das Tell-Tale, sozusagen Wort für Wort. Sie wurde 1925 veröffentlicht und enthält eine vollständige Darstellung der Verbrechen in der Rue de la Harpe, die ich im Folgenden zusammenfasse:

Zwei opulente Männer, begleitet von einem Hund, gingen in die Rue de la Harpe und betraten den Laden eines Frisörs, um sich rasieren zu lassen. Sie waren in Eile, also trennten sie sich, nachdem der erste Mann fertig war, der daraufhin einige Geschäfte in der Nachbarschaft erledigte, und danach zurückkommen wollte, bevor der Frisör mit seinem Freund fertig war. Als er jedoch zurückkam, informierte ihn der Frisör, dass sein Freund bereits gegangen sei. Dennoch blieb der Hund vor der Tür sitzen, also dachte der Mann, dass sein Freund nur für einen Moment weggegangen sein musste und bald zurückkehren würde. Das tat er nicht. Dann fing der Hund an zu jaulen und der Frisör bat den Mann, ihn zu entfernen. Er versuchte es, der Hund aber blieb hartnäckig. Mittlerweile hatte sich eine kleine Menge vor dem Laden versammelt und die Leute schlugen vor, hineinzugehen und nach dem verschwundenen Mann zu suchen. Als sie schließlich hineinstürmten, fanden sie niemanden. Der Frisör behauptete, er sei unschuldig, und in diesem Moment sprang ihm der Hund an die Kehle. Der Frisör wurde ohnmächtig, und er wäre gestorben, wenn man den Hund nicht angeleint hätte. Jemand schlug vor, das Tier freizulassen, um zu sehen, ob es seinen Besitzer finden könnte. Der Hund stürmte in den Keller. Bei näherer Untersuchung wurde eine Öffnung zum Nachbarhaus entdeckt, wo eine Konditorei lag. Und dort fanden sie die Leiche des vermissten Mannes. Während des Prozesses, bei dem auch die Besitzerin der Konditorei angeklagt wurde, gab der Barbier zu, dass er seine reichsten Kunden ermordete, um sie auszurauben. Die schreckliche Wahrheit wurde enthüllt.

Die Besitzerin der Konditorei, deren Laden so berühmt für herzhafte Pasteten war, dass die Leute aus den entferntesten Teilen von Paris in die Rue de la Harpe strömten, war die Komplizin dieses Halsabschneiders, und diejenigen, die vom Rasiermesser des einen ermordet wurden, wurden durch das Messer der anderen zu diesen Pasteten verarbeitet, mit denen sie – unabhängig von diesen Raubmorden – ein Vermögen verdient hatte.

Diese Geschichte wurde fast zwanzig Jahre vor der angeblich ersten Version von “The String of Pearls” auf englisch veröffentlicht. Daher müssen wir aufgrund der auffallenden Ähnlichkeit zu dem Schluss kommen, dass die Geschichte des teuflischen Barbiers aus der Fleet Street auf diesem oder einem ähnlichen Bericht basiert. Wenn die Fakten aus diesem Buch korrekt sind, hätten wir eine starke Basis, um Sweeney Todd als eine wahre Geschichte zu betrachten.

Aber – sind die Ereignisse in der Rue de la Harpe wirklich passiert? Ist Sweeney Todd eine wahre Geschichte, die zumindest teilweise auf diesen Verbrechen beruht? Es ist unwahrscheinlich, und ich habe noch keinen endgültigen Beweis dafür gefunden. Manche haben die Wahrhaftigkeit der Geschichte verteidigt, weil sie in den Memoiren aus den Archiven der Pariser Polizei von Fouché erschien, dem ersten Polizeipräsidenten der Stadt. Aber das Problem ist, dass kein anderes Dokument oder Register existiert, was angesichts der Art des Falles verdächtig erscheint.

Einige Quellen behaupten sogar, dass die Darstellung der Rue de la Harpe einer alten französischen Volkserzählung sehr ähnlich ist, die als “Geschichte des Barbiers und der blutigen Pastetenverkäuferin” aus dem Mittelalter bekannt ist. Theoretisch ist die Geschichte in einer alten Ballade nachweisbar, die folgendermaßen lautet:

Gegen Ende des 14. Jahrhunderts, das wissen wir,
da lebte dieser teuflische Barbier,
an einer Ecke in der Rue de Marmosette.
Er führte dieses schreckliche Handwerk fort
und niemand hielt ihn auf bei seinem Mord.
In seinem Keller machte er sie dann
bereit für die Arbeit nebenan.

Chor. Mit einem Kuchen, mit einem Wein, mit einem Gesang,
mit einem Kuchen, Wein, Gesang – Haha!

Die Geschichte erzählt uns auch genau
von seiner Komplizin, einer üblen Frau,
Kaltherziger als der schlimmste Landvogt.
Und all die armen Teufel, die er getötet hat
verwandelte sie in Fleischpasteten.

Und er sagte von seinen Kunden, als sie tot darniederlagen:
“Fort sind nun diese Schweinekreaturen”.

Obwohl viele Artikel im Internet sich auf diese Übersetzung beziehen, konnte ich die originale französische Ballade nirgendwo finden und niemand bietet eine seriöse Quelle dafür. Mir erscheint es auch seltsam, dass der Begriff “teuflischer Barbier” bereits in einer so frühen Version verwendet wird, und auch der Stil der Ballade ist mehr als ungewöhnlich.

In einem der Kapitel von Paul Févals “Le Vampire” wird die Rue de Marmosette vom Schriftsteller kurz erwähnt:

Paris hat schon immer Märchen geliebt, die ihr das köstliche Gefühl von Gänsehaut geben konnten. Als Paris noch sehr jung war, hatte es bereits viele Geschichten zu erzählen; von der schuldhaften Komplizenschaft zwischen dem Frisör in der Rue de Marmosette, vom Blutstrom der feinen Herren bis hin zu der galanten Metzgerei des Hauses in der Sackgasse Saint-Bernard, dessen abgerissene Mauern mehr menschliche Knochen als Steine beinhalten.

Le Vampire stammt jedoch aus dem Jahre 1865, als der Bericht über die Verbrechen in der Rue de la Harpe bereits veröffentlicht war, und hilft uns daher nicht viel.

Einer Quelle am nächsten kommt das, was in einem Buch über Sweeney Todd von Peter Haining enthalten ist. Dort heißt es, dass er ein Lied in einem Buch mit alten französischen Balladen, das 1845 veröffentlicht wurde, gefunden hat. Er nennt sogar den Namen des Herausgebers, einen gewissen M. Lurin, aber ich konnte keine Notiz über ihn oder über sein Werk finden. Angesicht der Kritik, die Hainings Buch – zumindest teilweise – für eine Erfindung ohne historische Fakten hält, ziehe ich es vor, vorsichtig zu bleiben.

Und zusammengefasst kommen wir zu dem Schluss, dass jedes Argument, das für Sweeney Todd als eine wahre Geschichte sprechen könnte, keine Berechtigung hat. Festzustellen ist, dass seit der viktorianischen Ära eine Tradition existiert, die dieses Geheimnis gerne lüften möchte. Ich schätze, dass viele Webseiten, die sich mit diesem Thema befassen, nur auf den Zug aufspringen möchten. Doch wer weiß, ob eines Tages nicht neue Beweise auftauchen werden. In der Zwischenzeit können wir noch das Penny-Dreadful-Original “The String of Pearls” und das Musical über Sweeney Todd von Steven Sondheim genießen, auf dem der Film von Tim Burton basiert. Schließlich ist jede einzelne Geschichte auf eine bestimmte Weise wahr.

Alan Bradley: Mord im Gurkenbeet (Flavia de Luce #1)

Die Streußel schmecken süß, jedoch
viel süßer schmeckt der Boden noch.”

Eines muss ich vorweg schicken: Wir haben es hier nicht definitiv mit einem Jugendroman zu tun, obwohl man sich natürlich glücklich schätzen kann, wenn Jugendliche diesen Roman lesen und auch genießen können. Sicher ist Flavia de Luce ein elfjähriges Mädchen, aber – wie wir gleich sehen werden – unterscheidet sie sich in fast jeder Hinsicht von dem, was man von einem 11-jährigen Mädchen erwarten kann. Tatsächlich ist die ganze Reihe vom Goldenen Zeitalter der Krimis durchtränkt, beeinflusst von der Wertschätzung des Autors für die Arbeit von Chesterton, Agatha Christie, Conan Doyle oder Dorothy L. Sayers. Das heißt, dass es sich um herrlich altmodische Krimis handelt, die mit einigen intellektuellen Seitenhieben aufwarten.

Random House

Die Entstehungsgeschichte des ersten Flavia de Luce-Romans “The Sweetness at the Bottom of the Pie”, der bei uns wieder einmal jeglicher Poesie beraubt wurde und in nichtssagender deutscher Tradition “Mord im Gurkenbeet” lautet, ist bereits ein kleines Phänomen. Der Kanadier Alan Bradley schrieb bis dahin hauptsächlich Drehbücher, bevor er auf die Idee kam, etwas anderes zu machen. Es war seine Frau, die im Radio davon erfuhr, dass die britische Crime Writers’ Association einen Romanwettbewerb veranstaltete. Es sollte – wie das nicht selten üblich ist – das erste Kapitel und ein Exposé eingereicht werden. Tatsächlich arbeitete Bradley 2006 gerade an einem Buch, das in den 1950er Jahren spielt, als sich die Handlung dahingehend entwickelte, dass ein Detektiv an einem Landhaus ankam und in der Einfahrt ein kleines Mädchen vorfand, das “auf einem Hocker saß und irgendetwas mit einem Notizbuch und einem Bleistift machte”. Dieses kleine Mädchen spielte im Roman gar keine wichtige Rolle, aber Bradleys Frau bestand darauf, dass er für den Romanwettberwerb den aktuellen Roman verwerfen und stattdessen das Zeug mit dem Mädchen auf dem Hocker an die Crime Writers’ Association schicken solle.

Bradley selbst erklärt:

“Sie tauchte auf der Seite eines anderen Buches auf, an dem ich gerade schrieb, und übernahm einfach die Geschichte”.

Ein Kanadier in England

Anfang 2007 nahm Bradley am Dagger-Wettbewerb teil und reichte fünfzehn Seiten über die Figur des “Mädchens auf dem Hocker” ein, die nun Flavia de Luce hieß. Diese Seiten, die in wenigen Tagen geschrieben und mehrere Wochen lang poliert wurden, sollten die Grundlage für “The Sweetness at the Bottom of the Pie werden”.

Bradley siedelte das Buch in England an, obwohl er noch nie da war. Das kommt bei Autoren aus Übersee allerdings häufig vor. Denken sie an einen Krimi, denken sie auch sofort an England. Mit diesem ersten Kapitel überzeugte Bradley die Jury sofort und gewann den renommierten Dagger für ein Debüt, das es noch gar nicht gab. Es kam zu einem Bieterkrieg, und am 27. Juni 2007 verkaufte Bradley dem Verlag Orion die Rechte für drei Bücher in Großbritannien. Im Alter von 69 Jahren verließ Bradley zum ersten Mal Nordamerika, reiste nach London und nahm den Dagger Award entgegen. Dann erst schrieb er den Roman fertig, der 2009 erschien und eine Flut von Lobpreisungen einheimste.

Bradley beschreibt das Thema als “jugendlichen Idealismus” und wie weit dieser Idealismus jemanden bringen kann, “wenn er nicht unterdrückt wird, wie es so oft der Fall ist”. Er erklärt:

“Wenn man in diesem Alter ist, hat man manchmal eine große, brennende Begeisterung, die sehr tief und sehr eng ist, und das ist etwas, das mich immer fasziniert hat – diese Welt der 11-Jährigen, die so schnell verloren geht.”

Der Tote im Gurkenbeet

Tatsächlich ist “Mord im Gurkenbeet” mittlerweile ein moderner Klassiker des Krimi-Genres. Vom ersten Absatz an webt Bradley auf brillante Weise ein Netz aus Mord und Privilegien um die Protagonistin und Detektivin Flavia de Luce. Dabei ist Flavia nicht die typische britische Nachkriegs-Teenagerin. Sie hat eine Leidenschaft für Gift – und für alles, was mit Chemie zu tun hat -, die sie im Labor von Buckshaw, ihrem Familiensitz im ländlichen England, kultivieren kann. Ihre neugierige und unabhängige Art scheint sie eher von ihrer verstorbenen Mutter geerbt zu haben als von ihrem distanzierten, philatelistischen Vater.

Cover der portugiesischen Ausgabe

Diese Fähigkeiten erweisen sich als nützlich, als ein Mann im Gemüsegarten der Familie de Luce stirbt, nur wenige Stunden nachdem ein toter Vogel mit einem ungewöhnlichen Gegenstand im Schnabel vor der Küchentür auftaucht: einer Briefmarke. Flavia bleibt nicht untätig, während sie sich Sorgen macht, dass ihr Vater – den sie am Abend zuvor mit dem getöteten Fremden in seinem Arbeitszimmer streiten hörte – oder sein verbissen loyaler Diener und Tausendsassa Dogger etwas damit zu tun haben könnten. Mit ihrem eigenwilligen Verstand und einigen zufällig aufgeschnappten Informationen von der Polizei beginnt Flavia mit ihren privaten Ermittlungen und beginnt, dieses Geheimnis von Weltklasse zu lüften.

Das Rezept für einen fesselnden Krimi

In einer Kleinstadt wie Bishop’s Lacey gibt es nur einen Ort, an dem ein Fremder eine Unterkunft suchen kann. Aber Flavias Nachforschungen verbreiten sich schnell über die ganze Stadt, als klar wird, dass dieser Fremde nicht nur dem Vater bekannt war. Sogar Mrs. Mullet, die klatschsüchtige Köchin, hat Informationen, die ihr helfen können. Auch sie entgeht Flavias Verdacht nicht, denn es könnte ihr Schmandkuchen gewesen sein, der zwar von allen Bewohnern Buckshaws gemieden wird, der aber durchaus dem Opfer das Gift verabreicht haben könnte.

