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Ich bin die Nacht: 13 Die Nacht hat Tausend Augen

Last updated on 15. Juli 2024

Thamyris, dem die Musen in einem Wettstreit, den er verlor, die Leier zerbrachen und das Augenlicht nahmen : das ist mehr als Influenca, weil man früher an den Einfluss der Sternkonstallation auf den Ausbruch der Epidemie glaubte, und jetzt ist die Katastrophe (unsere Welt) ein Ergebnis des Wissens, das expansiv ist, und nicht konservierend wie der Mythos.

Etwa eine Stunde später hatten sie Helmuts Leiche in kleine Stücke zersägt und mit der Karre zur Jauchegrube gebracht. Richard durchtrennte alle großen Knochen, bis sie ein handliches Format besaßen, und zerkleinerte auch den Schädel, bevor er alles in das Loch warf. Die Augen hatte Dr. Hohenner fachmännisch aus den Höhlen gepult und in einem Weckglas aus Marlieses Bestand in seine Praxis nach Hebanz mitgenommen.

»Und es waren doch die Wölfe!«, beharrte Finner, als sich die Männer der Umgebung in der Scheune hinter Richard Langers Lager, randvoll mit Schiffskörpern aus Polyester, am Abend versammelt hatten. »Es geht schon wieder los.«

Der Boden war übersät mit Teppichflicken, die verschüttetes Bier ausdünsteten. Abgebrochene Geweihe klagten, an die Wand geschraubt, gegen die Jagd nach Trophäen. Darunter, auf einem halbhohen Wandschrank mit teilweise abgelöstem Furnier, stand ein mittelgroßer Hamsterkäfig, in dem die weiße Ratte Fridolin hin und her raste, die Ludwig in seiner Küche hinter dem Spülstein gefangen hatte. Sie war groß wie eine Katze, ihre glühenden blassroten Augen, die eher orangefarben in die Scheune blickten, zeugten von einer bestialischen Intelligenz. Fridolin schien geeignet, das Wappentier eines Mörders zu werden, wenn es irgendwo einen gegeben hätte. Oder waren sie jetzt alle Mörder?

Schaler Hopfensaft tropfte unablässig durch angetrockneten grauen Schaum aus einem Holzhahn, der in einem Aluminiumfass steckte, auf dem in roter Schrift EKU stand. Die Hütte war eingerichtet worden, um Freitagabends den Schafkopf, ein Kartenspiel, zu beherbergen, und um dreckige Zoten über die von unzähligen Hintern abgeriebenen Bierbänke kriechen zu lassen. Manchmal fütterte Adam Fridolin, der ihn anstierte wie eine verhexte Gottheit das wohl auch getan hätte.

»Hier ist es still«, flüsterte Adam der Ratte zu und hielt ihr ein Wiener Würstchen hin. »Ich habe von Sachen geträumt, die dir sicherlich gefallen hätten.«

Fridolin nickte: »Ich weiß. Ich war in diesen Träumen dabei. In einer anderen Gestalt zwar, aber ich war da. «

»Du würdest mir den Finger abbeißen, wenn es mir einfiele, dich zu berühren, richtig?«

»Ja, das würde ich. Es tut mir Leid, dass ich dir nichts anderes sagen kann.«

»Du beißt die Hand, die dich füttert, könnte man sagen.«

»Könnte man sagen. Das ist ganz einfach. Du kannst mich am Leben halten oder nicht. Deine Entscheidung. Aber du solltest dir im Klaren sein, dass ich ein Killer bleibe, was immer auch geschieht. Das bedeutet auch, dass ich meinen eigenen Tod in Kauf nehmen muss.«

»Weißt du, wer Helmut umgebracht hat?«

Fridolin warf ihm noch einen bedauernden Blick zu und verzog sich dann majestätisch in einen Berg aus Sägespänen, in den er sich eingrub.

