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Der Weg nach Raha: 1 Madame Blandot

Last updated on 15. Juli 2024

Madame Blandot richtete ihr Gesicht, als ich die schmierige Glastüre aufstieß, durch die noch nie ein heller Strahl gedrungen war; fummelte die widerspenstigen Ausreißer zurück ins Haarnestest, stand seit 100 Jahren da, harrend auf den Münzentwerter, den Freier ihrer Leiblichkeit, den Kunden des Etablissements (oder Käufer eingefallener Häuslichkeit).

Eine geschminkte Freundlichkeit erschien zwischen den neu angeordneten Falten, ihre dicken Babyhände krabbelten schnell nebeneinander, ganz abwartende Geschäftigkeit, bereit, wenn es sein müsste, Servietten zu falten, Kugelschreiber zu halten, Zeichen in die Luft zu malen, nach einer Kladde zu fassen, im Meer der Beliebigkeit zu schnorcheln. Hinter ihr schlief eine Katze im Post- und Schlüsselregal ihren Katzenschlaf, der, wie jeder weiß, magisch ist, erschafft er doch jene Welten in einer Form, wie es dem menschlichen Schlaf nur dann gelingt, wenn er auf Bewusstseinserweiternde Substanzen setzt.

»Sie bringen aber ein Wetter mit!«, sagte sie mit gespieltem Vorwurf. »Da werden Sie sich über ein gemütliches Zimmer sicher nicht beklagen!«

Ihre Backen glänzten wie vollreife Nektarinen. Ich trat näher und wäre beinahe über eine lose Bodendiele gefallen. »Ich weiß noch nicht, wie lange ich bleiben werde. Es kann sein, dass ich schneller abreise, als zu vermuten steht. Deshalb würde ich gerne täglich meine Rechnungen begleichen, wenn das kein Problem darstellt.«

»Vielleicht nehme ich Ihr Geld ja gar nicht«, sagte sie. »Hier kommt selten jemand vorbei, also können Sie sich denken, dass dies nicht meine einzige Einnahmequelle ist.«

Plötzlich begann sie mit einer Litanei: »Das Wetter drückt so sehr auf meine Augen! Ich wache jeden Morgen auf und habe Wasser in den Tränensäcken. Das schimmert dann blaugrau wie eine prall gefüllte Blase an einer Ferse. Sehen Sie!« Sie kam mit ihrem Gesicht so nahe an meines heran, dass ich zunächst befürchtete, sie wolle mich küssen. Ich krallte mich an der Theke fest, vor der sich das Stragulla nach oben wölbte. Darunter war Steinholz zu sehen. Doch sie drehte rechtzeitig ihren Backenhalter nach rechts und zeigte mir eines ihrer Augen zur Begutachtung. Dabei verzog sie ihren Mund, der nun nicht mehr unter der hartnäckig verklumpten Nase, sondern unter dem Ohr hing, und riss das Auge auf, als könne man den Tränensack dadurch besser sehen, der im übrigen überhaupt nicht gefüllt schien.

Auswringen; das Trällern des Goldstrahls auf pures Wasser treffend. Die Luke öffnet sich trotzdem, auch wenn der schwarze Teer noch nicht zur Gänze verarbeitet ist, schnappt wie ein Fischmaul.

»Ich sehe es, vielen Dank.«

Sie entspannte sich. »Oh, Sie müssen sich nicht bedanken, wem sollte ich es denn sonst zeigen? Sie sind schließlich der einzige Gast! Können Sie sich das vorstellen?«

Wenn ich mich umsah, konnte ich es mir vorstellen.

»Früher war das ja mal ein Hotel dʼamour, sozusagen.« Sie schlug beschämt eine Hand vor die Lippen, beobachtete mich aber mit ihrem sumpfigen Blick sehr genau.

»Verstehe«, erwiderte ich und nickte. »Und jetzt ist es…?«

Sie hob den rechten Zeigefinger, legte den Kopf leicht zurück, um ihr Doppelkinn besser in Szene zu setzen: »Für Pilger!« Dann zwinkerte sie verschwörerisch mit beiden Augen, weil ihr Gesichtsdifferential nicht zu funktionieren schien.

Darin nimmt man Pilger auf, ein Hotel, in dem man Pilger aufnimmt, stand in Dorns Notizbuch. Jetzt hatte sie das Wort selbst gewählt.

»Sagen Sie, was meinen Sie mit … Pilger?« fragte ich sie, nachdem sie keine Anstalten machte, ihre halbmondförmigen Striche wieder in die Nähe ihrer Augäpfel zu bringen. Möglicherweise hätte sie sogar geantwortet. Bevor ich das jedoch herausfinden konnte, rumpelte es über unseren Köpfen. Staub rieselte wie Mehl. Ich blickte nach oben zu einer abblätternden Decke voller Spinnweben und Risse, die sich nicht nur auf den Putz beschränkten. Die Katze öffnete ein Auge, gab vor, nichts zu erkennen, und bastelte weiter an ihrer Welt, in der man andernorts lebte.