Tatsächlich entgehen nur Flavias beide ältere Schwestern ihrem Verdacht: die siebzehnjährige Ophelia, “Feely” genannt und die dreizehnjährige Daphne, “Daffy” genannt. Es ist nicht die familiäre Loyalität, die sie schützt, eher das Gegenteil. Die Beziehung der Schwestern ist auf amüsante Weise bissig. Flavia ist zahlenmäßig unterlegen, aber in Sachen ausgeklügelter Streiche ziemlich listenreich.

Die meiste Zeit über tragen die älteren Schwestern jedoch einfach nur zur Handlung bei, indem sie die Familiendynamik aufbauen und mit Feelys ständigem Auftrumpfen und Daffys Lesesucht für eine nette Prise Komik sorgen. Die anderen Mitglieder des Haushalts, der Vater und Dogger, leiden beide noch unter den Narben des Zweiten Weltkriegs, der gerade fünf Jahre zurückliegt. Es ist dieses Trauma, das sie mit sich herumtragen, das Flavia am meisten beunruhigt, denn ihr Vater zeigt kurze Augenblicke seines früheren, selbstbewussten Wesens, wenn er gereizt wird, und Dogger ist dafür bekannt, dass er geistige Aussetzer hat … oder sogar Schlimmeres.

In der Zwischenzeit stehen Fremde und Bewohner gleichermaßen unter der Beobachtung von Inspektor Hewitt. Nachdem er Flavia am Tatort zunächst abgewiesen hat, erkennt der Inspektor schnell, wie kompetent Flavia ist… und auch, wie sehr sie sich in Gefahr begibt. Flavia geht dem Inspektor zielstrebig aus dem Weg, während sie der Spur durch staubige Bibliotheken und verfallene Stadthäuser, Süßwarenläden und ländliche Friedhöfe und sogar bis zur Polizeiwache selbst folgt. Hier wird die Besorgnis von Inspektor Hewitt um Flavia sehr deutlich. Überschattet wird dies von der Aufregung über einen Durchbruch in dem Fall, als der Vater, der den Mord gestanden hat, Flavia von seiner Vergangenheit erzählt und sich die Puzzleteile langsam zusammenfügen. Der Vater nimmt Flavia mit in seine Erinnerungen an seine Internatszeit, in der seine Liebe zu Briefmarken begann, und an die verschiedenen Figuren, die seine steinige Karriere an der Greyminster School prägten. Während seiner Schulzeit lernte er auch die Kunst der Zaubertricks kennen. Dort, wo sich diese beiden Interessen treffen, beginnt das eigentliche Geheimnis.

Nun tritt die Geschichte in ein neues, spannendes Stadium, da sie den Charakter eines “Cold Cases” annimmt. Und nicht nur ein “Cold Case”, sondern ein historisches, jahrhundertealtes Drama, in dem es um Arme, Könige und Briefmarken geht. Der Vater erzählt all diese Geschichten und auch seine eigene, während er in einer Zelle der örtlichen Polizei sitzt. Ein Teil der Geschichte handelt von den “Ulster Avengers”, Rächer von Ulster” genannt, einem Paar einzigartig eingefärbter schwarzer Penny-Briefmarken, die seit ihrem Druck vor einem Jahrhundert sehr begehrt sind. In Vaters Teil der Geschichte geht es um die mysteriösen Ereignisse eines verpfuschten Schülerstreichs, in den eben eine dieser Rächer von Ulster verwickelt war.

Flavia beginnt sofort mit ihren Nachforschungen in der Greyminster-Schule, wo die Stimmung immer bedrohlicher wird, während sie sich durch die verstaubten und verschimmelten Hinweise auf ein Jahrzehnte altes Verbrechen wühlt. Nach ihrer Rückkehr nach Hause kommt Flavia langsam, aber unaufhaltsam der Lösung des Rätsels auf die Spur, das sich durch die historischen und jüngsten Ereignisse zieht und in dem Mord im Gurkenbeet gipfelt. Wie eine Chemikerin, die eine besonders schwierige Verbindung sorgfältig destilliert, ist Flavia in der Lage, die wesentlichen Elemente von Ablenkungsmanövern zu unterscheiden.

Die Struktur der Erzählung ist tadellos, und Bradley ist ein Meister darin, Stimmung und Charakter zu erzeugen. Es scheint, als ob jeder Satz im Gesamtzusammenhang des Romans entstanden ist. Von den ersten Worten an verwendet er beispielsweise Farb-Metaphern, um die Erzählerin Flavia zu beschreiben.

Flavia selbst ist eine fabelhaft humorvolle und komplexe Figur. Ohne Mutter – oder, in vielerlei Hinsicht auch ohne Vater – ist sie einsam, obwohl sie nicht allein ist. Wenn man ihr dabei zusieht, wie sie ihre Unabhängigkeit behauptet und gleichzeitig Einblicke in ihre Verletzlichkeit erhält, kann man Doggers und Hewitts Beschützerinstinkt noch mehr erfassen. Es gibt eine Reihe von ergreifenden Momenten, in denen man an die Zerbrechlichkeit unter ihrer harten Schale erinnert wird.

Alan Bradleys “Mord im Gurkenbeet” ist ein Juwel von einem Buch, trotz des bescheuerten aber nicht ganz falschen Titels. In dieser raffinierten Geschichte finden sich immer wieder Wendungen, über die man staunen – und oft auch schmunzeln – muss. Mit Flavia de Luce hat Bradley einen neuen Archetypus der kriminalistischen Detektivin geschaffen, von der gerade jetzt, da die Reihe abgeschlossen ist – etwas auf Myrtle Hardcastle übergegangen ist, wenn auch in einer ganz anderen Weise.

Urban Fantasy (3) – Die Chronik der urbanen Fantasy

Dieser Artikel ist Teil 13 von 17 der Reihe Fantasy-Literatur

Dies ist die dritte Sendung zum Thema Urban Fantasy. Die anderen finden sich hier, hier und hier. Außerdem ist diese Trilogie ein Teil der weitaus größeren Artikel-Reihe mit dem Titel “Die Geschichte der Fantasy“.

Im vorherigen Beitrag sprachen wir über die ersten Autoren, die sich in den 80er und 90er Jahren in das Neuland der urbanen Fantasy wagten: Charles de Lint, Emma Bull, Laurell K. Hamilton, Neil Gaiman und andere. Nun wollen wir sehen, wie sich die urbane Fantasy im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts entwickelt hat.

Kinderbücher, Jugendbücher und neue Belletristik für Erwachsene

In den 90er Jahren wurden urbane Fantasy-Bücher hauptsächlich für Erwachsene geschrieben. J.K. Rowling änderte das, indem sie urbane Fantasy-Themen in ihre Harry-Potter-Serie integrierte. Die Grundidee der Serie ähnelt derjenigen, mit der Neil Gaiman in Niemalsland gespielt hat, nämlich der Koexistenz zweier Realitätsebenen, einer technologischen und einer magischen . Man kann sogar sagen, dass Harry Potter und der Stein der Weisen (1997) ein Niemalsland für Kinder und Jugendliche ist.

Jugendliteratur (auch „Young Adult“ genannt) hat sich in den 2000er Jahren massiv mit urbaner Fantasy auseinandergesetzt. Twilight (2005) von Stephenie Meyer war ein großer kommerzieller Erfolg, trotz der erheblichen Schwächen des Romans (oder vielleicht wegen dieser Schwächen). Kurz darauf startete Cassandra Clare ihre Chroniken der Unterwelt mit City of Bones (2007). Seitdem hat sich die Urban Fantasy für Kinder u. Jugendliche in den Regalen jeder Buchhandlung festgesetzt und sich zu einem der kommerziell erfolgreichsten Genres der Geschichte entwickelt.

Die neueste Entwicklung ist die Entstehung der sogenannten „New Adult“-Literatur, die sich an Erwachsene zwischen 18 und 30 Jahren richtet. Dieses Genre ähnelt der Jugendbelletristik, enthält aber etwas ältere Protagonisten (Ende der Pubertät und Anfang der Zwanziger) und manchmal auch erwachsenes Material, aber nicht immer. Mit Lev Grossmans Fillroy – Die Zauberer startete 2009 eine neue erwachsene Urban Fantasy, und dieses Subgenre gewannt schnell an Dynamik. Die Zauberer wurde als der Harry Potter für Erwachsene beworben, aber dieser Roman ist nicht nur ein Harry Potter-Abklatsch. Dennoch besteht der Hauptunterschied darin, dass dieser Roman nicht vor erwachsenen Themen zurückschreckt.

Detektive des Übersinnlichen: Wenn Hardboiled auf Fantasy trifft

Detektive und Privatdetektive, die sich mit unerklärlichen, paranormalen Ereignissen beschäftigen, sind kein neues Thema in der Literatur. Eigentlich waren die allerersten Bücher, die sich mit diesem Thema befassten, keine Belletristik, sondern Hexenjägerhandbücher. Das berühmteste von ihnen war der „Hexenhammer“ Malleus Maleficarum, der 1486 von Heinrich Kramer, einem deutschen Geistlichen, geschrieben wurde. Auch das Thema der Detektive, die mit Hilfe von Magie Verbrechen aufklären, ist nicht neu. Als Subgenre der Kriminalliteratur lässt sich die okkulte Detektivliteratur bis in das 19. Jahrhundert zurückverfolgen.

Fitz James O’Briens Harry Escott in „A Pot of Tulips“ (1855)
Sheridan Le Fanus Dr. Martin Hesselius in “Grüner Tee” (1869) und “In a Glass Darkly” (1872)
Bram Stokers Dr. Abraham Van Helsing in Dracula (1897).
In den 1990er Jahren waren Fantasy und hartgesottene (Hardboiled) Noir-Detektivgeschichten völlig unterschiedliche Genres und schienen nichts gemeinsam zu haben. Fantasy-Geschichten wurden in sekundären, vorindustriellen Welten angesiedelt, in denen Magie zum Alltag gehörte. Noir-Detektivgeschichten spielten in modernen Metropolen und waren mit den sozialen Brennpunkten der Großstädte verwurzelt. Versuche, diese beiden Genres zu verschmelzen, wurden manchmal mit Erfolg unternommen, wie das Beispiel der Hellblazer-Comics zeigt. Das fantastische Noir blieb jedoch ein relativ kleines Genre, bis Jim Butcher es neu erfand.

Könnt ihr euch eine Kreuzung zwischen Sam Spade und Gandalf vorstellen?

„Harry Dresden – Magier. Suche verlorene Gegenstände. Paranormale Ermittlungen. Beratung und Ratschläge. Erschwingliche Honorare. Keine Liebestränke, keine unerschöpflichen Geldbörsen, keine Partys, keine sonstigen Unterhaltungsveranstaltungen.“

Jim Butcher ist der MacGyver der Fantasy. In „Sturmnacht“ (2000) kombinierte er zwei unterschiedliche Genres zu etwas Neuem und Funktionalem: Die Detektivgeschichten verbindet sich mit Sword & Sorcery. Im Gegensatz zu MacGyver setzte Butcher seine Fähigkeiten jedoch nicht dazu ein, um für Gerechtigkeit zu sorgen, sondern um eine kommerziell erfolgreiche Serie urbaner Fantasy zu schreiben: “Die dunklen Fälle des Harry Dresden”. Wie die meisten Bestseller werden seine Bücher niemanden auf intellektueller Ebene herausfordern, aber sie werden jeden gründlich unterhalten. Meines Wissens ist Butcher der kommerziell erfolgreichste Autor im Genre der urbanen Fantasy. Fünf seiner Bücher belegten den ersten Platz der New York Times Bestsellerliste. Nur wenige Schriftsteller schafften so etwas.

Die Dresden-Files weisen viele Ähnlichkeiten mit Anita Blake auf, es gibt aber auch einige signifikante Unterschiede. Insbesondere die fiktiven Universen sind ganz anders aufgebaut. Die Dresden-Files beziehen sich stärker auf den Hardboiled-Kriminalroman, aber auch auf Sword & Sorcery. In der Serie Anita Blake drehen sich die Geschichten oft um Vampire und andere Untote und ihren Machtkampf. Der andere wichtige Unterschied ist die Entwicklung der Serie, da Anita Blake sich in Richtung paranormaler Romantik und Erotik bewegt, während die Dresden-Files fest im übernatürlichen Detektiv-Genre verwurzelt blieben.

Findest du es lustig, gegen Dämonen zu kämpfen?

Urbane Fantasy-Romane haben oft einen leichten, lässigen Ton. Humor ist omnipräsent, unabhängig davon, wie düster und dramatisch die Geschichte ist. Wir sehen es bereits in Moonheart (1984) von Charles de Lint, sowie in anderen frühe Beispielen urbaner Fantasy. Bittersüße Tode (1993) von Laurell K. Hamilton beginnt so:

Willie McCoy war ein Idiot, bevor er starb. Dass er tot war, hatte daran nichts geändert.

Während einige Urban Fantasy-Autoren einen relativ ernsten Ton anlegten (z.B. Kelley Armstrong in Die Nacht der Wölfin, Patricia Briggs in Moon Called), zögerten andere nicht, ihren Geschichten eine gute Portion Humor hinzuzufügen. Einige Passagen aus Sturmnacht kommen mir in den Sinn, z.B. wenn Harry Dresden mit Bob, einem Geist reinen Intellekts, der einen menschlichen Schädel bewohnt, diskutiert. Auch Neil Gaiman verfolgt in seinen Büchern einen augenzwinkernden Ansatz. “Ein gutes Omen” (Good Omens: The Nice and Accurate Prophecies of Agnes Nutter, Witch), 1990 zusammen mit Terry Pratchett geschrieben, ist eine Komödie des Übersinnlichen, die den Glauben an die biblische Apokalypse verspottet. Niemalsland (1996) strotzt ebenfalls vor humorvoller Dialoge, und die Bösewichte der Geschichte sind ebenso urkomisch wie finster.

