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Das verschleierte Bildnis zu Sais

Last updated on 14. Juli 2024

Der Krankenwagen trudelt ein und wendet ungestüm. Sein blaues Licht verscheucht die Schneeblindheit. Die weißbraune Grütze tropft aus den Radkästen. Beinahe gleichzeitig trifft ein neuer Funkspruch ein und plappert munter in Michels Volkswagen vor sich hin, der quer über der Straße steht. Die Beamten haben aufgehört, sich um die Bergung zu kümmern und diskutieren gebührlich, auf Schaufeln, Besen und Rechen gestützt, mit den Fahrern, die um jeden Preis hier durch wollen – anstatt die B15 zu nehmen – und dabei wild mit den Händen gestikulieren und damit ein neues Alphabet probelaufen lassen. Die meisten von ihnen sind ausgestiegen, heben sich gegen den Horizont ab wie Manschetten, die das Bündchen der Landschaft verschließen, wie Stulpen am Rande der morgendlichen Szenerie, um sich nicht entgehen zu lassen, was sich dann vielleicht im Bekanntenkreis ausschlachten lässt.

Jetzt, denkt Hohenner und schreitet zur Tat. Michels unterhält sich lebhaft mit der Zentrale, die Zeit ist gekommen. Der Arzt beugt sich über Max Schirmer, wirft einen reflexhaften Blick zurück – keiner achtet auf ihn. Bald werde ich Argos sein. Schatzkarten habe ich studiert und bin ihnen gefolgt, um Mist in meine Hände zu nehmen, längst verfallenes Zeugnis unedler Metalle.

Die Augen bleiben stumm, mit Daumen und Zeigefinger zieht er die Lider des Leichnams nach oben, gar nicht so einfach bei dieser Kälte, fährt dann mit einem Löffel, vom Tränenapparat angefangen, in die Augenhöhle und durchtrennt dabei die Augenmuskulatur. Die beiden Augäpfel verstaut er in der Innentasche seines Mantels, hartgefroren, wie Murmeln fühlen sie sich an. Niemand da, der dir die Höhlen mit Gazellenmilch auswäscht. Ein verklärtes Lächeln bemächtigt sich seiner Lippen.

In seinen Träumen zeigt Hohenner seine außergewöhnliche Kollektion allnächtlich dem Wanderer, der doch ein Gefangener ist (oder gerade weil er ein Gefangener ist), den er immer nur in seinen Träumen antrifft. Er nennt ihn den ›verbrannte Helden‹, denn im Traum weiß er Dinge über diese Erscheinung, die der Heiligengeschichte des Bartholomäus verblüffend nahe kommt.

»Gefallen sie dir?«

»Ja, sie gefallen mir. Wo hast du sie her?«

»Ich habe sie mir erarbeitet. Sie gefallen dir wirklich?«

»Ja, wirklich. Sie sehen aus, als könnten sie sehen.«

»Oh, sie konnten sehen. Sie sahen viel. Sie alle sahen Dinge, die ich nie gesehen habe.«

»Hast Du sie deshalb archiviert?«

»Ich habe sie archiviert, damit sie weiterhin sehen können, niemals damit aufhören, zu sehen, in sich gekehrt. Niemals müde. Sie haben keine Lider. Sie können nicht schlafen. Sie werden immer weiter sehen. Sie werden Dinge sehen, die ich nie sah.«

Der Himmel prangt maulbeerfarben, Wolken galoppieren in undefinierbarer Geschwindigkeit dahin, verschwinden hinter dem Irrlicht, tauchen erneut wieder auf.