»Ich dachte, ich wäre der einzige …«

Diesmal unterbrach sie mich prompt: »Aber ja, der einzige Gast, das sind Sie auch, aber nicht der einzige Bewohner! Das ist dieser Geiger.« Sie senkte ihre Stimme : »Sie wissen schon!«

Ich wusste nicht.

»Dieser…« Sie unterstützte das Senken ihrer Stimme, in dem sie die folgenden Worte mit dem Handrücken abschirmte, nachdem sie kurz einmal links und dann einmal nach rechts ihre Blicke schweifen ließ, ganz so, als erwarte sie, dass wir nicht völlig allein wären: »Erich Zann!«

Sie sah mich an als erwarte sie eine Reaktion, Fassungslosigkeit vielleicht, mit der sofortigen Bitte auf den Lippen, den Meister kennenlernen zu dürfen. (Carnegie Hall 1928, Erich Zann und sein Tonbandgerät zeichneten das Violinkonzert Nr. 1 in Es-Dur, Op. 6 von Niccolò Paganini auf; Zann verschwand gleich im Anschluss, ihn ängstigt an seinem eigenen Mitschnitt die Tatsache der Unveränderlichkeit. Warum sollte er jetzt noch spielen?)

»Sie mögen Geigenmusik, nicht wahr? Sie sehen aus, als seien Sie der Typ für Saiteninstrumente.«

»Saxophon.«

»Wusstʼ ich’s doch, wusstʼ ich’s doch!« ― Es rumpelte erneut und das kleine Lämpchen mit dem ziselierenden Schein, unter dem ein Totenkopf-Mobile schwebte, erzitterte.

»Sie werden ihn sowieso nicht zu Gesicht bekommen, er ist etwas …« Sie ließ den Zeigefinger neben ihrem Kopf rotieren: »Ich bekomme ihn ja selbst kaum zu sehen, er besteht aus Schall und Rauch. Und Fragen stellen wir hier nicht!«

Ihre wohlangelegte Maske nahm einen selbstgefälligen Ausdruck an, als sie meinen fragenden Blick entzifferte. »Sehen Sie, in diesem mysteriösen Gewerbe kann man nur so weit kommen, wenn man den Gästen (und Bewohnern) ihre Privatsphäre lässt. Sie gehen da hoch in ihr Zimmer und sind fortan auf sich allein gestellt. Es gibt keinen besseren Ort, um sich das Leben zu nehmen; aber das wollen Sie ja nicht, Sie befinden sich auf der Durchreise, stimmtʼs, Pilger?«

Sie knallte den Schlüssel auf den Tisch, ohne dass ich bemerkte, wo sie ihn hergenommen hatte. »Elf! Folgen Sie mir.«

Eingeschüchtert trottete ich hinter ihr her. Sicher ließ sich das mit dem Geld auch später regeln, schließlich konnte das hier nicht die Welt kosten. Ich wollte gerade meine beiden Koffer aufnehmen, als sie kreischte: »Lassen Sie Ihr Gepäck noch stehen. Es wird Ihnen niemand stehlen!«

»Haben Sie denn überhaupt Bedienstete hier?« Mich verunsicherte ihre merkwürdige Art, aber ich schob es auf die schrullige Einsamkeit, die ich hier vorfand. Als hätte sie meine Frage überhaupt nicht gehört, tappte sie weiter und führte mich vor das Zimmer 11.

»Es gibt einen.«

»Einen?«

»Einen Angestellten. Aber er ist gerade nicht anwesend. Er hütet die Gänse unten am alten Weeth.«

Die Ziffern an der Tür waren mit Kreide auf das Holz gemalt.

»Das Merkwürdige ist …« Sie drehte sich, schon am Gehen, noch einmal zu mir um, wobei sie mich diesmal ernsthafter beäugte. Ich wartete mit dem Schlüssel in der Hand.

»Das Merkwürdige ist das Verschwinden! Sehen Sie sich die Stadt ruhig etwas genauer an, wenn Sie wollen. Sie verschwindet, und ich wette, Sie sind genau deshalb hier! Sie sehen aus wie jemand, der vor dem Verschwinden flieht.«

»Wie meinen Sie das?«, sagte ich und hielt den klobigen Schlüssel vor das fordernde Schlüsselloch. Der Schlüssel selbst war die Miniatur eines Schürhakens, eine rostige kleine Stange mit einem G-Punkt-Aufsatz, um tief in den Eingeweiden der Sperrmuskulatur wühlen zu können. Am anderen Ende hing eine Kugel an einer Kette aus meiner darum geschlossenen Hand, dort prangte die Zimmernummer.