Starke Frauen als Heldinnen

Die überwiegende Mehrheit der urbanen Fantasy-Romane zeigt willensstarke weibliche Protagonistinnen. Die einzigen Ausnahmen, die ich kenne, sind die Dresden-Files und Fillroy – Die Zauberer, beide von männlichen Autoren geschrieben, was nicht gerade überraschend ist.

Anita Blake ist eine ikonenhafte Figur, der Prototyp einer knallharten Heldin (siehe meinen vorherigen Beitrag zur Geschichte der urbanen Fantasy). Sie ist unabhängig, zielstrebig, mutig und in der Lage, sich zu verteidigen. Um das Ganze noch zu toppen, ist sie eine risikofreudige und adrenalinsüchtige Frau. Sie lässt sich von niemandem etwas gefallen und gerät wegen ihrer trotzigen Haltung oft in Schwierigkeiten. Unzählige urbane Fantasy-Heldinnen würden in dieses Profil passen: Elena Michaels (in der Otherworld-Serie von Kelley Armstrong), Mercy Thompson von Patricia Briggs), Rachel Morgan von Kim Harrison, Kate Daniels von Ilona Andrews), Selene (in der Underworld-Filmreihe) und so weiter.

Einige weibliche Protagonistinnen sind femininer und verletzlicher, aber auch sie haben eine starke Persönlichkeit, zum Beispiel Sookie Stackhouse (Buchreihe von Charlaine Harris und TV-Serie True Blood) oder MacKayla Lane, genannt Mac (Fever-Serie von Karen Marie Moning). Sie können aussehen wie Barbie-Puppen, aber sie wissen, was sie wollen, und sie bekommen, was sie wollen. In Im Bann des Vampirs gibt die 22-jährige Mac ihre verschwenderische Lebensweise in Ashford, Georgia, auf und reist nach Dublin, um den Mord an ihrer Schwester zu untersuchen. Ohne Detektivausbildung und ohne Hilfe der Polizei ist es nicht verwunderlich, dass sie schnell in Schwierigkeiten gerät. Doch sie weigert sich, nachzugeben. Einige würden sagen, sie sei mutig und entschlossen, andere würden sie als stur oder hitzköpfig bezeichnen. Wie immer man das sieht.

Das Thema weiblicher Emanzipation ist in der Literatur nicht neu. Die frühesten Beispiele, die ich kenne, sind Schauerromane vom Ende des 18. Jahrhunderts (siehe Ursprünge der Urban Fantasy). Interessanterweise erschien im selben Zeitraum (1792) Verteidigung der Frauenrechte von Mary Wollstonecraft, eines der frühesten Werke feministischer Philosophie. Wie ich bereits in meinem vorherigen Beitrag dargelegt habe, ist die urbane Fantasy das Äquivalent der Gothic Novel des 21. Jahrhunderts, in dem Sinne nämlich, dass diese beiden Genres viel gemeinsam haben. Die urbane Fantasy erlaubt es uns jedoch, das Problem der Frauenrechte aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten.

Werwolf-Geschichten sind in diesem Zusammenhang interessant, zum Beispiel Bitten von Kelley Armstrong, Moon Called von Patricia Briggs oder Kitty and the Midnight Hour von Carrie Vaughn. Sie zeigen weibliche Werwölfe oder Gestaltwandlerinnen und stellen ihre komplexen Beziehungen zu den Werwolf-Clans dar, zu denen sie gehören. Geschlechterrollen, Emanzipation, Homophobie, Autorität und Autoritätskonflikte – es gibt viel zu sagen über Werwolf-Geschichten.

Geht es nur um Sex?

Urban Fantasy hat den Ruf, attraktive Protagonisten, denen sinnliche Genüsse nicht fremd sind, mit ebenso attraktiven Partnern des anderen Geschlechts zu präsentieren. Der Grund dafür ist einfach. Von Anfang an wurde urbane Fantasy eng mit paranormaler Romantik verbunden, obwohl nicht alle urbanen Fantasy-Geschichten Romantik enthalten. Die meisten von ihnen tun das, und ich sehe das nicht als Problem. Wer genießt nicht eine gute Liebesgeschichte?

Das Problem ist, dass sich Romantik in manchen urbanen Fantasy-Geschichten erzwungen anfühlt. Eine alte Vampirin verliebt sich plötzlich in einen Menschen. Warum? Weil es praktisch ist, das ist alles. Ich denke zum Beispiel an die Underworld-Serie. Im ersten Film verliebt sich Selene in Michael Corvin. Warum fühlt sie sich zu ihm hingezogen? Was macht ihn so besonders?

Dreiecksbeziehungen sind auch in der zeitgenössischen Fantasy weit verbreitet. Das kann eine mächtige Erzählstrategie sein, wenn das Thema intelligent eingesetzt wird. In Bitten von Kelley Armstrong enthüllt die Dreiecksbeziehung zwischen Elena, den Protagonisten Phillip (einem Menschen) und Clay (einem Werwolf), die Dualität von Elenas Persönlichkeit. Sie ist ein Werwolf, der versucht, ein normales, menschliches Leben zu führen. Ihr Freund Philip weiß nicht, wer sie wirklich ist. Ihre Liebe zu Phillip rührt von ihrer Verbundenheit mit der Menschheit her und ihrem Wunsch, sich von ihrem Rudel zu emanzipieren. Ihre Sehnsucht nach Clay hingegen kommt von ihren fleischlichen, tierischen Instinkten. Mit anderen Worten, der Mensch in ihr liebt Phillip, während der Wolf in ihr Clay liebt. Welche Seite ihrer Persönlichkeit wird gewinnen? Lesen Sie das Buch, um es herauszufinden!

Eskapismus oder eine andere Sichtweise auf die Realität?

Urbane Fantasy – wie die meisten Fantasy-Subgenres – betont Heldentum und persönliche Leistung. In urbanen Fantasy-Geschichten werden gewöhnliche Menschen jedoch oft in übernatürlichen Machenschaften gefangen gehalten. Wie ich in meinem vorherigen Beitrag schrieb, mag die urbane Fantasy ein eskapistisches Genre sein, aber dies ist ein zweideutiger Eskapismus, der uns immer wieder in die Realität zurückbringt.

Für mich ist der interessanteste Aspekt der urbanen Fantasie, wie dieses Genre mit dem Thema Dualität umgeht. Realität versus Fantasie, Modernität versus Tradition, Technologie versus Magie, Intellekt versus Instinkt. Dualität scheint der Kern jeder urbanen Fantasy-Geschichte zu sein. Die Gegensätze konkurrieren miteinander, um sich besser zu ergänzen. Ein gutes Beispiel für die Yin-Yang-Theorie, oder etwa nicht?

Dunkelschnee

Samuel Bjørk: Dunkelschnee (Munch & Krüger #0)

Der vierte Roman der norwegischen Munch-Reihe, der mit “Wolf” übersetzt werden kann, bei uns aber “Dunkelschnee” genannt wird, ist eigentlich ein Prequel zu den laufenden drei Romanen, oder besser: es ist der Roman, der erzählt, wie Mia Krüger zum Team von Holger Munch stieß, und damit eigentlich der erste Band der Reihe.

Der 2015 veröffentlichte und bei uns 2018 erschienene Debüt-Thriller “Engelskalt” von Samuel Bjørk (ein Pseudonym für Frode Sander Øien), war ein sofortiger Erfolg und markierte seinen internationalen Durchbruch als Autor, nachdem er als Musiker mehrere Alben veröffentlich hatte.

Inzwischen ist die laufende Serie in mehr als 20 Ländern erschienen und wird gegenwärtig auch verfilmt.

“Dunkelschnee” erschien jetzt mit einem Jahr Verspätung im Juli bei Goldmann und stellt die Vorgeschichte zu den drei vorherigen Büchern dar.

In einem Vorort von Oslo sind zwei 11-jährige Jungen ermordet worden, und neben den beiden Leichen wurde ein toter Rotfuchs gefunden. Der Fall ähnelt einem anderen ungelösten Fall aus Schweden.

Holger Munch ist Leiter einer neuen Ermittlungseinheit und hat ein Team der besten Detektive zur Verfügung. Dann erhält er einen Anruf von der Polizeischule. Sie haben eine außergewöhnlich begabte Schülerin, die in ihren Tests die besten Ergebnisse erzielt hat: Mia Krüger. Munch zeigt der jungen Mia Krüger Fotos von beiden Tatorten. Innerhalb weniger Minuten sieht sie Dinge, an die sein Team nicht einmal gedacht hat.

Trotzdem ist es nicht einfach, die Identität des Mörders zügig zu ermitteln.

Der Leser hat Holger Munch und Mia Krüger bereits in drei vorangegangenen Krimis kennengelernt, aber in diesem Prequel liefert Bjørk noch viel mehr Hintergrundinformationen über sie. Man erfährt unter anderem, warum Krüger in Munchs neu gebildetes Team aufgenommen wurde. Auch Fredrik Riis, einem der Ermittler der Einheit, wird relativ viel Aufmerksamkeit zuteil. Daher kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass eine ausführliche Einführung der Charaktere hier das eigentliche Hauptziel des Autors ist. Das Verbrechen, das natürlich trotzdem gelöst werden muss, ist demgegenüber etwas untergeordnet, was die ganze Angelegenheit aber reizvoll macht.

“Dunkelschnee” beginnt mit einem kurzen Prolog, der sich wie der zusammenfassende Bericht über den Tod von zwei 11-jährigen schwedischen Jungen acht Jahre zuvor liest.

Abgesehen davon, dass diese Einleitung so geschrieben ist, dass es so aussieht, als hätten die Morde tatsächlich stattgefunden, weckt sie die Neugier darüber, was dieser Vorfall mit dem Rest der Handlung zu tun hat. Das wird schnell klar, denn der norwegische und der schwedische Fall haben viele Gemeinsamkeiten. Die polizeilichen Ermittlungen kommen in Gang, und eine Vielzahl von Figuren und Handlungssträngen werden eingeführt. Bei manchen weiß man erst nicht so recht, was sie denn mit der Geschichte zu tun haben, aber schließlich fügen sie sich in die Handlung ein und der Leser versteht ihre Logik und ihren Zweck.

Trotz einiger unerwarteter Entwicklungen, die im Laufe der Geschichte auftreten und die einen manchmal auf eine falsche Fährte führen, ist die Spannung hier nicht ganz so hochgedreht wie man das vielleicht von einem nordischen Thriller erwartet, wobei es sich hier doch eher um einen Krimi der Abteilung Police Procedural handelt, zumindest zu einem großen Teil.

Man kann hier bereits erkennen, dass der Roman auf den Film schielt, der ganz sicher eines Tages folgen wird, sollte die geplante TV-Serie funktionieren. Wie bei allen Romanen, die das tun, bleibt hier natürlich die Sprache auf der Strecke. Das ist nicht Samuel Bjørks Versagen, sondern ist dem Genre ganz allgemein geschuldet. Angepasst an die “Echt-jetzt-whatever-Generation” versuchen solche Geschichten natürlich eine Realitätsnähe aufzubauen, die man nachvollziehen kann. Aber bereits hier ist zu sehen, dass es sich wahrscheinlich mehr lohnt zuzuschauen als zu lesen.

Obwohl sich das jetzt nicht gerade positiv anhört, ist die Reihe und auch dieses Buch durchaus zu empfehlen. Man darf nur nicht vergessen, dass man einige Abstriche machen muss.

Erschienen bei Goldmann.

Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs

Originaltitel: Ulven

Paperback , Klappenbroschur, 560 Seiten, 13,5 x 20,6 cm

ISBN: 978-3-442-49285-5

Elizabeth C. Bunce: Mord im Gewächshaus (Myrtle Hardcastle #1)

Ich wage mich bestimmt nicht zu weit aus dem Fenster wenn ich behaupte, dass ich eher nicht zum typischen Zielpublikum für ein Kinder- oder zumindest Jugendbuch gehöre, in dem ein zwölfjähriges Mädchen als Ermittlerin fungiert. Wenn man allerdings bedenkt, dass ich jeder guten Geschichte hinterher jage, die es verdient, gelesen zu werden, ein Faible für den englischen Krimi habe – für das Englische überhaupt -, und mich am liebsten im Zeitalter der viktorianischen Gaslaternen herumtreibe, dann wird vermutlich klar, warum ich mich auch für die Ermittlungsarbeit der Myrtle Hardcastle interessieren könnte, einer brillanten jungen Dame aus gutem Hause, ins Leben gerufen von der amerikanischen Schriftstellerin Elizabeth C. Bunce.

Natürlich ist Myrtle nicht die erste jugendliche Detektivin, das war “New York Nell”, die in den 1880er Jahren ihre Fälle als Junge verkleidet löste. Es folgte Nancy Drew, die in den 30ern von Edward Stretemeyer erschaffen wurde. 1948 kam dann Trixie Belden hinzu, und nicht vergessen werden darf Enola Holmes, die jüngere Schwester von Sherlock Holmes, die seit 2006 von sich reden macht. (Diese Reihe ist übrigens auch beim Verlag Knesebeck erhältlich). Es gibt noch zahlreiche andere sogenannte Mädchendetektive, wobei mir das Wort nicht gefällt. Es sind Detektivinnen mit einer feinen Spürnase und einer erfrischenden Intelligenz. Tatsächlich sind sie immer die klügsten Personen im Raum, und ihre waghalsigen Heldentaten haben es Mädchen ermöglicht, Identitäten zu erforschen, die im wirklichen Leben kaum erreichbar sind.

Myrtle Hardcastle, Detektivin im viktorianischen England

Und auch wenn Myrtle Hardcastle nicht die erste und einzige Detektivin ist, ist sie etwas Besonderes, was gleich der erste Teil der Serie mit dem Titel “Mord im Gewächshaus” beweist. Während ich dies hier erzähle hat Elizabeth C. Bunce bereits den fünften Roman fertiggestellt und der dritte erscheint bei uns im Oktober. Hier war es unmöglich, die Titel auch nur halbwegs beizubehalten, weil Bunce den Namen ihrer Heldin in Wortspiele einbindet wie “How to Get Away with Myrtle” oder “Cold-Blooded Myrtle”. Die klassische deutsche Titelei wie “Mord im Gewächshaus” oder “Mord im Handgepäck” sind da die richtige Wahl. Auch die Covergestaltung geht in Ordnung, obwohl sie natürlich nicht so schön ist wie das Original, aber das ist ohnehin selten der Fall.

