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Pechrabella

Last updated on 14. Juli 2024

Esrabella Gräf hatte ihr Leben nie gelebt: sehr früh schon Magd am Hof des Vaters, wurde sie jung in die Ehe gegeben, vor der sie sich zu Recht gefürchtet hatte. Ihr zukünftiger Gemahl hatte einige recht merkwürdige Angewohnheiten und keiner konnte sagen, ob er sich die nach der Hochzeit abgewöhnen würde. Esrabella hätte gesagt, sie habe in die Abgründe eines Mannes geblickt, der als Säugling mit Schnaps ruhig gestellt, später der Gespiele seiner eigenen Mutter wurde, nachdem der Vater sich bei einem Jagdunfall den Hoden abgeschossen hatte. Er überlebte, aber vielleicht wäre es für die Familie besser gewesen, er wäre gestorben. (Gott verbiete mir mein Mundwerk!)

Ihrer Zeit war sie schon immer fern gewesen, kam zeitgleich mit den vielen Holzfällern hier an, mit denen ihr Vater Pechhandel getrieben hatte.

In vielen Jahrhunderten standen die Sumpfwälder mit ihren Röhrichten unbeeindruckt von einem – zugegeben – langsamen Lauf der Menschengeschicke. Wollgras flankierte die Moorkiefern, seggenreiche Flach- und Übergangsmoore fanden sich verwoben mit Pfeifengrasbrachen und Borstgrasrasen, so dass man sich, wenn man darauf spazieren ging, vorkam wie eine kleine Mücke auf einem Bisonfell. Hier wurden Hausmittel, Schmierstoffe und Dichtmaterial aus Pech gewonnen, dem Harz der Fichten, Kiefern, Tannen und Lärchen, die sich hier in großer Zahl in den Himmel schraubten. Das Harzen der Bäume geschah in folgender Weise: Man befreite im Juni und Juli die Stämme von Bäumen, auf zwei Drittel der Stammbreite, bis auf eine bestimmte Höhe, von der Rinde und entfernte den Splint. Das aus der Wunde fließende Weichharz sammelte man durch Abkratzen und brachte es in die Pechhütte. Hier wurde es in kupfernen oder eisernen Kesseln geschmolzen, durch Abschöpfen der Verunreinigung und Durchseihen der geschmolzenen Masse gereinigt. Oder man nutze die Pechpfanne, indem man in sie längsgespaltenes, verharztes Kiefernholz aufstellte und dieses mit einer Rasenschicht bedeckte. Dann zündete man den Inhalt an – und ähnlich wie bei der Holzkohlegewinnung begann eine Art Verschwelung. Ein darunter gestelltes Gefäß nahm das tropfende Pech auf. Man verrührte es im Verhältnis eins zu vier mit Leinöl. Was dabei herauskam, wurde zum Pichen der Bierfässer benötigt, denn Bier – beim Karpfengott – ist zwar keine oberfränkische Erfindung, aber es gibt nirgendwo auf der Welt besseres, und vor allem nirgendwo mehr Brauereien.

Esrabella lauschte den Stimmen in ihrem Kopf, vor allem der Stimme ihres Vaters, einem der letzten Pechbrenner, wie er in der Kemenate sitzend, nachdem die Sonne längst schon untergegangen war, seine harzig gewordenen Stiefel noch eine Weile anbehielt, weil die Füße erst abschwellen mussten (an den Donnerstagen, wenn es im Gasthof Schlachtschüssel gab, zog er sie überhaupt nie aus, weil er an diesem Tag einen Rausch besonderer Güte mit nach Hause brachte, und der machte ihn fast doppelt so schwer als er eh schon war, erklärte er seiner Tochter).

»Aber wenn ich an diesem Tag nicht so viel Bier tränke, dann wäre der Hopfen beleidigt und würde sich von seiner bitterer Seite zeigen. Ein Mannsbild, das sich nicht einmal in der Woche in die goldgelben Wogen stürzt, ist ja gar keins, war nie eins, und wird wohl nie eins werden.«

Esrabella drehte einen Pechstein in den knotigen Fingern, von denen es heute nur noch wenige gab, weil sie, überwachsen, der Vergessenheit anheimgefallen sind, da auch die Menschen, die davon wussten, längst nicht mehr lebten.

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