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Der Pfeifer an den Toren

Last updated on 11. Juli 2024

Gleich pfeift er die Winde los, das hat er versprochen. Vorher will er jedoch den Kompost nach draußen bringen. Die Hitze hier am Ende der Welt macht aus einem beim Essen übriggebliebenen Blumenkohl einen entsetzlich stinkenden Nachtisch, um den die Fliegen kreisen, in dem sie auch geboren werden. Schlecht ist es um mich bestellt, sagt sich Rupert, schnappt das schlanke Körbchen mit dem organischen Zerfall und verläßt für einen der wenigen Momente die Höhle der Guanchen. Das ist auch schon genug der Flucherei : »Schlimm ist es um mich bestellt!« – nachdem ihm Graf von Spiegelberg im Traum erschienen ist. Da lag er wie angewurzelt in seinem Bett, die Augen – das wettet er heute noch – aufgerissen wie unter dem Einfluß von Atropin – um ihm zu sagen, daß er selbst zwar 1557 in der Schlacht bei Saint-Quentin gefallen sei, aber das mitnichten bedeute, daß damit derer von Spiegelberg der Erdscheibe abhold geworden seien. »Eingemündet sind wir in derer von der Lippe, die unser Hab und Gut und die Stühle und das Silber und das alles wiederum nach derer von Nassau verschacherten. Oder was glaubst du, warum unser Hirsch in deren Wappen gepfercht ist, häh?«

Rupert, der ohnehin kaum etwas glaubt, hatte überhaupt keine Vorstellung von einem Wappen, Wappen waren ihm richtig, richtig egal. »Wer … was … ?«

Philipp wartet, er hat im Jenseits den Vorteil bequemer Zeitempfindung, aber es wird kein Satz, den Rupert da versucht. »Du träumst nicht! Du denkst doch wohl nicht etwa im Traum daran, mich hier zu erträumen! Ich habe dir etwas Wichtiges mitzuteilen. Ich bin so etwas wie dein achtmalgrößter Ahn. Sagt dir das etwas?«

Rupert ächzt, fühlt sich schwer, sein Lufthunger nimmt zu im Angesicht des Wesens, das Müttern die Milch zu stehlen imstande sein könnte. Aber immerhin war das sein erster Traum von einem maximilianischen Riefelharnisch-Typen, vielleicht lohnte es sich schon aus diesem Grund, morgen eine Imperiumflasche Sekt aufzutun und mit dem Inhalt den Namen des Grafen zu gurgeln. Im Augenblick wüßte er nur zu gern, wie er dieses Gespenst verscheuchen sollte. »Aufwachen!«

Der Ritter ist verblüfft, verschränkt die Arme, steht da wie Tempora auf Elfenbein und wartet, ob Rupert sich noch einmal zum Erwachen ruft. »Rupert, das hier ist keine Gaudi. Morgen schon mußt du dich und deine Flöte packen, um mir auf die Kanarischen Inseln zu folgen. Dort wirst du nicht weniger zu tun haben, als die Winde loszupfeifen.«  

Als er am nächsten Tag erwachte, war der Keim der großen Schicksalsnacht bereits durch Wasser, Wärme, Sauerstoff und Alptraum zu einer Sprossachse geworden.

Wandern, ach Wandern weit in die Fern
Wandern, ach Wandern all überall,
weiter nur eilen durchs ganze Land,
nie lange verweilen, von niemand gekannt,
Nicht Heimat, nicht Liebe beward mir zuteil,
nur immer Wandern rastlos in Eil.

Wildprets Natternkopf, ein fleischgewordener Wind, Drachenbäume, die Strand-Wolfsmilch sieht er, Lorbeerwälder greifen nach seinen Traumbildern, die aus seinen Poren blinzeln, Kettenfarne beklettern ihn, kicherndes Schöllkraut rings herum, dann ein Gesicht. Ein Gesicht? Oh ja! Es ist das sehnsüchtig verschlafene Topfpflanzen-Gesicht eines gewissen Willi Kreutzmann, das sich durch die Sukkulenten schiebt, so ein Zeitriß-Erlebnis eben, wie es jeder einmal mitmacht, wenn er nicht an dem Fleck erwacht, wo er sich gebettet hat. Es gibt immer irgendwo ein Rätsel, ein diffuses Licht oder sogar ein Licht, das ein anderes Licht negiert, alles ist gleichermaßen wahrscheinlich und unwahrscheinlich, es graust der Sau – so hätte das seine Großmutter genannt – die beste Art, ein Paradoxon zu bezeichnen. Toll, der menschliche Geist, nicht? In diesem ganzen Unfug, diesem Gemisch aus Zufall und Willkür, sieht er doch immer noch einen roten Faden durch die Geschichte flitzen, schließt von seiner aufgeräumten Schublade, der sauberen Küche, der gebügelten Wäsche, auf das ganze Dasein. Hier also das Rätsel : wie konnte es einem selbst im Traum Sabber verlierenden Urahn gelingen konnte, ihn auf die Kanaren zu schleppen? Vor dem Fenster (rund, lehmig und ohne Scheibe) erblüht gerade die Ewigkeit in ihrer unbeständigsten Form, einem Blumenballett. Nur Rupert ist vergänglich, fühlt sich vielleicht so, weil er bei den Mimosen und Veilchen nicht viel zu melden hat (als Gärtner wäre er ein Elefant mit einer Pinzette). Gestern hat er noch an eine beständige Weltordnung geglaubt, an feste Regeln, die man zwar aufweichen konnte, die aber – der Fischhaut nach zu langem Bade gleich – wieder in eine feste Form zurücksprangen. Aber noch einmal zurück zur Ewigkeit : Ist sie nicht aus eben dem Grunde ‹ewig›, weil sie sich nicht gerade wählerisch gibt, was unter ihrer Herrschaft geschieht? Das ist bei weitem untertrieben, Unzucht zettelt sie an, klatschend, alle Wege kreuzen sich früher oder später, die was-wäre-wenn-Frage liebt sie nachgerade, wissend, daß ihre Hoheit nicht eher endet, als daß alle Möglichkeiten restlos ausgeschöpft sind – also nie. Nur deshalb nennt sie sich, wie ihre Untertanen auch, Ewigkeit. Da wird wohl so schnell keine andere Ewigkeit des Weges kommen, um sie zu belagern, auszuhungern und zur Kapitulation zu bewegen. Ist das nicht zumindest ein bißchen göttlich? In einem unendlich langen Zeitraum passiert ja irgendwann alles. Gut … nicht wirklich alles, denn dann wäre ja Schluß mit der guten alten Ewigkeit – aber doch jede Menge! Und jede Menge ist wirklich wirklich viel.

»So, Rupert …« Gott, diese Stimme! Rupert wirbelt herum, würde die Terrine fallen gelassen haben, seine Schläuche scheinen sich zu lockern. Das ist nicht einfach Angst, das ist völliges Entsetzen auf der Basis unartikulierbarer Verwirrung. Da steht er: Philipp, die Stahlhände in die Stahltaille gedrückt, mit offenem Visier, leicht rostig, der Knabe, vielleicht ist es in der Traumwelt einfach zu feucht. »Es wird Zeit, die Flöte an die Lippen zu setzen!« Plötzlich liegt das Ding vor ihm auf dem Boden, keine zwei Meter entfernt.

»Ich kann das überhaupt nicht!«

Das Ding, das dem Midas Eselsohren bescherte, weil er die Winde des Pan mehr mochte als das Gebrüte des Phoebus auf den Saiten.

»Jetzt nimm’ dir schon die Flöte und lüfte die Welt! Stinkt’s dir denn nicht auch erbärmlich?«

»Ich hab’s noch nicht begriffen! Wirklich nicht.« Rupert, der aussieht, als wolle er augenblicklich ergrauen, wenn er nur wüßte, wie er das Melanin aus seinem Stroh streifen soll, tastet nach dem – wie es aussieht – Schilf?