Myrtle Hardcastle

Grundsätzlich sind in Kinderbüchern die Erwachsenen nur Beiwerk, damit die kindliche Hauptfigur die Handlung anführen kann. Bunce hat diesen Grundsatz auf nette Weise umgedreht, und so fühlt sich Myrtle in der Gesellschaft von Erwachsenen viel wohler als in der von Menschen ihres Alters.

Das liegt nicht nur daran, dass sie frühreif ist, sondern auch daran, dass sie Probleme mit sozialen Kontakten hat. Die Erwachsenen in ihrem Leben verzeihen ihr das eher als die “idealen” jungen Damen, mit denen sie verkehrt, oder – ginge es nach ihrem Vater – verkehren sollte. Das ist gut zu lesen, denn wäre Sherlock Holmes ein geselliger Mann gewesen, wäre er wohl nie zu dem geworden, was er ist. Es ist gut, jemandem zu sagen, dass es im Grunde klug ist, sich nicht mit der Masse gleichzusetzen. Wie wir wissen, ist Intelligenz nicht gern gesehen, schon gar nicht bei Mädchen im viktorianischen England.

Mord im Gewächshaus

Wir schreiben also das Jahr 1893, als wir Myrtle Hardcastle zum ersten Mal begegnen. Die Erwartungen, die an eine junge Dame aus gutem Hause gestellt werden, nimmt sie nicht besonders ernst. Schließlich gibt es Wichtigeres zu tun. Sie ist geradezu besessen von Verbrechen, Kriminalistik und Toxikologie – Interessen also, die angesichts der Tatsache, dass sie die Tochter eines Staatsanwalts und einer (inzwischen verstorbenen) Medizinstudentin ist, nicht überraschen dürften, aber zumindest unziemlich sind.

Peony (borg.com)

Myrtles ultimativer Traum ist es, eine Ermittlerin wie Sherlock Holmes zu werden (tatsächlich wird sie später auch einen Deerstalker-Hut auf ihrem Kopf tragen); und als sie ihrer täglichen Routine nachgeht – nämlich mit einem Teleskop die Nachbarschaft observieren, anstatt den Sternenhimmel zu betrachten – bemerkt sie, dass im Nachbarhaus bei Miss Wodehouse etwas nicht stimmt, weil sich dort nichts rührt, und auch die Katze Peony ist nirgendwo zu sehen. Myrtle verständigt die Polizei und tatsächlich wird Miss Wodehouse tot in ihrer Badewanne gefunden. Sofort ernennt sich Myrtle zur Chefermittlerin. Oder besser gesagt, zur einzigen Ermittlerin, denn abgesehen von ihrer Gouvernante, Miss Ada Judson, ist die einhellige Meinung der Beamten (einschließlich ihres Vaters) die, dass die exzentrische Blumenzüchterin an einem Herzinfarkt gestorben sei.

Myrtle weiß es jedoch besser. Und Miss Judson vertraut auf Myrtles forschenden sechsten Sinn, denn für die seltenen Lilien, die Miss Wodehouse züchtete, würden viele Menschen alles tun. Sogar einen Mord begehen.

Als ein Duo hinterhältiger Erben auf den Plan tritt, ist Myrtle davon überzeugt, dass es ihre öffentliche Pflicht ist, deren Hintergedanken und mögliche Beteiligung an Miss Wodehouses vorzeitigem Tod gründlich zu untersuchen; doch damit bringt sie sich und ihre Lieben in große Gefahr.

Grundlagen der Detektion

Man könnte dem Buch vielleicht vorwerfen, etwas zu lang geraten zu sein, obwohl es das mit 334 Seiten gar nicht ist. Liest man – abgesehen von Jugendbüchern – andere Cozy Crime Mystery, d.h. sogenannte “gemütliche Krimis”, fällt schnell auf, dass “Mord im Gewächshaus” im Ton und in der Konzeption mit der Erwachsenenliteratur locker mithalten kann. Eine gewisse Alterslosigkeit unterscheidet dann auch ein gutes Jugendbuch von einem sehr guten Jugendbuch. Jedes Kapitel beginnt mit einem Auszug aus Myrtels eigenem Handbuch “Die Grundlagen der Detektion”, und Fachbegriffe oder besondere Accessoires ihrer Zeit erläutert sie auf ihre besondere prägnante Art in Form einiger Fußnoten.

Und natürlich befinden wir uns hier nicht im Sündenpfuhl von London. Wir bekommen dafür aber eine liebevolle Figurenzeichnung, die zwar die viktorianische Großkulisse außen vor lässt, aber genug Eigenheiten und Spezifikationen aufbietet, damit wir wissen, mit welchen Gesellschaftskonventionen wir es zu tun haben.

Da ist natürlich die Hauptfigur Myrtle selbst, die sowohl klug als auch witzig ist.

Sie studiert Toxikologie-Lehrbücher, verhört Verdächtige und tut das Einzige, was eine junge Dame von Format niemals tun sollte: Sie geht nach Einbruch der Dunkelheit allein nach draußen. Myrtle Hardcastle mag zwar nur ein zwölfjähriges Mädchen sein, aber sie ist nicht der Typ, der tatenlos zusieht, wie erwachsene Männer eine Mordermittlung verpfuschen.

Dann ist da noch die stets geduldige und ermutigende Ada Judson, die stark an Ole Golly aus Louise Fitzhughs zeitlosem Klassiker “Harriet – Spionage aller Art” erinnert. Besondere Erwähnung verdienen auch Mr. Blakeney, ein unterhaltsamer Anwalt in der Ausbildung, und “Köchin” (tatsächlich ist ihr Beruf auch gleichzeitig der Name, mit dem sie von jedem bedacht wird), die im Laufe der Geschichte immer wieder ihre Stärke unter Beweis stellt. Und es wäre falsch, die eigenwillige Katze Peony (der englische Begriff für Pfingstrose) nicht zu erwähnen, die inzwischen von Myrtle adoptiert wurde und bei den Ermittlungen tatkräftig mithilft. Sie liefert sogar den entscheidenden Hinweis, wenn man es recht bedenkt.

Elizabeth C. Bunce gewann 2021 mit diesem Buch den Edgar der Mystery Writers of America im Sektor “Bestes Jugendbuch”. Das sollte Anreiz genug sein, sich ins Abenteuer zu stürzen.

Der “Edgar” für das beste Jugendbuch 2021

Erschienen sind die Abenteuer von Myrtle im Verlag Knesebeck, von dem ich hier das Rezensionsexemplar vorliegen habe, um schnell aufzuschließen, wenn im Oktober der dritte Band “Das Geheimnis des Glockenturms” erscheint.

Elizabeth C. Bunce
Mord im Gewächshaus
Ein Myrtle Hardcastle Krimi
Gebunden, 320 Seiten,
aus dem Englischen von Nadine Mannchen
Preis € 16,- [D] 16,50 [A]
ISBN 978-3-95728-486-0

Der Thriller – Die reine Sensation

Das uns allen vertraute Genre des Thrillers zeichnet sich durch seine Ungewissheit und die ständige Erregung der Sinne aus, die zusammen ein gemischtes Gefühl von Beklemmung und Verwunderung erzeugen, durchsetzt mit Furcht und sogar Angst. Diese Bandbreite an Gefühlen und Erfahrungen wird durch eine unvorhersehbare Handlung erreicht, bei der der Leser (oder Zuschauer) die Folgen eines Ereignisses abschätzt. In der Regel steigert sich die Spannung in einem Thriller, sobald sich die Geschichte dem Höhepunkt nähert, gefolgt von einem unvergesslichen Ende.

Dank der nervenaufreibenden Elemente wie Spannung und Verbrechen, Verschwörung und Rache gehört der Thriller seit jeher zu den kreativen Genres (das betrifft nicht nur die Literatur), die die Aufmerksamkeit des Publikums über viele Jahrhunderte hinweg fesselten. Bei der Erwähnung des Wortes Thriller denken viele wahrscheinlich an Alfred Hitchcock und seine herausragenden Filme, zum Beispiel “Psycho”. Die Geschichte des Genres reicht jedoch weit in die Antike zurück.

Der Begriff “Thriller”

Wenn wir uns zunächst die Herkunft des Wortes “Thriller” ansehen, dann stoßen wir bereits im frühen 14. Jahrhundert auf das altenglische Wort þyrlian, das “durchlöchern” “oder durchstechen” bedeutet. Der Begriff þyrel bedeutete im Mittelenglischen etwa “Nasenloch”. Und dann gibt es noch den Begriff þurh, der “durch” bedeutet, vergleichbar dem mittelhochdeutschen “dürchel”, der ebenfalls “durchbohrt” oder “durchlöchert” bedeutet. Der Begriff “ein zitterndes, erregendes Gefühl geben” ist erstmals in den 1590er Jahren mit dieser Bedeutung belegt, und der Hintergrund ist die metaphorische Vorstellung davon, etwas “mit Gefühl zu durchdringen”.

In erster Linie ist dieses Genre also für das erzeugen emotionaler Intensität bekannt. Das Fehlen von Informationen, die erzeugte Angst, das Geheimnisvolle – all das ist in diesem Genre vorhanden. Die Hauptfigur hat eine schwierige Aufgabe zu erfüllen, die eine heldenhafte Anstrengung oder ein Opfer erfordert, um sie zu vollenden.

Die Spannung kann im Laufe des Buches zunehmen oder den Leser von der ersten Seite an ergreifen. In jedem Fall muss das Werk die meiste Zeit über spannend bleiben. Aber das Hauptmerkmal eines jeden Thrillers ist seine Intensität, die den Leser buchstäblich zu einem wahren Reiten auf den Wellen der Intrigen und Leidenschaften veranlasst.

Oft ist das Versprechen eines ausgezeichneten Thrillers nicht nur das hohe Können des Autors, sondern auch eine gründliche Recherche des Themas und eine verwickelte und fesselnde Handlung, die direkt im Wort selbst steckt: es soll ein zittern und beben im Leser ausgelöst werden.

Dies kann im Grunde als Hauptziel des Thrillers angesehen werden. Darüber hinaus liefert der Thriller aber auch oft recht detaillierte Informationen über sein eigenes Setting, zum Beispiel über das Rechtssystem, das medizinische System, die Geschichte der Spionage usw. Es gibt also Autoren, die auf der Grundlage ihrer medizinischen oder militärischen Erfahrung Romane mit einem komplizierten und faszinierenden Plot erschaffen.

Ein Thriller ist kein Krimi

Sehr oft werden Krimis mit Thrillern verwechselt, aber es gibt einen offensichtlichen Unterschied zwischen diesen beiden Genres. In Krimis stößt die Hauptfigur auf ein Rätsel (z. B. einen Mord) und muss Hinweise finden, um die Lösung zu finden. Im Thriller wird die Hauptfigur mit einer schrecklichen Situation konfrontiert (eine drohende Katastrophe, Serienmörder, unbekannte Viren usw.), deren Lösung in der Entwicklung neuer Fähigkeiten und Fertigkeiten besteht.

Im Thriller liegen alle Hinweise auf der Hand, so dass der Leser eher steile Wendungen der Handlung erwartet als ungewöhnliche Antworten auf Fragen. Thriller berühren die Gefühle des Publikums in erheblichem Maße, während Detektive die Verbindung mit der intellektuellen Seite des Falles erfordern.

Thriller zeichnen sich durch Spannung aus – ein Gefühl von angenehmer Faszination und Aufregung über das, was als Nächstes kommt, gemischt mit Befürchtungen, Vorfreude und eben manchmal sogar Angst. Diese Gefühle entwickeln sich im Laufe einer Erzählung aus unvorhersehbaren Ereignissen, die den Leser oder Zuschauer dazu bringen, über die Konsequenzen der Handlungen bestimmter Figuren nachzudenken. Die spannungsgeladenen Gefühle steuern auf einen Höhepunkt zu, der mit Sicherheit in Erinnerung bleiben wird.

Dabei ist das Genre keineswegs ein modernes.

Die Evolution der Thriller

Die Odyssee von Homer gilt als einer der frühesten Prototypen des Genres und verwendet ähnliche Techniken wie die modernen Thriller von heute. Der Held dieses Epos, Odysseus, macht sich auf die Heimreise zu seiner Frau Penelope und muss dabei außergewöhnliche Strapazen und Prüfungen bestehen. Er kämpft mit Zyklopen, einem einäugigen Riesen, und den Sirenen, die Seeleute in den Tod singen, während er auf seiner Heimreise aus dem Trojanischen Krieg mit dem Meer selbst kämpft. Diese Begegnungen erzeugen allesamt Spannung und lassen den Leser mit der Frage zurück, ob Odysseus es jemals nach Hause schaffen wird, und wenn ja, wie er es schaffen wird.

Rotkäppchen ist ein frühes Beispiel für das Psycho-Stalker-Thema.

Eine häufige Konvention des Genres ist die Psycho-Stalker-Geschichte. Rotkäppchen ist ein frühes Beispiel für das Psycho-Stalker-Thema. Dieses europäische Märchen lässt sich bis ins 10. Jahrhundert zurückverfolgen und erzählt die Geschichte eines kleinen Mädchens, das durch den Wald geht, um seiner kranken Großmutter Essen zu bringen. Sie begegnet einem Wolf, in manchen Versionen dem “Großen Bösen Wolf”, und sagt ihm, wohin sie geht. Er kommt ihr zuvor, frisst die Großmutter und wartet verkleidet als eben diese Großmutter auf das Mädchen, während sich der Leser fragt, ob das kleine Mädchen einen solch bösen Feind überleben wird.

