Drücken Sie „Enter“, um den Inhalte zu überspringen

Der Weg nach Raha: 2 Raha konnte überall sein

Last updated on 15. Juli 2024

Die Erregung ließ so schnell nach wie sie gekommen war, und ich probierte mich vorsichtig, in Erwartung eines neuerlichen Lustschubs, noch einmal an der Tür. Diesmal schnappte sie auf und schwebte wie von selbst nach innen, kaum dass ich die Drehung im Schlüsselloch vollendet hatte. Ich blieb eine Weile stehen und blickte hinein. Natürlich war das Zimmer nicht auf dem neuesten Stand, das hatte ich auch kaum erwartet, aber es war längst nicht so schäbig, wie ich es mir vorgestellt hatte, es roch nach uraltem Holz an nassen Stein. Als ich hineingegangen war und die schwere Tagesdecke weggezogen hatte, kam ein gestärktes, aber gilbes Bettzeug zum Vorschein, etwas feucht verströmte es denselben modrigen Geruch, der den Raum dominierte. Weil er darauf zu warten schien, hier herauszukommen, öffnete ich das beinahe blinde Fenster über dem Bett, dessen Scheibe mit Schlieren und Einschlüssen in Bleistegen gefasst war.

Hast du dir schon einmal überlegt, wie es wäre, wenn nichts mehr einen Sinn ergäbe, wenn all das, was du dir denkst, und das, was du fühlst, ja, sogar das, woran du dich zu erinnern glaubst, einfach nicht existierte, nicht wahr wäre? Diese Welt teilen sich noch andere Wesen mit uns, unsichtbare Dinge, vielleicht sogar fürchterliche Dinge. Unsere Technik hat sie nicht verschwinden lassen, aber uns dafür blind gemacht. Ich glaube, jetzt sind wir ihnen ausgeliefert, und all jene, die uns hätten etwas darüber sagen können, haben wir ausgerottet.

Dorn.

»Woher kommt es, dass alles, was wir zu wissen glauben, falsch ist?«

Nichts ist je geschehen, erinnere dich an meine Worte, es ist nie auch nur irgend etwas geschehen; du liegst in einem Blumenmeer und träumst dein Leben!

»Das glaube ich nicht!«

Oh, du wirst es glauben, ich verspreche es dir!

Ich saß unruhig an diesem wackeligen Tisch, legte Dorns Moleskine darauf und fingerte an den Seiten herum, um ein Geräusch zu verursachen. Diese zerfließende Stille gefiel mir nicht, kein Ticken einer Uhr, auch kein Knarzen einer Diele. Ich dachte kurz an Erich Zann, von dem ich außer Möbelrücken (und dem entsetzlichen Alt-Männer-Schlurfen) seit meinem Einzug nichts mehr zu hören bekam. Wer mochte er sein?

Der einzige Gast, das sind Sie auch, aber nicht der einzige Bewohner!

Ich verspürte eine gute Lust, mich in das unappetitliche Bett zu legen, um mit dem Träumen zu beginnen. Aber genauso wollte ich mir das Moleskine endlich in Ruhe ansehen. Ob ich nun wollte oder nicht, ich befand mich auf demselben Pfad, den vor mir Dorn eingeschlagen hatte. Ich hatte andere Gründe, versuchte ich mir zumindest einzureden, doch hier saß ich, in der Rue d’Auseil, in dieser Stadt, deren Namen ich nicht kannte. Dorn hatte ihn nicht notiert, er kannte ihn nicht. Sollte er wirklich (was ja noch gar nicht geklärt war) der Verfasser des Notizbuches sein? Die meisten Dinge, die darin standen, waren fahrig. Ich fand kurze Einträge, schlug blind eine Seite auf … hier :

Das Babylonische Paradies – Aralu – im westlichen Ozean, das ägyptische Seelenreich – Amenti -, liegt weit im Westen in der Mitte des Ozeans. Die Kelten behaupten, nach einer furchtbaren Naturkatastrophe, die ihre Heimat vernichtete, aus der Mitte des westlichen Ozeans zu kommen. Die Stämme Nordafrikas sprechen von einem westlichen Kontinent und Stämmen, die sich Atlantoi nannten. Auf den kanarischen Inseln gibt es eine Reihe uralter Höhlen, die Atalaya heißen. Die Araber glauben, dass ein Volk Ad vor der großen Flut lebte. Die Azteken kommen aus Aztlan, wobei atl »alle Wasser« bedeutet. Das Wort hat in Nordafrika dieselbe Bedeutung.

Oder hier, nun schon beunruhigender :

Immer dort, wo es zu irgendeiner gewaltigen Störung gekommen ist, wo Schrecken, Schmerz, Leid, Hass oder irgendeine Art intensiven Gefühls von überwältigendem Ausmaß erfahren wurde, wird ein derart nachhaltiger Eindruck in das Astrallicht geprägt.

Aber auch einfache Sätze fanden sich neben albernen Zitaten aus Kinderbüchern:

König Midas verwandelt alles in Gold, das er berührt.

Nichts davon wurde kommentiert, das fand ich außerordentlich. Es gab auch kein Datum über den Einträgen. Ich hätte das Notizbuch vermutlich gar nicht an mich genommen (Dorns ganze Bibliothek war von Merkwürdigkeiten übervoll gewesen), hätte ich nicht folgenden Satz auf der ersten Seite entdeckt (das Buch war mir heruntergefallen, als ich einen der vielen Stapel umsortierte):

Alle Rätsel haben in Raha ihren Ursprung.

Raha. Dieses eine Wort. Ich dachte immer, es wäre meine Erfindung gewesen, ein Traum aus meiner Kindheit, lange bevor ich Dorn überhaupt kennenlernte. Dabei konnte Raha überall sein, ein geheimer Ort, ein Versteck hinter einem Schrank, eine Kellerparzelle, ein Platz im Wald unter hängenden Tannenzweigen. Ja, natürlich … auch eine Stadt.

Gib den ersten Kommentar ab

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert