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Der wilde Wind -1-

Last updated on 13. Juli 2024

Anna Schikowski hatte es sich angewöhnt, ihre ›große Wäsche‹  in die Nachtstunden zu verlegen. Ihre in jungen Jahren lapidare innere Unruhe hatte sich Laufe der Zeit zu einer ausgemachten Schlaflosigkeit gesteigert, die auch der zermürbende Haushalt nicht zum Erliegen bringen konnte. Sie hatte dem entgegenzuwirken versucht, indem sie immer etwas mehr tat, und das, was sie tat, zu beschleunigen. So wuchs ihr Garten zu einem majestätischen Kräutergarten heran, Kohl, Karotten, Sellerie, Zwiebeln, Knoblauch, Schwarze Johannisbeeren, Äpfel, Quitten und Zwetschgen gediehen neben Majoran, Dost und Echtem Thymian, sie extrahierte ätherische Öle, Bitterstoffe, Gerbstoffe, Schleimstoffe, Alkaloide und herzwirksame Glykoside, Anthrazenderivate und Flavonoide. Im Zuge ihrer Kenntnisse hatte sie aufgehört, für die Wäsche Buchenasche und abgestandenen Urin zu verwenden, und mischte Soda mit Zitronenöl und Schmierseife zusammen, die sie mit Ätzkali und Sonnenblumenöl ebenfalls selbst anrührte.

Als Selma, die Nachbarin, die einst den Miss-Marple-Ähnlichkeitswettbewerb gewonnen hatte, förmlich an ihrem Krebs erstickt war, beerbte sie auch deren Garten. Nichts als Blumen hat die im Kopf, sagte Hermann zu ihr, als sich diese zusätzliche Aufgabe anzubahnen schien, du willst doch nicht auch nur Blumen im Kopf haben, oder? Nein … im Kopf wollte sie keine Blumen haben, in den vielen vorzeigbaren Vasen, die noch ungebraucht in den Schränken herumlümmelten, schon. Zumindest bis sie an einer Luftembolie zugrunde gehen würden. Schnittblumen schienen ein Synonym für den Müßiggang der Hausfrau zu sein, wohingegen die ein oder andere eingevaste Nelke am Sonntagstisch nahezu erforderlich war, um diesen Tag, an dem sie gemeinsam bei schönem Wetter zum Weißenstädter See hinausfuhren, nicht bereits in den Morgenstunden scheitern zu lassen.

Anna taktete schneller. Selbst dem Staub, der sich unter Kommoden, Betten und hinter den Schränken einzurichten gedachte, blieb die Entdeckung mit anschließender Eliminierung durch ihre flinke Hand nicht erspart. Als sie einen Progreß-Staubsauger zum Hochzeitstag bekam, blieb sie dennoch beim Reisigbesen und dem Teppichklopfer, von den kleinen Helfern in der Küche, die in Tüten steckten, hielt sie wenig, Fond und Jus, die sie für ihre Suppe am Samstag und die Sauce am Sonntag benötigte, begann sie bereits am Montag anzusetzen. Hermann kam täglich von seiner Arbeit als Vertreter für Grabsteine, die er, bis es um seinen Rücken nicht mehr so gut bestellt war, selbst gravierte, in ein überaus gepflegtes und strahlendes Haus. Und darum ging es ja im Leben, oder worum ging es sonst?