Im 19. Jahrhundert wurden den Gebrüdern Grimm zwei verschiedene deutsche Versionen dieses Märchens vorgelegt, und sie haben es dann in die heute geläufige Geschichte verwandelten, über die es unzählige Analysen gibt.

Das Aufkommen des Rachekrimis

Der 1844 von Alexandre Dumas geschriebene Graf von Monte Cristo ist ein gewagter und abenteuerlicher Rachethriller über einen Mann namens Edmond Dantès, der von seinen Freunden verraten wird und zu Unrecht im Gefängnis sitzt. Dort trifft er auf einen alten Mann, der ihm alles beibringt und ihm das Versteck eines großen Schatzes verrät. Edmond erwirbt dieses Vermögen und rächt sich an denen, die sein Leben zerstört und ihn eingesperrt haben. Dieser Literaturklassiker nimmt die Leser mit auf ein gefährliches und spannendes Abenteuer, das Edmonds Suche nach Rache, Zufriedenheit und schließlich Frieden begleitet.

Das Kernstück eines guten Thrillers war aber von Anfang an die Psychologie. Aus diesem Grunde ist es nicht verwunderlich, dass der Psychothriller neben dem Spionage- oder Agententhriller und dem Horror-Thriller das Zentrum des Genres bildet.

Der Psychothriller

Wie viele andere revolutionäre Konzepte wie den Schauerroman oder den Krimi, der sich daraus ergeben hat, haben wir auch den Psychothriller den Viktorianern zu verdanken.

Der Monddiamant wird oft als der erste Detektivroman überhaupt angesehen (was er aber nicht ist). Hier die Ausgabe bei dtv.

Wilkie Collins ist der heute wenig bekannte Erfinder der Idee des psychologischen Thrillers. Obwohl er weniger bekannt ist als Dickens oder die Brontë-Schwestern, kann man diesen viktorianischen Innovator als einen der einflussreichsten Romanautoren seiner Zeit bezeichnen.

In den 1860er Jahren veröffentlichte Collins vier Romane, die oft als “Sensationsromane” bezeichnet werden: “Die Frau in Weiß”, “Die Namenlosen”, “Der rote Schal” und “Der Monddiamant” – Romane, die zur Zeit ihres Erscheinens sehr populär waren und das viktorianische Publikum mit ihren düsteren Rätseln, die an gewöhnlichen und vertrauten Schauplätzen spielten, in Erstaunen und Schrecken versetzten.

In diesen großartigen Romanen erfand Collins eine Reihe von erzählerischen Tricks und Methoden, auf die Krimiautoren noch heute zurückgreifen. Ein solches Element ist die Idee, dass die Hauptfiguren sich nicht auf ihre eigenen Erinnerungen verlassen oder ihnen zumindest nicht trauen können – und dass sie nicht wissen, ob sie tatsächlich für ein Verbrechen verantwortlich sind. Dieses Konzept des “unzuverlässigen Erzählers” ist heute in der Ich-Erzählung eines Thrillers gang und gäbe, wie in Girl On The Train von Paula Hawkins, mit der Erzählerin Rachel, die unter alkoholbedingtem Gedächtnisverlust leidet.

In Collins’ Roman “Der Monddiamant” ist es das Opium, das für diese Idee der Unzuverlässigkeit sorgt – etwas, das Collins’ enger Freund Charles Dickens so faszinierend fand, dass er dessen Einflüsse in seinen eigenen unvollendeten psychologischen Thriller “Das Geheimnis des Edwin Drood” aufnahm. Der Monddiamant wird oft als der erste Detektivroman überhaupt angesehen, in dem ein unbezahlbarer Mondstein-Diamant gestohlen wird, was zu Anschuldigungen und Verdächtigungen gegen alle Figuren führt. Collins erlebte die Opiumsucht am eigenen Leib und verlieh den Auswirkungen auf seine Erzähler eine realistische Ebene.

Unzuverlässige Erzähler im Thriller

Collins entwickelte auch das immer bekannter werdende Mittel mehrerer Erzähler, die ihre eigene Perspektive präsentieren – einige von ihnen können Personen sein, von denen wir (die Leser) selbst entscheiden müssen, ob wir ihnen vertrauen oder nicht. Im Vorwort zu “Der Monddiamant” drückt Collins diesen revolutionären Schritt in seinen eigenen Worten aus:

“In diesem Roman wird ein Experiment versucht, das (soweit ich weiß) bisher in der Belletristik noch nicht versucht worden ist. Die Geschichte des Buches wird durchgehend von den Figuren des Buches erzählt.”

Das Fehlen eines allwissenden Erzählers versetzt den Leser in eine unangenehme Lage, in der die Erzähler, auf die wir uns verlassen, in Wirklichkeit der Mörder sein könnten, den wir gerne gefasst hätten. Wie in “Gone Girl”, wo die abwechselnden Erzählungen von Nick und Amy dazu dienen, widersprüchliche Standpunkte darzustellen, hält diese Technik den Leser im Ungewissen und lässt ihn die Legitimität der einzelnen Figuren in Frage stellen. Dies hat einen großen Anteil an der fesselnden Lektüre, die wir uns von Psychothrillern erwarten. Auf diese Weise leistete Collins Pionierarbeit für das, was ein früher, aber kluger Kritiker als die Fähigkeit bezeichnete, “sein Publikum in Unbehagen zu versetzen, ohne ihm den Grund dafür zu verraten”.

Seine Bücher besitzen eine Lebendigkeit, die im modernen psychologischen Thriller weiterlebt.

Thriller lassen sich in viele verschiedene Untergenres und Kategorien einteilen, und wir haben hier nur an der Oberfläche gekratzt. Das Genre hat sich im Laufe der Jahre an vielen verschiedenen Orten und in viele verschiedene Settings aufgeteilt. Im Großen und Ganzen hat es James Patterson am besten ausgedrückt, als er in seinem 2016 erschienenen Buch “Thriller: Stories to Keep You Up All Night” sagte:

“Thriller bieten ein so reichhaltiges literarisches Festmahl … diese Offenheit für Erweiterungen ist eine der beständigsten Eigenschaften des Genres. Was bei aller Vielfalt der Thriller jedoch allen gemeinsam ist, ist die Intensität der Gefühle, die sie hervorrufen, insbesondere die der Beklemmung und des Hochgefühls, der Aufregung und der Atemlosigkeit, die alle darauf abzielen, den so wichtigen Nervenkitzel zu erzeugen. Wenn ein Thriller nicht spannend ist, erfüllt er per definitionem nicht seine Aufgabe.”


James Patterson: Thriller – Stories To Keep You Up All Night (Zitat übersetzt von Michael Perkampus).
Billy Summers

Stephen King: Billy Summers

In einer begeisterten Rezension schrieb John Dugdale von der Sunday Times: “Diszipliniert, aber abenteuerlich, gleichermaßen gut in Actionszenen und tiefgründiger Psychologie, zeigt King mit diesem Roman, dass er mit 73 Jahren ein Schriftsteller ist, der wieder auf der Höhe seines Könnens agiert.”

Random House

Neil McRobert vom Guardian nannte es Kings “bestes Buch seit Jahren” und lobte seine “eigene Art eines kräftigen, übersteigerten Realismus”.

Seit fünf Jahrzehnten dominiert Stephen King das literarische Erzählen und mit Billy Summers wandert dieser einzigartige Autor weiter auf jenem Pfad, der schon länger vorhanden ist, den er aber mit “Mr. Mercedes” eindeutig eingeschlagen hat.

Stephen King kennt das Verbrechen. Er ist mit Pulp-Legenden wie Richard Stark und John D. MacDonald aufgewachsen. Um die Wahrheit zu sagen: er war schon immer ein wirklicher Noir-Fan.

Als MacDonald sich bereit erklärte, das Vorwort für Kings Erzählband “Nachtschicht” zu schreiben, hätte er sich vor Freude fast in die Hose gemacht. Wenn King über seine frühen Inspirationen spricht, fallen unweigerlich die Namen zahlreicher Hardboiled-Autoren. Seine Bücher sind voll mit Verweisen auf seine schriftstellerischen Helden. Ohne Kriminalromane gibt es keinen Stephen King.

Sie haben seine Wut auf das System und seine Haltung gegenüber bestimmten politischen Zuständen inspiriert. Man muss sich fragen, wie Kings Herangehensweise an das Schreiben aussehen würde, wenn er nicht mit dem Verschlingen von Groschenromanen aufgewachsen wäre. Zumindest besteht die Wahrscheinlichkeit, dass sein Schaffen nicht so überschwänglich gewesen wäre. Das Leben eines Autors von Groschenromanen bestand darin, zu tippen, bis die Finger bluteten, und manchmal ganze Romane in weniger als einem Monat fertigzustellen. Sie schrieben Geschichten über schreckliche Menschen, die schreckliche Dinge taten, und die Leser können bis heute nicht genug davon bekommen. In Kings Romanen ist niemand perfekt. Jeder hat seine Macken. Die Protagonisten begehen oft Verbrechen, nehmen das Gesetz selbst in die Hand und tun alles, was nötig ist, um etwas zu erreichen.

Es stimmt zwar, dass die meisten von Kings Werken übernatürliche Elemente enthalten, aber es lässt sich nicht leugnen, dass viele, wenn nicht alle seiner Bücher, auch als Thriller eingestuft werden können. Nur weil man einen Geist oder ein kinderfressendes unterirdisches Monster hinzufügt, heißt das noch lange nicht, dass man nicht auch einen Thriller vor sich hat. Belletristik ist nicht auf ein bestimmtes Genre beschränkt, und das ist vielleicht der Grund, warum Stephen King eine so erfolgreiche Karriere gemacht hat. Er hat sich von Anfang an nie festlegen lassen und ständig verzweigt, Elemente aus verschiedenen Genres aufgenommen und etwas völlig eigenes daraus gemacht.

Die beiden größten Genres sind sicherlich der Horror, aber auch Krimis. Seine Bücher sind vom Ethos des klassischen Thrillers durchdrungen.

Billy Summers ist ein ziemlich gelungenes und gutes Beispiel für einen echten King mit Thriller-Elementen. Im Wesentlichen ist das Buch erneut und wie so oft eine Charakterstudie. Obwohl dieser Roman viele klassische – für King typische – Marksteine enthält, darunter Rache, einen Schriftsteller-Helden, unwahrscheinliche Freundschaften, Traumata, Gerechtigkeit -, macht hier vor allem seine Hingabe an den Realismus und die intensive, fast meditative Konzentration auf die titelgebende Hauptfigur “Billy Summers” zu einem herausragenden Werk.

Billy ist ein Auftragskiller. Aber er hat seine Prinzipien. Er tötet nur schlechte Menschen. Einige der Männer, die er getötet hat, waren in der Tat sehr üble Zeitgenossen. Beim Militär hat er sein Talent als Scharfschütze unter Beweis gestellt, und als er entlassen wurde und keine wirkliche Zukunft vor sich sah, beschloss er, die erlernten Tötungsfähigkeiten beruflich zu nutzen. Als wir ihm begegnen, hat er jedoch genug davon. Er ist bereit, sich zur Ruhe zu setzen. Aber vorher nimmt er noch einen letzten Job an.

Die Bezahlung für diesen letzten Auftrag ist astronomisch, und die Zielperson hat ihr Schicksal zweifellos verdient, aber was Billy wirklich überzeugt, den Job anzunehmen, ist die Tarnung, die er annehmen soll: Er muss sich als Schriftsteller ausgeben, der sich in einem Bürogebäude einmietet, um seinen ersten Roman fertigzustellen. Und genau dort wird Billy auch seinen Schuss abgeben.

Sein potenzielles Opfer wird auf den Stufen des Gerichtsgebäudes in der Nähe des gemieteten Büros abgeliefert, in dem Billy seiner Tarngeschichte als Schriftsteller nachgeht.

Billy verbringt Wochen in der Stadt, bevor die Mühlen der Justiz den Mann schließlich in seine Nähe bringen. Während dieser Zeit hält er sich strikt an seine Tarnung, indem er sich tatsächlich im Schreiben versucht. Er beschließt, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben, aber um der Rolle des etwas dümmlichen Typen, die er im Laufe der Jahre perfektioniert hat, treu zu bleiben, nimmt er die Stimme von Benjy Compson an, William Faulkners “idiotischem” Kind aus “Schall und Wahn”. Dies ist nur eine von mehreren literarischen Anspielungen, die King in diesem Buch macht. Er erwähnt auch Dickens, Wordsworth, Shakespeare, Thomas Hardy und Cormac McCarthy, um nur einige zu nennen. Billy ist sehr belesen, und während des gesamten Buches ist er in die Lektüre von Emile Zolas “Therese Raquin” vertieft. Überraschenderweise, oder vielleicht auch nicht, stellt er fest, dass ihm das Schreiben Spaß macht und dass er ein Talent dafür hat. In einer Umkehrung von “Shining”, wo ein Schriftsteller zum Mörder wurde, wird hier der Mörder zum Schriftsteller. Tatsächlich bezieht King sich in seinen literarischen Referenzen letztendlich auch auf sich selbst!

King hat im Laufe der Jahre so viele Autoren-Protagonisten geschaffen, dass dies nicht mehr nur ein Running Gag ist, sondern einfach zur Hintergrundstrahlung seines Werks gehört. Aber selten hat er so viel Zeit und Energie in die Darstellung der eigentlichen kathartischen Arbeit des Jobs gesteckt, bis hin zum Verfassen ganzer Kapitel, in denen Billy seine missbrauchte Kindheit und seinen Militärdienst verarbeitet, um das Netz von Identitäten zu entwirren, das er um sich herum aufgebaut hat. Die Begeisterung, mit der Billy erkennt, dass er endlich hinter den Masken hervorschauen und mit seiner eigenen Stimme sprechen kann (wenn auch nur zu sich selbst), hätte in einem anderen Buch kitschig wirken können, aber in Kings Händen wirkt es ansteckend echt. Neben diesen hochtrabenden Ideen sind diese Auszüge auch eine Gelegenheit für King, ein wenig metafiktionale Spielerei zu betreiben und einen Text zu verfassen, der sich wie das Werk eines begabten Anfängers liest und sich von dem vertrauten Ton im Rest des Buches unterscheidet.