»Syrinx«, nickt Philipp, benimmt sich dabei wie eine Luftspiegelung, was bedeutet, daß seine Beine überhaupt nicht zu sehen sind, dafür aber sein umgekehrtes Spiegelbild unter ihm, so daß es anmutet, als wäre ein zweiter Ritter direkt an dessen Eiern befestigt.

»Und wenn ich hineinblase…«

»Brechen die Winde los, weil du ein Spiegelberg bist. Ich selbst kann ja wohl schlecht meine Lippen, gerötet und verdorrt, Halleluja, über das Mundstück stülpen! Ich bin ein stinkender Haufen Knochen und weiß nicht einmal, wo ich liege… aber du, beim Rattenfänger, wirst den Zauber einer totgeprahlten Welt erneut über den Erdenball jagen. Geschwinde, ihr Winde … na, nun blas schon!«

Rupert tat, wie ihm geheißen. Ein schauerliches Quaken quengelte sich aus dem Rohr, sein fragender Blick wurstelte sich in Richtung des ehernen Edelmannes, nichts anderes als ein handfestes Antoniusfeuer, im übrigen, dem am späten Nachmittag ein Rumoren in den Kaldaunen folgen wird. Auf die Idee, sich an einem Mutterkorn vergiftet zu haben, kommt Rupert nicht, und wenn er es wüßte: er ist wirklich auf den Kanaren gelandet, wie stark muß das Ergotamin sein, um ihn so einfach zu verpflanzen?

Es ringelt und klingelt an der Tür (der Tür? – jaja). Wer versucht denn da, durch Läuten in den Lorbeerwald Einlass zu heischen? Noch einmal Atem schöpfen, den Luftbrunnen melken, vielleicht gelingt es ihm diesmal, das Lied der Ahnen… aber irgend etwas stimmt hier nicht, wo kommen die ganzen Leute her?

Egon Brunswik gibt unterdessen das Kommando, mit dem Netz loszulegen. »Schafft die Leute hier weg, aber lasst sie vorher noch ein Erinnerungsfoto schießen. Ich will Tatsachenberichte! Ihr wisst, was das heißt? Subjektive Meinungen, unterschiedliche Ebenen und Winkel, Spekulationen, ich will ein verdammtes Possenspiel!«

»Was sollen wir mit dem Schienbein machen, Herr Kommissar?«

»Ein Schienbein ist das? Tatsächlich?« Der Veitstänzer windet sich, für ihn eine willkommene Apokalypse, kein Akt der Gnade sondern der Strafe, der einzige Spiegelberg, der das Lied seiner Ahnen vergessen zu haben scheint, das die Ratten kalt ließ, aber dafür Myriaden von Kinder rekrutierte. »Wo seid ihr, Horden der Verdammnis, Musikantensold, Nachwuchs unter Nichtwüchsigen!« brüllt der geschenkähnlich Verpackte auf dem Weg zum Kastenwagen.

»Ist es frisch?« Brunswik, der sich der Zeichensprache bedient, zu der ein neugieriger, leicht debiler Gesichtsausdruck gehört.

»Das Schienbein?« Der Netzfeldwebel, das erzählt er heute seiner Liebsten, um etwas anzugeben. Sollte man das nicht? Wird’s gefährlicher aussehen lassen, er in Gefahr, die Kollegen nicht auf der Höhe, irritiert von einem nackten Flitzer, der Selbstgespräche führt, ich aber kam an, sagte, man müsse da mit dem Netz vorgehen, der könne gemeingefährlich werden, nicken, übernehmen Sie das?, ich übernehme das, ich glaube, daß ich es schaffe, der ist zwar nicht bewaffnet, sag ich, aber wie man so hört, haben solche Typen Bärenkräfte und auch so einen Fangschuß schlucken die, wenn die so erregt sind, also nicht sexuell … obwohl man das nicht wissen kann, wer ein Schienbein für eine Flöte hält, ich also los…

»Natürlich das Schienbein, pennen Sie?«

Zwei angedeutete Diener. »Ich …«

»Finden Sie’s raus!« Abgang Brunswik, in Richtung der Fahrzeuge.

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