Man kommt aus dem Nirgendwo und man geht nirgendwo hin. Nur Augen sieht er in seinen Träumen, weit aufgerissen starren sie ihn lidlos an. Er sieht Menschen, die in jeder ihrer Körperöffnung jeweils ein Auge stecken haben, dort aber, wo sie von Natur aus hingehören, klaffen Abgründe, winden sich Maden, die aus dem Gewebe hängen, das mit Schwert und Lanze gegen die Verwesung streitet. Die Welt braucht einen Beobachter, das Gesetz der Existenz ist von einem Zuschauer abhängig. Quälende Blicke, gequälte Blicke. Sämtliche Rezeptoren sind blind für die Qualität der Reize, sprechen lediglich auf die Quantität an. Weder Licht noch Farben sind da draußen, kein violetter Himmel, nur Wellen, Wellen, Wellen; weder Schall noch Musik sind da draußen, nur periodische Schwankungen der Luft; weder Wärme noch Kälte sind da draußen, nur Moleküle, die sich mit kinetischer Energie bewegen.

»Alle mal herhören … es gibt noch einen!«, ruft Michels neben seinem Wagen stehend, das Funkgerät in der Hand, ein unfassbares Instrument, bedient von einem fassungslosen Menschen.

»Herr Doktor? Sie sollten mit mir kommen.«

»Ich bin Ihnen übrigens sehr dankbar, dass Sie bei diesem Scheißwetter gekommen sind«, sagt Michels zu seinem Lenkrad, so dass auch Hohenner es hören kann, der sich nicht die Mühe gemacht hat, den Sitz auf seine Größe einzustellen, wie Sperrholz auf dem Beifahrersitz lümmelt und nicht antwortet, weshalb er einen flüchtigen Blick von der Seite erntet, bevor Michels sich wieder auf seine dreißig Stundenkilometer konzentriert. Hohenner sieht aus wie ein Bubo Bubo mit tief hängenden Backen und nicht vorhandenen Lippen, mit einer Haarattrappe, die auf die Kopfhaut gemalt ist.

»Ich war neugierig«, sagt der Arzt nach reichlicher Verzögerung. »Außerdem habe ich nicht viel zu tun.« Die Augen in seiner Manteltasche tauen auf, er kann das nasse Erwachen fühlen. Vielleicht hätte er eine Handvoll Schnee dazu packen sollen. »Warum haben Sie die Straße gesperrt?«

»Reaktion, nichts weiter. Ein kleines Gefühl von Ordnung. Sinnlos zwar, aber mir wird dadurch eindeutig wärmer hier drin.« Michels boxt auf seinen Brustkorb. Die Landschaft wirkt wie die Übung eines arktischen Pinsels. Mitten auf der Straße vor der stillgelegten Porzellanfabrik Schumann & Schreider steht jemand völlig eingehüllt in einen zu großen Pelzmantel und wedelt wie verrückt mit seinen Armen.

»Dann sind wir wohl da «, sagt Michels.

Die Leiche liegt nicht weit entfernt von der Straße auf dem Bauch im Schnee, vom Gestöber nahezu völlig abgedeckt, das allerdings nicht zu verbergen vermag, dass dem Körper der halbe Rücken fehlt. Der Schnee hat dort eine unregelmäßige Einbuchtung modelliert, das Tal der Sorge, und sieht sich nicht imstande, mit seinem reinen Weiß den purpurnen Ton zu überdecken. Auch hier fehlen einige Organe. Eine Niere liegt angenagt neben dem Kopf, der Darm bleibt unvollständig – und ebenfalls die Milz. Die Bissspuren sind hier eindeutig zu erkennen. Hohenner bildet sich ein, die Wonne des verzogenen Mauls anhand der Spuren zu sehen, die Lust am Biss.