Kurz vor dem Abschluss seines Auftrags macht sich Billy Sorgen darüber, dass es einen Plan geben könnte, ihn nach der Tat abzuservieren, und er schmiedet alternative Fluchtpläne. Er verschanzt sich in einer Kellerwohnung in der Stadt und verlässt sie zunächst nicht, wie es sein Auftraggeber vorgesehen hatte. Als er sich eines Nachts in dieser Wohnung aufhält, sieht er, wie drei Männer in einem Lieferwagen ein schlimm zugerichtetes Mädchen auf der Straße abladen. Er geht hinaus, um nach ihr zu sehen, findet sie gerade noch so lebendig und bringt sie ins Haus. Sie wurde von den drei Männern unter Drogen gesetzt und vergewaltigt. Hier beginnt der zweite Teil des Romans, den nachzuzeichnen diese Besprechung hier sprengen würde.

Ich möchte zum Ende nur darauf hinweisen, dass es das Schreiben ist, das Billy Summers rettet – sowohl die Prosa selbst als auch die Darstellung der Handlung. Zusammen geben sie dem Buch die Rettungsleine, die es braucht, wenn sich das aus den Schlagzeilen gerissene Ende abzeichnet. Selbst in den abgedroschensten Verbrechensszenarien schafft es King, aus der kleinsten Abweichung vom Plan eine Flutwelle der Spannung aufzubauen, die seine “Dauerleser” tief in die schweißnasse Unsicherheit seiner Helden eintauchen lässt, während sie beobachten, wie eine Situation möglicherweise außer Kontrolle gerät. Indem er Billys Sühne in Kommunikation und Schöpfung und nicht in Gewalt verortet, gelingt es King, einen Raum für Erlösung zu finden, der andernfalls vielleicht hohl geklungen hätte. Für ein Buch, dessen einziges übernatürliches Element die gelegentlich auftauchende Ruine des weit entfernten Overlook Hotels ist – wo ein anderer King-Schriftsteller-Stellvertreter einst weitaus schlechter mit seiner Isolation und seinen “Gaben” zurechtkam -, ist Billy Summers auf gewinnende Weise optimistisch gegenüber des kreativen Geistes. Mehr als fast jedes andere King-Buch der jüngeren Vergangenheit ist es ein Produkt seiner Zeit.

Die Mörder der Queen

David Morrell: Die Mörder der Queen (De Quincey #2)

Interessiert man sich für historische Kriminalromane, die das viktorianische London lebendig machen, sind David Morrells drei Romane um Thomas De Quincey ganz oben auf der Liste anzusiedeln. Morrell erreicht das hauptsächlich damit, dass er auch den Stil, in dem im 19ten Jahrhundert Romane geschrieben wurden, anwendet. Für heutige Autoren ist das gar nicht so leicht. Morrell hat sich viele Jahre lang in den Duktus der damaligen Zeit versetzt und darüber hinaus intensiv Recherche betrieben, um die viktorianische Zeit lebendig zu machen und die Fakten mit der Erzählung zu verschmelzen. Vielleicht ist der notwendige Aufwand auch der Grund, warum es so wenige erstklassige Romane in dieser Gattung gibt, denn man merkt als interessierter Leser sofort, wo die Fehlerquellen liegen.

Morrell setzt also diesen allwissenden Erzähler perfekt ein und nutzt mit den eingeschobenen Tagebuchaufzeichnung der Emily De Quincey ebenfalls ein Stilmittel, das damals an der Tagesordnung war, heute aber nicht mehr gebräuchlich ist, um die unterschiedlichsten Szenen in eine intime Nähe an den Leser heranzurücken. Er tut das nicht mehr so ausgiebig wie im ersten Roman “Der Opiummörder”, aber wo er dieses Stilmittel einsetzt, ist es auch stimmig, und man merkt in allen drei De Quincey-Büchern, was wir literarisch an die Moderne verloren haben, auch wenn wir auf der anderen Seite natürlich einiges andere gewonnen haben.

Wir schreiben das Jahr 1855. Nachrichten über die Unfähigkeit der britischen Kommandeure im Krimkrieg haben den Sturz der Regierung verursacht. Thomas De Quincey und seine Tochter Emily sind im Londoner Haus von Lord Palmerston nicht mehr willkommen. Doch gerade als Palmerston sich anschickt, die beiden in eine Kutsche zu stecken und weit, weit weg zu schicken, sind De Quinceys Fähigkeiten plötzlich sehr gefragt, als eines Tages der erste von vielen grausamen und ausgeklügelten Morden geschieht. Und das ausgerechnet in der St. James’s Church. Englische Adelige und Frauen scheinen das Ziel zu sein, und die Szenen sind jenseits aller Vorstellungskraft grausam, wie man sie in der Oberschicht zu dieser Zeit nur selten sieht. Morde dieser niederträchtigen Art geschehen normalerweise nur unter den Niedrigsten der Niedrigen. Schnell macht sich Panik breit.

Die beiden Scotland-Yard-Detektive Ryan und Becker wissen, wie brillant dieser kleine opiumsüchtige Mann darin ist, Hinweise zu finden und zu deuten – und tief in die Köpfe von Mördern zu blicken. Nun läuft ein Wahnsinniger frei herum, der Mitglieder der Oberschicht tötet. Bei jeder Leiche finden sie Hinweise mit den Namen jener, die bereits ein Attentat auf Queen Victoria verübt hatten.

Alle Beweise deuten auf eine Schlussfolgerung hin: Dieser Killer wird nicht aufhören, bis Victoria tot ist.

Indem er einige der damals vorherrschenden Schreibtechniken mit brillanter Wirkung einsetzt, taucht David Morrell einmal mehr in das viktorianische London ein. Dank seiner akribischen Recherche wird London lebendig – Sehenswürdigkeiten, Gerüche, Geräusche – die Leser werden sich leicht in die Straßen und Gebäude der Stadt hineinversetzen können.

Doch die Kulisse ist nicht das einzige Wunderbare an “Der Mörder der Queen”.

Das Tempo ist so hoch, dass man sich äußerst schnell in der Erzählung verfängt, vor allem, weil es nur wenigen Autoren gelingt, so mit historischen Figuren umzugehen wie es hier gezeigt wird.

De Quincey war Freud fünfzig Jahre voraus, und es ist faszinierend, ihm dabei zuzusehen, wie er die Psychologie einsetzt, um Verbrechen zu lösen. Es ist auch faszinierend, andere dabei zu beobachten, wie sie ihn beobachten. Im ersten Buch dieser Reihe, Der Opiumesser, konnten die Leser sehen, wie die beiden Scotland Yard-Detektive (Ryan und Becker) De Quinceys Methoden ins Lächerliche zogen. Jetzt sind sie überzeugt und müssen andere davon überzeugen, den kleinen Mann in Ruhe zu lassen, damit er seine Arbeit machen kann. Ein zusätzlicher Bonus ist die Tatsache, dass die Leser mehr über seine willensstarke, unkonventionelle Tochter Emily erfahren, und auch Lord Palmerston wird unter die Lupe genommen.

Denn glücklicherweise sind der zierliche Thomas De Quincey und seine Tochter Emily noch in London und erholen sich von jenem Fall, der in Der Opiumesser geschildert wird.

De Quincey ist berühmt für seine brillante Prosa und die Aufklärung von Verbrechen, obwohl er vor allem als Opiumesser berüchtigt ist. Hoffnungslos süchtig nach der Droge, braucht er die ständige Aufsicht und liebevolle Begleitung von Emily, um durchzuhalten. Die beiden erregen Aufsehen, wo immer sie hingehen. In der Tat ist sie im viktorianischen England eine ebenso große Kuriosität wie ihr Vater Thomas, denn sie trägt statt der unbequemen Reifröcke, mit denen Damen aus gutem Hause sich herum quälen, Hosen, schreckt vor heiklen Gesprächen nicht zurück und gibt ihre Ansichten zu besten, wann immer sie das für angebracht hält. Kurz: sie weigert sich hartnäckig, die schwärmerische junge Frau zu spielen.

Die Scotland-Yard-Detektive Ryan und Becker scheinen beide in Emily verliebt zu sein. Sie hat sich in all der Zeit ihren Respekt und ihre Verehrung, ganz zu schweigen von ihrer Gunst, erworben. Beide sind nicht im Geringsten verärgert, dass sie immer noch in London ist und den Ermittlern mit ihrem Wissen zur Seite steht. Nun aber steht unendlich viel mehr auf dem Spiel, denn die Leichen häufen sich und das eigentliche Ziel rückt schnell ins Blickfeld: die Königin selbst.

Notizen, die an jedem Tatort hinterlassen werden, bilden das Motiv mit jeder weiteren Mordserie klarer heraus. Es ist fast so, als wolle der Killer, dass die Polizei genau weiß, wer er ist. Aber deshalb seiner habhaft zu werden, ist eine ganz andere Sache.

Während sie vielleicht sein Motiv verstehen – nur zu gut – erweist er sich als ein sehr schlüpfriger Charakter. Wie gelingt es ihm, ihnen immer wieder zu entwischen?

Die Ermittler haben einen Namen, den sie verfolgen, aber ihr Verdächtiger hat ein so starkes Verlangen nach Rache, dass es ihn fast unsichtbar macht. Die Detectives Ryan und Becker – und ganz Scotland Yard – erkennen, dass sie Thomas und Emily brauchen, um ihn aufzuspüren.

David Morrell hat – in allen dreien dieser herausragenden Romane – geschickt jene Stücke aus Englands Vergangenheit herausgeschnitten, in denen Attentäter kühne Anschläge auf das Leben von Königin Victoria verübten, und hat sie mit einem tragischen Unhold gewürzt, der seine eigene schreckliche Vergangenheit hat, und sie dann auf einen Kollisionskurs gesetzt, der in einem blutig guten Thriller explodiert. Die Geschichte ist äußerst lebendig und nahtlos verwoben, so dass der Leser nicht anders kann, als tief in sie einzutauchen.

Fans der Sherlock-Holmes-Geschichten werden sich an diesem frischen, neuen Detektivmodell erfreuen und die Ära, den Einfallsreichtum und die Details der Epoche gründlich genießen, ohne jemals die über dem ganzen Genre schwebende Parallele zu dem Detektiv aus der Baker Street zu spüren.

Hier gehts zum ersten Teil.

Erschienen bei Droemer-Knaur.

Horror

Aus Liebe zur Schauerliteratur

Ich bin ein Stubenhocker. Was für ein schönes, altmodisches Wort für jemanden, der wenig Ambitionen hat, die eigene Haustür zu verlassen. Mein Sternzeichen ist der Krebs. Wir sind dafür bekannt, dass wir launisch sind und ständige Bestätigung und Intimität brauchen. Wir sind sehr sicherheitsbedürftig, was dazu führt, dass unsere Welt manchmal sehr klein ist.

Meine Lieblingsliteratur ist dunkel und intim. Aber ich lebe lange genug, dass mir  noch die Abenteuergeschichten des frühen zwanzigsten Jahrhunderts in Form von großen Anthologien als Geschenk aufgedrängt wurden. Daraus las ich Robert Louis Stevensons Entführt, Jack Londons Ruf der Wildnis, Robinson Crusoe, Die drei Musketiere usw. (Manchmal glaube ich, meine Verwandten waren enttäuscht, dass ich kein Junge war. Niemand hat mir je Anne auf Green Gables geschenkt.) Es waren Geschichten über Fernweh, Ehre und Testosteron. Schließlich schenkte mir ein sehr kluger Mensch eine Ausgabe von Edgar Allan Poe, einen riesigen Sammelband mit Sherlock-Holmes-Geschichten und einen Stapel Nancy-Drew-Bücher. Das war eine große Erleichterung, nachdem ich die ganze Zeit auf der Suche nach Schätzen durch die Welt gezogen war.

Die klassischen Krimis hatten einen Umfang, den ich zu schätzen wusste. Es waren Geschichten, die immer zum Greifen nah waren und von mir mehr Nachdenklichkeit als gefährliche Action verlangten. Es ist logisch, dass ich sie angesichts meiner Persönlichkeit bevorzuge. Stevensons Die Schatzinsel war gut, aber ich mochte viel lieber Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde und Geschichten wie Die Geschichte von dem jungen Mann mit dem Cremetörtchen, die sich hauptsächlich in einem Herrenclub abspielt.

Dann entdeckte ich die Schauerromane und wusste, dass ich dort hingehörte. Ich gestehe, dass ich mich – anders als viele Mädchen – nicht in erster Linie wegen der Romantik zu Romanen wie Jane EyreSturmhöhe und Du Mauriers Rebeccca hingezogen fühlte. Sicherlich waren ihre kühnen Heldinnen für ein Mädchen im Teenageralter attraktiv, aber es war die Architektur, die mich verlockte. Die meisten dieser Romane spielten in prächtigen, hoch aufragenden Häusern, die seit Jahrhunderten unveränderliche Zeugen menschlicher (und manchmal übermenschlicher) Dramen waren. Sie waren voller verborgener Räume und Gänge und Geheimnissen, die es zu entdecken galt. Ich jagte mit den oft schüchternen Heldinnen durch sie hindurch, wunderte mich über seltsame Lichter in entfernten Fenstern und über die Geräusche aus scheinbar verlassenen Räumen. Ich sah geisterhafte Gesichter in Spiegeln und hörte das bedrohliche Meer gegen die Felsen schlagen, während mir treue Diener von schrecklichen Schiffbrüchen erzählten. (Okay, Sturmhöhe lag nicht in der Nähe des Meeres, aber Sie verstehen schon.) Jedes gotische Haus hatte mindestens ein tiefes, mysteriöses Geheimnis, und es war meine geschworene Aufgabe, dem Helden oder der Heldin zu helfen, herauszufinden, was es war.