Gegen 16 Uhr, wenn sie sich den nachmittäglichen Kaffee brühte und sich mit einem selbstgebackenen Kuchen niedersetzte, verspürte sie einen Hauch der Müdigkeit, die immer seltener ihren Geist zu erfassen mochte, ein angenehmes Kribbeln in den Beinen und eine leichte Betäubung in der Nähe der Stirnlappen. Hätte sie sich um diese Zeit ins Bett gelegt, wäre sie wohl tatsächlich eingeschlummert. In vier Stunden wird es noch besser sein, dachte sie zu Beginn ihrer Wechseljahre. Sie war der Meinung, wenn sie sich Nacht für Nacht wie eine Braut kleidete, würde das ihre Stimmung in die richtige Frequenz bewegen, doch sobald sie dann tatsächlich lag, gingen ihr die Ereignisse des Tages derart grob im Kopf herum, daß ihre Schläfrigkeit, die noch am Nachmittag wie eine Verheißung geklungen hatte, wie weggeblasen war, unauffindbar wie der Staub, von dem man doch annehmen durfte, daß er einen unbezwingbaren Gegner abgab, aber in Annas Refugium nie eine Besatzungsmacht werden würde. Der Schlaf kam nicht und kam immer weniger. Oft döste sie ein und träumte von Dingen, die sie sich vornahm zu merken, was ihr aber bis auf wenige Ausnahmen nicht gelingen wollte.  Wenn sie erwachte und auf den klickernden Wecker schielte, waren oft nicht mehr als ein paar Minuten verstrichen. Zwei Kinder hatte sie zur Welt und aus dem Haus gebracht, aber außer einem wuchernden Garten, der in Wirklichkeit aus zwei wuchernde Gärten bestand, und einer Küche, deren Wohlgerüche selbst durch die mit Schimmel überzogenen Mauern drangen, durch gleichförmige Tage, Wochen, Monate, durch die Jahre schipperten, besaß sie nichts, das ihre Persönlichkeit vergolden könnte. Die Liebe zwischen ihr und Hermann war den Weg aller Lieben gegangen, die sich lange genug damit begnügten, den Status Quo zu erhalten, ohne ein utopisches Ziel zumindest formuliert zu haben. Steinern und grau wie ein Konzern, der seine Mitarbeiter benutzt, aber nicht kennt, reichte sie das Zepter an das Gewöhnliche, an das Mittelmaß weiter. So war nichts weiter geblieben als die Materialisation des Sprichworts, daß das Leben stets weiterging, was immer auch geschah, und daß ihr Leben so lange weiterging, bis es einmal enden würde. In ihren Tagträumen dachte sie nicht an eine Zukunft, sondern immer nur an die Vergangenheit, die trotz des Krieges vornehmlich aus jugendlicher Ahnungslosigkeit bestanden hatte. Ein Schrecken, der sich manifestiert, kann bei gut geführtem Optimismus überwunden werden, das ausgerufene Paradies, das sich aus zunehmender Routine und gesellschaftlichen Konventionen zusammensetzt, ist hingegen das eigentliche, das unüberwindbare Grauen.

Daß immer alles langsam beginnt, schleichend und unmerklich, daß sich die Gefahren im Nacken bemerkbar machen, in den Poren brodeln, zunächst die Haarwurzeln attackieren, bevor das Unglück geschieht, ist eine Wahrheit in den Büchern des Mesmerismus, in denen die Wechselwirkung mit dem Fluidum des Äthers eingehend geschildert wird. Doch noch nachdem wir Menschen, die wir die Bastarde einer kosmischen Rasse sind, aufhörten, wie die Tiere den Instinkt zu nutzen, rochen wir die Stille zwischen den Ereignissen, weil wir aus einer einzigen sich fortpflanzenden Nase bestehen, und es auch heute nicht lassen können, dieses mittlerweile völlig verkümmerte Organ, einst der Stolz eines längst zu einem Schwarzen Loch gewordenen Planeten, tief in die Wäsche anderer zu versenken. Unsere Augen sind nicht und werden nie im Bilde sein, bauen die uns umgebenden Dinge (wenn es sich denn um Dinge handelt) nahezu vollständig falsch auf, was zeitweise zu verheerenden Irrtümern führt, die uns aus einem unerklärlichen Grund nicht zu kümmern scheinen – aber die Nase erinnert uns an den Urgrund unserer schleimabsorbierenden-  und ausscheidenden Spezies. Freilich gingen wir dazu über, unsere Verrücktheit durch einen billigen psychologischen Trick einer höheren Entwicklung zuzuschreiben, von der allerdings weit und breit nichts zu sehen ist. Daß also immer alles langsam beginnt, um uns Zeit zu lassen, die elektrische Ladung zu erschnuppern, bevor der Blitz das Russische Roulette eröffnet, traf auch auf den Sturm der Winterdämonen zu, deren barfüßige Vorhut bereits nach dem Mittagessen aus allen Wolken fiel. Keine zwei Stunden später wurde das allgemeine Schneeschippen eingestellt, weil sich zu den fallenden Flocken auch die Verwehungen gesellten, man also bald nicht mehr wußte, wo sich das eigene Haus befand. Wer konnte, verbarrikadierte sich, schlummerte glühweintrunken vor den knallenden Holzscheiten oder legte sich etwas früher zu Bett. In drei Tagen sollte sich Weihnachten wiederholen, außerhalb der Städte war man längst darauf vorbereitet, die Speisekammern und Keller barsten unter der Last der für die Dezemberorgie vorgesehenen Hortung. Hier wie überall auf der Welt würde der ein oder andere Baum in Brand geraten, solidarisch eine glühende Gemeinschaft bilden, vielleicht war mehr drin, vielleicht konnte man das ganze Haus erwischen.

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