»Sehen Sie es sich an. Sie sind ja noch ein paar Tage hier, vermute ich. Ihr Freund hat sich zumindest nicht davon abbringen lassen.«

Sie stand da wie der Koloss von Rhodos, hinter ihr das schwarze Loch der nach unten führenden Treppe. Ich senkte den Schlüssel und er wäre mir beinahe aus der Hand gerutscht, denn das war es! Madame Blandot wusste! Sie musste keine Fragen stellen, ich musste kein Formular ausfüllen. Das alles zählte hier nichts. Wir befanden uns bereits sehr weit in einer verschwundenen Welt, vielleicht sogar schon etwas über einen gedachten Rand hinaus. Scylla macht die rechte Seite unsicher, die linke die ruhelose Charybdis. Diese erfasst und verschlingt Schiffe und speit sie wieder aus, jene ist am dunklen Unterleib von wilden Hunden umgeben, hat das Gesicht einer Jungfrau. Sie wusste Bescheid. Das Hotel stand mir zur Verfügung. Ich durfte es mit dem Weltberühmten Erich Zann teilen, dem Pilger mit der Geige.

Ich werde ihnen jetzt einen Raum zeigen, der keine Wände hat, Flächen sind ihm unbekannt, auch der Boden, auf dem Sie stehen, hat keine Ausdehnung, das Wort wird Fleisch.

Niemand ist hier, nur diese Stimme, ich bin daran gewöhnt, dass man mich anspricht aus dem Hinterhalt. Dieser Raum ist eine Stadt, wieder bist du angekommen und blickst durch schmierige Fenster, auf eine andere Stadt hinaus, die sich mit Asphalt bedeckt, mit Beton füllt. Du kannst nicht auf die Straße gehen, so oft du auch das Zimmer verlässt, die Treppe nach unten, in der Hoffnung, diesmal schneller zu sein als das Verschwinden, als die Flocken, die zur Erde fallen. Erklärungen stehen an den Wänden: zufälliges Gekritzel, Beleidigungen, Telefonnummern, Fäkalphilosophie. Man sagt etwas laut an diesem Ort, er will nicht hören, antwortet nicht, man ritzt es in seine eigene Stirn, seinen Bauch, man zeichnet für die Ewigkeit, die es nicht gibt, Zeichen, auch Lufttraktate, zumindest vergänglich wie wir, wie die Zeit, die im ›Erd‹ aufgeweichten Inneren wie ein Nebelknecht durch die Welt irrt, die in ihrer Hauptsache aus Vorhängen besteht, aus Tälern, salzige Scharten in den Jagdgründen der Blicke, liegengelassen, um darüber hinweg zu sehen.

Alles ist von der Unendlichkeit gleich weit entfernt, keiner befindet sich an einem bestimmten Tag an einem bestimmten Ort, keiner kennt den Umfang seines Gesichts. Die Stimme der Buchstaben, die mir Dorn hinterlassen hatte. Mein ständiger Begleiter. Mich überkam das ungeheuer starke Bedürfnis, sie nach ihm zu fragen. Hatte er ihr anvertraut, dass ich ihm möglicherweise folgen würde?

»Ihr Freund ist hinübergeglitten; er konnte hin und her in der Zeit.«

»Was wissen Sie von ihm? Was hat er Ihnen gesagt?« Ich bekam nur ein tabakgefärbtes Krächzen zustande.

Madame Blandot legte die Fingerknöchel an ihr Kaiserstück und ließ ihr rechtes Bein geschmeidig vor und zurück zucken, vor und zurück. Ihr Schuh, der dabei unter ihrem Hosenanzug zum Vorschein kam, sah aus wie verziertes Marzipan, aber es war nur ein bemalter Pantoffel mit Stempelvergoldung. Wie würde sie reagieren, wenn ich mich auf den Boden fallen ließe, ihren Fuß schnappte und in den Schuh hinein biss? Vielleicht um mich meiner Umgebung und ihrer Clownerie anzupassen?

»Aber nun ruhen Sie sich erst einmal aus! Sie sehen recht blass aus um die Nase! Sollten Sie noch etwas benötigen, wissen Sie, wo Sie mich finden können!«

Sie ließ sie mich stehen und kollerte die Stufen hinab. Kurz bevor ihr Marmorschädel ebenfalls im Schacht des Treppenhauses verschwunden war, drehte sie ihn erneut in meine Richtung. »Ah, bevor ich es vergesse: keine Besuche von außerhalb! Ich glaube zwar nicht, dass es etwas bedeutet, aber bereits die Suche nach dieser Straße könnte sich für den Betreffenden als sehr gefährlich erweisen. Merkwürdige Dinge gehen vor sich, vergessen Sie das nicht; und wir nehmen nur Pilger auf, il faut qu’une porte soit ouverte ou fermée!«

Ich steckte den Schürhaken in die Öffnung und bekam eine Erektion, die rapide und schnell aufstand. Die Überraschung ließ mich einen Schritt zurücktreten. Keuchend blickte ich auf den Schlüssel, der im Loch steckte. Früher war das ein Hotel d’amour!

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