Rebecca ist ein Roman aus dem zwanzigsten Jahrhundert, aber ich würde ihn fast in eine Reihe mit den früheren viktorianischen und vorviktorianischen Gothics stellen. Die Naivität der Ich-Erzählerin verleiht dem Buch einen eher antiken Charakter, trotz der reißerischen Art einiger ihrer Entdeckungen. Für mich ist es eine Art Brücke zu moderneren Schauerromanen.

Auftritt Freud.

Ich beschrieb einmal einer Freundin, die sich für Traumanalyse interessiert, einen Traum, in dem mein Haus brannte. “Oh, das ist einfach”, sagte sie. “Du bist das Haus, und das Feuer ist deine Sexualität.” Leser, ich war beschämt! Das war zwar das letzte Mal, dass ich einen meiner Träume freiwillig zur Analyse anbot, aber ich fand Freuds Bild vom Haus als der inneren Psyche eines Menschen überzeugend. Und es funktioniert als ein sehr starkes Symbol für das Menschliche in der Fiktion.

Es ist leicht, sich ein Haus (oder sogar eine winzige Gemeinschaft) als Kanal für menschliche Sehnsüchte vorzustellen. Es gibt eine literaturkritische Theorie, die sich mit der so genannten weiblichen Gotik befasst, die sehr tief (und chaotisch) in die Art und Weise eindringt, wie die gotischen Romane des neunzehnten Jahrhunderts dazu beitrugen, die allgemeinen Ängste, Frustrationen und die erwachende Sinnlichkeit von Frauen durch architektonische Symbolik auszudrücken. Ich verstehe das. Aber ich bin nur eine Schriftstellerin, die ihre Arbeit als Handwerk begreift, und auch nur eine Leserin und keine Studentin der englischen Literatur, also werde ich nicht weiter auf die Symbolik eingehen, weil ich mich nur in Schwierigkeiten bringen würde.

Shirley Jackson ist einer der Favoritinnen der Symbolismus-Fans. Zufälligerweise ist sie auch einer meiner Favoriten. Wir haben schon immer im Schloss gelebt ist die erschütternde Erzählung einer selbstsüchtigen jungen Verrückten, die die wenigen verbliebenen Mitglieder ihrer Familie in ihrem angestammten Haus gefangen hält. “Merricat” Blackwood (deren Familienname eine Hommage an den Fantasy-/Horror-Autor Algernon Blackwood sein könnte) zieht alle um sich herum ins Verderben, und das Haus selbst brennt ab, so dass seine Überreste einem Schloss ähneln. Spuk in Hill House scheint eine einfache Geistergeschichte zu sein, bis man sich die Figur der Eleanor Vance genauer ansieht. Sie verliebt sich nicht nur in das Haus, sondern möchte sogar ein lebendiger – nun ja, eigentlich toter – Teil davon werden.

(Das klingt jetzt vielleicht etwas seltsam, aber ich kann mir vorstellen, Teil eines Hauses zu werden. Eines Nachts, als ich versuchte, ganz allein in meinem Haus zu schlafen, hatte ich eine Art außerkörperliche Erfahrung, bei der ich jeden Raum des Hauses gleichzeitig sehen, von jedem Fenster aus nach draußen blicken und die kleinsten Bewegungen der in den Wänden lebenden Kreaturen hören konnte. Ich hatte ein so erstaunliches Gefühl der Kontrolle. Ein Gefühl der Macht.)

Joyce Carol Oates ist eine zeitgenössische Schriftstellerin, die – neben unzähligen anderen Genres – erstaunliche schauerliche Geschichten schreibt. Ihre Sammlung Die Geheimnisse von Winterthurn ist eine, die ich immer wieder zur Hand nehme, insbesondere die Erzählung Die Jungfrau in der Rosenlaube. Darin wird das großartige historische Haus Glen Mawr – komplett mit Dachboden, Verlies und einem ironisch benannten Flitterwochenzimmer – zum Schauplatz brutaler Morde und Betrügereien, die von seinen Bewohnern begangen werden. (Es gibt einen Hinweis auf das Übernatürliche, aber jedes der Verbrechen könnte auch von einem Menschen begangen worden sein.) “Die Jungfrau in der Rosenlaube” ist auch der Titel des Trompe-l’oeil-Wandgemäldes in The Honeymoon Room. Mit seinen teuflischen Putten, den seltsamen, mit Krallen versehenen Kreaturen und dem lüsternen, androgynen Engel ist es möglicherweise das handlungsbeeinflussendste Stück fiktionaler Kunst seit dem Porträt des Dorian Gray.

Ich liebe das. Es ist ein einziges Wandbild, an einer einzigen Wand. Die Bewohner des Hauses können es jeden Tag sehen und anfassen. Es kann nirgendwo hingehen. Es bedroht nicht Hunderttausende von Menschen. Es ist unwahrscheinlich, dass deswegen jemals ein Krieg begonnen wird. Und doch ist es von zentraler Bedeutung für das große Drama im Leben einiger weniger Menschen. Mit diesem Gemälde als Anhaltspunkt gelingt es dem jungen Detektiv Xavier Kilgarvan, das erschreckende, ganz und gar menschliche Geheimnis im Herzen von Glen Mawr zu entschlüsseln, und die Entdeckung prägt den Rest seines Lebens und seiner Karriere.

Es ist nicht verwunderlich, dass Schauergeschichten, die in großen Häusern spielen, wie ein Artefakt der Literaturgeschichte erscheinen. Glücklicherweise tauchen sie von Zeit zu Zeit sowohl in Romanen als auch in Filmen auf (ich denke dabei an The Others und, in jüngerer Zeit, Die Frau in Schwarz, nach dem Roman von Susan Hill), aber sie spielen oft in der Vergangenheit, und das aus gutem Grund. Unsere westliche Kultur ist in den letzten fünfzig Jahren viel weniger auf die eigenen vier Wände konzentriert. Die Weltbühne ist ständig auf unseren Fernseh- und Computermonitoren zu sehen. Sie ist riesig und verändert sich ständig, richtet sich neu aus. Unsere Aufmerksamkeit ist immer woanders. Das Leben meines Sohnes ist voll von Aktivitäten, die ihn mindestens fünf Tage pro Woche für die meisten Stunden des Tages von zu Hause wegführen. Mein Mann verbringt die meiste Zeit seiner Woche auf dem Campus und unterrichtet. Während ich von einer Mutter großgezogen wurde, die nicht außer Haus arbeitete, war das bei den meisten meiner Freunde nicht der Fall, und fast keiner der Eltern der Freunde meiner Kinder ist tagsüber zu Hause. Ich bin eine Anomalie, da ich einen Beruf ausübe, der es mir erlaubt, in meinem Haus zu sein und jedes Hundebellen, jedes Niesen der Katze und jedes Knarren des Dachbodens wahrzunehmen. Mein Leben ist ausgesprochen undramatisch, unromantisch und gewiss nicht geheimnisvoll, weshalb ich viel Zeit damit verbringe, über Situationen zu lesen und zu schreiben, die viel anregender sind. Aber ich bin wahnsinnig zufrieden.

Für einen Stubenhocker wie mich (nein, das Wort Agoraphobie kommt mir nicht in den Sinn) ist mein Job perfekt. Mein derzeitiges Projekt ist eine große Gothic-Story über ein einzelnes historisches Haus in Virginia, das mehr als nur einen Anteil an verheerenden Verbrechen erlebt hat. Ich bin begeistert von der Aussicht, mich mit jedem Band der Geschichte in die Vergangenheit zu begeben, ihre Intensität zu vertiefen und die Dramatik durch neue und wiederkehrende Figuren zu verstärken. Es ist, als könnte man endlose Universen von einem einzigen, gemütlichen Aussichtspunkt aus erkunden.

Meinem Stuhl.

Höllenjazz in New Orleans

Ray Celestin: Höllenjazz in New Orleans

New Orleans, Mai 1919. Ein mysteriöser Mörder geht um, den man den Axeman nennt. Ähnlich wie im Fall Jack the Ripper gibt es einen Spottbrief, den er an die ansässige Zeitung schickt (beim Ripper war es die Polizei selbst, an die die Briefe adressiert waren), und ähnlich wie Jack the Ripper gab es den Axeman wirklich, auch er wurde nie gefasst, die Morde hörten einfach auf.

Bei seinen brutal verstümmelten Opfern hinterlässt er stets eine Tarotkarte.

Die Ermittlungen werden von drei unterschiedlichen Seiten aufgezogen. Da sind Detective Lieutenant Michael Talbot, der ehemalige Polizist und Mafioso Luca D’Andrea, der frisch aus dem Gefängnis entlassen wurde, und Ida Davis, eine Sekretärin der örtlichen Zweigstelle der Detektei Pinkerton, die unabhängig voneinander die Morde untersuchen.

Ray Celestins Debütroman führt uns zurück in die Zeit, in ein New Orleans nach dem ersten Weltkrieg. Die Erzählung wechselt zwischen den drei Hauptfiguren, die alle einen anderen Ansatz haben, und sie nimmt uns mit, um eine Reihe historischer Verbrechen zu untersuchen. Dabei sehen wir interessanterweise nicht nur drei Möglichkeiten, sich einem Verbrechen zu nähern, wir erleben auch die Stadt aus drei unterschiedlichen Perspektiven, die sich im Laufe der letzten hundert Jahren kaum verändert hat, glaubt man den Stimmen, die sich damit auskennen. Tatsächlich gilt New Orleans als die große Ausnahme unter den Städten dieser Welt, eine regelrechte Besonderheit in jeder Hinsicht, und das sickert aus nahezu jeder Zeile des Romans hervor.

Michael Talbot ist Ire der zweiten Generation, ein Mitglied der Polizei, und er hat es schwer mit seinen Kollegen. Vor einigen Jahren musste er gegen seinen damaligen Chef Luca D’Andrea aussagen, was diesen für fünf Jahre ins berüchtigte Gefängnis “Angola” brachte.

D’Andrea selbst ist ein italienischer Mafioso, der sich innerhalb der Polizei hochgearbeitet hatte. Nach fünf Jahren wieder auf freiem Fuß, ist sein einziger Wunsch nun, in seine Heimat Sizilien zurückzukehren und seine Tage dort zu beenden, wo er hingehört. Doch Carlos Matranga, der Kopf der ansässigen Mafia, hat noch eine letzte Aufgabe für ihn, bevor er ihn gehen lassen wird: die Identität des Axeman zu ermitteln, der bisher ausschließlich italienische Lebensmittelhändler und ihre Familien getötet hat.

Die dritte Erzählung folgt der jungen Ida Davis, die als Sekretärin im örtliche Büro der Pinkertons arbeitet, ein Kompromiss, den sie einging, um ihren Fuß auf die erste Sprosse der Karriereleiter zu setzen, die sie letztendlich zu einer eigenständigen Detektivin machen wird. Ihr Boss, ein fauler Cajun, könnte durchaus in der Hand der Mafia liegen, die man “Die Familie” oder “Die schwarze Hand” nennt. Also muss sie ihre Ermittlungen heimlich und mithilfe ihres jungen Musikerfreundes Louis “Little Lewis” Armstrong durchführen.

In Celestins Wahl der Protagonisten steckt viel von der Persönlichkeit der Stadt selbst: New Orleans war schon immer so etwas wie ein kultureller Schmelztiegel, und die Tatsache, dass nur einer der drei Protagonisten ein echter Orleanese ist, spiegelt dies wider. Celestin schenkt der Stadt große Aufmerksamkeit, so dass sie eine wichtige Rolle in der Erzählung übernimmt, und bemüht sich sehr darum, dass der Leser die Hitze spüren, die Gerüche riechen und die Geräusche hören kann, die diese Stadt so einzigartig machen. Mehr als jeder andere Autor seit James Lee Burke macht Celestin diese Stadt lebendig und versetzt den Leser mitten hinein.

Diese Schmelztiegel-Kultur strotzt vor religiösen, rassischen und politischen Spannungen, und es ist diese Spannung, die den gebrochenen Erzählstil der Handlung bestimmt. Talbot ermittelt, weil es seine Aufgabe ist, dies zu tun; D’Andrea ermittelt wegen der italienischen Verbindung und weil die Schwarze Hand dabei beobachtet werden will, wie sie die Dinge selbst in die Hand nimmt; Ida hat ihrem Chef etwas zu beweisen, möchte aber auch sicherstellen, dass Gerechtigkeit geübt wird und die Verbrechen nicht, wie die in der ganzen Stadt vorherrschende Theorie besagt, bequem dem nächsten Schwarzen in die Schuhe geschoben werden.

Das Rätsel selbst ist ein wenig prosaisch und soll nicht unbedingt vom Leser gelöst werden können. Was “Höllenjazz” lesenswert macht, sind die Figuren, der Schauplatz und die clevere Konstruktion, die dafür sorgt, dass diese drei Ermittlungs-Stränge während der gesamten Romandauer parallel laufen, selten dieselben Hinweise aufgreifen und niemals Informationen von einem zum anderen streuen. Am Ende des Romans ist es interessant zu sehen, wie jeder der Ermittler zum richtigen Schluss kommt, aber die Schönheit des Romans liegt in der Tatsache, dass am Ende die einzige Person, die die ganze Geschichte kennt, der Leser ist, der die Informationen aus den drei verschiedenen Abenteuern zusammenfügt.

Als Liebhaber einer solchen Mischung aus historischen Fakten und Fiktion bin ich etwas spät auf dieses Buch aufmerksam geworden, es erschien nämlich bereits 2018. Die Tatsache, dass New Orleans einer meiner Lieblingsorte auf dem Planeten ist – und die Tatsache, dass Celesetin diesen Ort so hervorragend dargestellt hat, ist schon allein ein Grund, das Buch all jenen zu empfehlen, die etwas mit dem frühen Jazz und dem Schauplatz anzufangen wissen. Eine der interessantesten Figuren ist natürlich Louis Armstrong, dem wir an einem Punkt in seinem Leben begegnen, wo er noch nicht die Sensation des ganzen Südens der USA ist.