»Ein Wolf, sagen Sie?«

»Ich muss gestehen, ich weiß es nicht«, sagt er, und nach einem kurzen Zögern: »Meine Mutter sagte früher immer, ich solle singen, wenn es dunkel wird.«

»Aber es ist hell.«

»Nur um uns herum, weil wir zufällig sehen. Wären wir blind, was wäre dann?«

»Ja meinen Sie denn, Blinde singen die ganze Zeit?«

»Das meine ich; aber sie singen stumm.«

»Sie sind ein merkwürdiger Arzt. Gestatten Sie mir die Frage, seit wann Sie nicht mehr praktizieren?«

»Erst seit wenigen Jahren nicht mehr. Man holt mich nur noch zu den Toten, also ist Mediziner vielleicht doch ein besserer Begriff. Sie dürfen mich aber auch Totenschein-Ingenieur nennen. Meine Neffen tun das, freche Mäuler, jeder einzelne von ihnen. Wissen Sie, lebende Patienten verwirren mich. Ich finde keinerlei Ruhe in ihrem Verhalten, und in ihren Augen entdecke ich stets nur den Wunsch nach einer anderen Welt. Aber Sie sind ja ebenfalls hier; ich vermute, auch das ist kein Geschenk für ihre Dienste.«

Jetzt sind wir auf einer maroden Leiter nach unten geklettert. Aber dieser verrückte Hund hat nicht unrecht. Kille kille Osterlamm – wer will deine Därme haʼm?

»Ich bin überhaupt nicht zuständig. Ich glaube nicht, dass es hier etwas zu untersuchen gibt.«

»Nichts oder alles. Gerüchte kann man nur untersuchen, in die Realität zwingen kann man sie nicht.«

»Ach? Kennen Sie am Ende gar nicht die Geschichte des Jahrmarktkünstlers, der seinen Hund das allbekannte Profil Voltaires aus einer Brotscheibe herausfressen ließ? Das war zunächst auch nur ein Gerücht.«

»Aber Sie wurden eines Besseren belehrt?«

»Mein Großvater sah es, damals in Paris.«

»Und es war ganz sicher Voltaire?«

»Woher soll ich das wissen?«

Die beiden Männer sehen aus wie Schneegespenster. Michels erkundigt sich bei der Frau, die sie zum Fundort geführt hat, und stellt fest, dass ihre Gestikulation nicht nur vorhin außer Kontrolle geraten war. Sie fuchtelt unkoordiniert mit ihren Armen und er muss sich vorsehen, nicht eine Hand ins Gesicht zu bekommen. Gesehen hat sie nichts, wollte nach etwaigen Sturmschäden Ausschau halten, und fand dann etwas, das sie zunächst für einen entsorgten Teppich hielt.

Michels schickt sie nach Hause. Windmühlenartig tappt sie von dannen.

»Was immer es war, es wollte nur an die Innereien. Leber, Niere, Lunge, Herz … die schmackhaften Kaldaunen. Sie sollten wirklich den Jäger informieren.«

»Was jagen wir denn nun wirklich?«

»Das verschleierte Bildnis zu Sais.«

»Oh! Während ich damit beschäftigt bin, meinen Magen zu beruhigen, haben Sie sogar Farbe angenommen. Außerdem weiß ich nicht, wovon Sie reden.«

Hohenner schüttelt den Kopf. Frischer Schnee verabschiedet sich perlend aus seinen dünnen Haaren. »Medizinisches Interesse. Blut gerät in Wallung. Und Sais ist nur eine Metapher auf die Unergründlichkeit der Natur.«

Michels nickt und stapft davon, vergisst aber nicht, Hohenner zu seinem Auto einzuladen. »Ich habe Kaffee dabei. Der schmeckt zwar wie Hochwasser in einem Kohlenkeller, aber er ist heiß und süß.«

»Lieber nicht … ich glaube, ich sehe mir die Wunden etwas genauer an, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Geben Sie nur auf die Spuren acht. Fassen Sie besser nichts an!«

Ich fasse hier nichts an, fast nichts!

Augen werfen die Reflexion zurück, das ist wie in einen Spiegel sehen. Man kann sich darin betrachten, oh ja, darf das aber nicht allzu lange tun, höchstens um sich eventuell die Borsten aus dem Gesicht zu sensen, auf keinen Fall aus Eitelkeit. Abbild, Abklatsch, Augenlicht der tiefsten Tiefe!

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