In diesem Debüt geht es also vor allem um Charakterzeichnung und die Lebendigkeit eines Ortes. Es ist die punktgenaue Wiedergabe eines einzigartigen Zeitpunkts und eines einzigartigen Ortes auf der Erde, und der Roman hat genug Spannung, um sicherzustellen, dass der Leser während der ganzen Zeit beschäftigt bleibt. Celestin zeichnet sich durch Detailgenauigkeit aus – sowohl in Bezug auf die Geschichte als auch auf den Schauplatz – aber niemals um den Preis, die Geschichte zu vernachlässigen. “Höllenjazz in New Orleans” ist ein ausgezeichneter Erstling, die perfekte Einführung einer hochtalentierten neuen Stimme, die mittlerweile bereits zwei neue Romane vorgelegt hat. Der letzte – “Gangsterswing in New York” – erschien 2020, und da die ganze Reihe mit City Blues Quartett betitelt ist, wird es natürlich noch einen Roman aus dem Topf Stadt – Musik – Verbrechen geben. Und es bleibt vor allem historisch.

Erschienen sind die Bände bei Piper.

Der Ursprung der Geister und berühmte Darstellungen in der Literatur

Der Ursprung der Geister und berühmte Darstellungen in der Literatur lautet der Titel der heutigen Sendung, zu der ich euch herzlich begrüße. Es handelt sich dabei um einen Themenschwerpunkt, der die Sendungen um das Spukhaus, den Vampir, die Schauerliteratur, den kopflosen Reiter usw, erweitert. All diese Artikel zu den Sendungen findet ihr auf phantastikon.de

Empfohlen sei außerdem die Sendung Die Welt bei Kerzenschein, in der es um das Erzählen als phantastische Tradition ganz allgemein geht.

Seit der Mensch sich seiner selbst bewusst ist, scheint er sich auch der Geister bewusst zu sein. Das Konzept der Geister, aber auch der Geistergeschichten lässt sich bereits in den Anfängen der Menschheitsgeschichte finden und fasziniert uns seit Generationen. Ein Rascheln im Gebüsch, ein knarrendes Geräusch, und die Angst, die sich mit unserem Überlebensinstinkt verbindet, lässt uns Dinge sehen oder fühlen, die vielleicht nicht da sind.

Aber auch der Glaube, dass etwas jenseits des Todes existieren könnte, hält uns gefangen. Was wir heute als Geist interpretieren, hat seine Wurzeln und den Mythen und Überzeugungen der alten Kulturen. Gespenster waren und sind manchmal die Geister von Personen oder von Tieren, die nach dem Tod des Körpers weiterexistieren. es liegt zum Teil an diesem Glauben, dass viele Beerdigungsrituale ursprünglich stattfanden und praktiziert wurden, um zu verhindern, dass der besagte Geist auf der Erde verbleibt und die Lebenden verfolgt. Darüber hinaus wird an die Existenz von Geistern oft aufgrund der menschlichen Erfahrung festgehalten, sich verfolgt oder verflucht zu fühlen. Dieses Gefühl wird noch heute nicht gerade selten damit erklärt, sich in der Gegenwart von Geistern zu befinden. Dies kann vom Hören, Sehen, Fühlen von seltsamen Wahrnehmungen bis hin zu anderen unerklärlichen unheimlichen Ereignissen reichen. So wird beispielsweise ein unbelebtes Objekt, das sich von selbst und ohne Zutun bewegt, oft als von einem Geist verursacht zitiert.

Geistergeschichten sind alles andere als ein zeitgenössisches Phänomen. Sie werden seit Jahrhunderten von Generation zu Generation weitergegeben, entweder mündlich oder durch das geschriebene Wort. Alte Kulturen glaubten, dass eine menschliche Seele oder der Geist weiterexistiert, wenn der physische Körper das längst nicht mehr tut, und dass es eine jenseitige Welt geben muss. Deshalb war das Erscheinen von Geistern in der lebendigen Welt ein verstörender Gedanke. Der Grund, warum ein Geist in die Welt der Lebenden übergehen sollte, war ein traumatisches Ereignis oder ein unerledigtes Geschäft. Man glaubte, dass dies in der Regel auf eine unsachgemäße Bestattung, Ungerechtigkeit oder die Notwendigkeit zurückzuführen war, dass der Tod gerächt werden musste. Eine wirklich unangenehme Erfahrung für die Hinterbliebenen.

Diese Geschichten wurden in allen Kulturen auf der ganzen Welt erzählt, von Japan bis Irland. Die Orestie – eine Trilogie griechischer Tragödien, die erstmals 458 vChr. aufgeführt wurde, erzählt die Geschichte von Mord, Rache und Gerechtigkeit. Die Trilogie, die weithin als Aischylos bestes Werk gilt, zeigt eine Figur namens Klytaimnestra, einem weiblichen Geist, der Gerechtigkeit gegenüber ihrem Sohn sucht, der sie ermordet hat. Dies ist eine der ersten Erscheinungen eines Geistes in der Literatur und typisch für den altgriechischen Glauben an das Leben nach dem Tod und den Übergang der Geister in die Welt der Lebenden.

Geister bei den Römern

Plinius der Jüngere erzählte seine berühmte Geistergeschichte um 100 nChr., und beweist damit, dass diese furchterregenden Geschichten seit mindestens 2000 Jahren alltäglich sind. Seine Geschichte handelt von einem gespenstischen alten Mann mit einem langen Bart und rasselnden Ketten, der in einem großen Haus in Athen herumspukt. Obwohl die Geschichte vor so langer Zeit erzählt wurde, enthält sie alle wichtigen Bestandteile einer klassischen Geistergeschichte. Unerklärliche Geräusche, Ruhelosigkeit und unheimliche Albträume.

In der modernen westlichen Kultur gehen wir davon aus, dass Geister typischerweise einem unerledigten Geschäft nachgehen. Das war bereits bei Plinius der Fall, der in seiner Geschichte erwähnt, dass der kettenrasselnde Geist erst seinen Frieden fand, als seine Leiche entdeckt wurde.

Die Römer hatten viele Vorstellungen von Geistern, und obwohl nicht gesagt werden kann, dasss ie alle an sie glaubten, kann man doch zu dem Schluss kommen, dass Geistergeschichten beliebt waren. Die Römer glaubten an zwei Arten von Geistern. Der Geist von Plinius fällt in die erste Kategorie, bekannt als Lemuren. Diese wütenden Geister verfolgten und belasteten die Lebenden, wurden aber dennoch mit einer Reihe von jährlichen Festtagen geehrt. Im Gegensatz zu den Lemuren standen die Manen, Geister, die ihre nahen lebenden Verwandten führten und schützten. Die oft als Götter bezeichneten Manen wurden mit dem Parantella-Fest gefeiert und galten als in oder unter der Erde existent. Um den Manen zu gefallen, brachten die Römer ihnen Opfer dar und ließen oft Speis und Trank an ihrem Grab zurück.

Der antike Satiriker Lukian von Samosata formulierte in seinem Roman “Der Lügenfreund” den Unglauben an Geister. Lukian, geboren 120 nChr., war ein gelehrter Mann mit einem einzigartigen Sinn für Humor, und nutzte seine akademischen Fähigkeiten, um seine Zeitgenossen zu verspotten. In diesem Roman zieht er von der Warthe des gesunden Menschenverstandes und der Logik alle Register, um all jenen eins auszuwischen, die auch nur im Entferntesten an das Übernatürliche glaubten. In seiner Geschichte erzählt Lukian von einer Figur namens Demokrit, die in einem Grab vor den Stadttoren haust, nur um zu beweisen, dass Friedhöfe nicht von Geistern heimgesucht werden. Er berichtet, dass junge Einheimische versuchten, Demokrit zu erschrecken, indem sie sich in schwarze Roben und Totenkopfmasken kleideten, aber trotz dieser effektiven Witze weigerte er sich, an das Übernatürliche zu glauben. Auch wenn Lukian ein entschiedener Ungläubiger gewesen sein mag, ist es interessant, auf seine klassische Idee des Aussehens eines Geistes hinzuweisen, weil diese bis heute Bestand hat.

William Shakespeares Geister

Ob er nun an Geister glaubte oder nicht – William Shakespeare war furchtlos in seinem Streben, sie zu einem integralen Bestandteil seiner Stücke zu machen. Während er sicher nicht der einzige Dramatiker war, der Geister in seinen Aufführungen zeigte, unterscheiden sich jene Shakespeares in ihrer Bedeutung doch durch ihre Interaktion mit den Lebenden. Das früheste Shakespeare-Drama, das Geister vorstellt, ist Richard III., in dem der gleichnamige Charakter von den Geistern seiner Opfer heimgesucht wird. Diese Geister verspotten Richard mit den Geschichten über ihr Ableben und sagen voraus, dass er in seinem nächsten Kampf eine Niederlage erleiden wird. Es scheint dem Publikum so, als ob die Geister Richard in seinen Träumen erschienen sind, was die Beziehung zwischen Geistern und Albträumen festigt. Wenn sie jedoch auf der Bühne aufgeführt werden, sind die Geister physisch präsent, besetzt mit Schauspielern, die sich and ie klassische Geisterdarstellung halten: aufgehellte Haut und ein untotes Aussehen.

Shakespeares Behandlung der Geister wurde zum zentralen Werkzeug zum Erzählen von Geschichten verwendet, wie er es in seinem berühmten Stück Macbeth gezeigt hat. Auf völlig unkonventionelle Weise erscheint der Geist von Banquo nur Macbeth und ist für alle anderen Gäste unsichtbar. Shakespeare nutzt den Geist, um zu vermitteln, dass die Last von Banquos Mord allein bei Macbeth liegt.

Hamlet, geschrieben zwischen 1599 und 1602 ist eine der berühmtesten Geistergeschichten der Literatur. Das Stück, das sich um Hamlets Wunsch dreht, Gerechtigkeit für den Mord an seinen Vater zu suchen, gilt als eines der mächtigsten literarischen Werke aller Zeiten. Wesentlich für die Handlung ist der Geist von Hamlets verstorbenem Vater. In den Bühnenanweisungen als “Geist” bezeichnet, erscheint er nur drei Mal im Stück und wirkt als Impulsgeber der Handlung. Shakespeares Darstellung des Geistes steht im Einklang mit alten Geistergeschichten, wo sie stehts ein ungelöstes Verbrechen oder Ungerechtigkeit symbolisieren und vermitteln. Der Geist sucht Rache, um aus dem Fegefeuer befreit zu werden.

Es sei darauf hingewiesen, dass es unter Akademikern und Dramatikern viele Diskussionen darüber gibt, ob der Geist wirklich eine Darstellung des verstorbenen Königs ist, oder tatsächlich eine phantastische Erfindung des jungen Hamlet. Aber Shakespeare hat im Grunde wieder einmal das Konzept eines Geistes dazu genutzt, um eine ganze Erzählung voranzutreiben. Die Existenz des Geistes offenbart ebenso viel über das Innenleben der lebenden Charaktere wie über den verstorbenen König.

Geister bei Charles Dickens

Geister, die sich über Shakespeares Jahre und darüber hinaus bewegen, begründen in der viktorianischen Epoche ihr eigenes literarisches Genre. Der Schriftsteller und Sozialkritiker Charles Dickens war sehr einflussreich, was die Etablierung und die Beliebtheit der Geistergeschichte betrifft. Von David Copperfield bis Oliver Twist schuf er einige der berühmtesten fiktiven Figuren aller Zeiten. 1843 schrieb Charles Dickens mit “A Christmas Carol”, die wir uns hier im Phantastikon bereits näher angesehen haben, die wohl berühmteste Geistergeschichte aller Zeiten, die die Wandlung von Ebenezer Scrooge vom geizigen Geldgeber zu einem freundlichen und liebevollen Mann zum Inhalt hat. Die Geschichte wird in fünf Kapiteln – oder Stäben, wie Dickens sie nannte – erzählt. Scrooge wird an Heiligabend von vier Geistern besucht, von denen jeder seine Wahrnehmung für die Welt um ihn herum öffnet. Zunächst wird er vom Geist seines ehemaligen Geschäftspartners Jacob Marley besucht. In schweren Ketten dargestellt und von schweren Geldtruhen nach unten gezogen, versucht Marley Scrooge sein Schicksal zu zeigen, sollte er nicht seine gierigen und egoistischen Wege ändern. Ihm wird gesagt, dass er von drei geistern, den Geistern der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Weihnacht besucht wird, denen er zuhören soll, oder dazu verdammt sein wird, die Last von Ketten zu tragen, die noch schwerer sind als die von Marley.

Wie Shakespeares Geist von Banquo erscheinen Dickens Geister ausschließlich Scrooge allein. Die Erscheinungen reichen von einem unheimlich kindlichen Mann bis hin zum phantomartigen Geist der zukünftigen Weihnacht. Charles Dickens selbst hatte ein persönliches Interesse an Geistern, wobei sein Freund und Biograf John Foster bemerkte, dass er leicht ganz vom Übernatürlichen hätte verzehrt werden können, wenn er nicht durch seinen eigenen gesunden Menschenverstand eingeschränkt worden wäre. Dickens erinnerte sich, dass er von seinem Kindermädchen Miss Mercy vor dem Schlafengehen als Kind schreckliche Geistergeschichten erzählt wurden. Als Teenager verschlang er Geistergeschichten und genoss es, sich bis ins Mark zu erschrecken. Als er ins Erwachsenenalter eintrat, wurde Dickens dem gegenüber eher skeptisch, aber seine Fantasie wurde durch die Faszination für Geister in seiner Kindheit angeheizt. Die Erzählung “A Christmas Carol”, die sich an nur einem Abend innerhalb einer einfachen und logisch gestrickten Struktur abspielt, veranschaulicht, dass Geistergeschichten am besten innerhalb einer Kurzgeschichte oder im Novellenformat funktionieren. Auch heute noch. Kurze und prägnante Geschichten wie diese können leicht mündlich erzählt werden, wie viele andere der besten Geistergeschichten auch.