Richard Finners Kopf glänzte wie eine geölte Melone, und nicht sein Mund sprach die Worte aus, sondern sein Schnurrbart.

»Wie kommst du darauf, dass es Wölfe waren? Ich glaube, mittlerweile dürfte jedem klar sein, dass dein Sohn abgeschlachtet wurde.« Ludwig war die ganze Sache unangenehm. Er hasste Finner regelrecht und wäre froh darüber gewesen, wenn er von hier für immer verschwunden wäre, mitsamt seinem Stall. Jeder wusste, dass die auf der Rückseite des Wohnklotzes lebten wie die Schweine. Die Gelegenheit war nie besser gewesen als jetzt. Nur hingen sie, was diese Sache betraf, gemeinsam drin.

»Hier gibt’s keine Wölfe«, sagte Bergmann. »Und dass dein Sohn jetzt in seine Einzelteile zerlegt in der Scheiße schwimmt, wirst du sowieso nicht mit Wölfen erklären können. Das war eine saudumme Idee. Was will Hohenner eigentlich mit den Augen?«

»Woher soll ich das wissen!«

Die Nacht kicherte, denn die Nacht kichert immer.

»Jemand hat ihn umgebracht. Das war nicht zu übersehen«, sagte Ludwig. »Das Problem dabei ist, dass wir alle nicht nachgedacht haben. Ihr glaubt doch nicht, dass wir das einfach so vertuschen können!«

»Es war schon nicht richtig, ihn dort festzubinden. Wegen so einer Kleinigkeit, meine ich …« Ludwig wirkte beschämt.

»Kleinigkeit?!« Finners Kopf sah aus wie ein Feuerball mit Augen. »Er wollte, dass Adam sein Ding in Idas Arsch steckt!«

Ludwig wollte gerade sagen, dass darin schon ganz andere Dinge gesteckt hatten, aber er hielt den Mund. Das letzte, das sie jetzt gebrauchen konnten, war ein Streit, der aus den Fugen geriet. Er dachte an das letzte Maifeuer zurück.

Aus der ganzen Umgebung hatten sie ausgediente Möbel herbeigeschafft und quasi vor Finners Haustür aufgestapelt. Das war die Rückseite des Hauses, das vier großangelegte Betriebswohnungen beinhaltete. Das ganze Anwesen, inklusive der Katzenscheißefabrik gehörte eigentlich zum Granitwerk Vates, das etwa einen Kilometer Luftlinie von hier wie eine Steinwüste vor sich hin vibrierte. Die in aller Welt gebrochenen Rohblöcke gelangen auf verschiedenen Transportwegen zur Weiterverarbeitung in das Fichtelgebirge, aber die Grundlage der gigantischen Anlage bildete das Granitvorkommen in den Gebieten Waldstein und Kößeine. Adams Großvater gravierte dort Namen in die Grabsteine, und sein Vater Ludwig war einer der Fahrer. Die Netzsch Kunststoff GmbH hatte die abgelegenen Gebäude gekauft und zog dort einen Teil ihres eigenen Imperiums auf. So kam es, dass sich sogar Franzosen manchmal hierher verirrten, die alle ganz scharf auf Polyester waren. Es war das Material der Zukunft: Leicht bei einer hohen Festigkeit, resistent gegenüber vielen Chemikalien.

Das Feuer, das hier am 30. April entfacht wurde, konnte man bis nach Hebanz hinüber leuchten sehen. Zwischen Wendenschuchs Mühle und der namensgebenden Gemeinde befand sich Schwemmland, das die über die Ufer getretene Eger hier angelegt hatte. Labiate und Stechginster wuchsen hier, und die Heuschrecken ratterten durch den Abend. The Night has a thousand eyes von Bobby Vee drang aus einem entfernten Radiogerät, begleitet vom Geschepper der Teller und der keifenden Stimme Marlieses, mit der sie ihre Töchter anwies, die Salate nach draußen zu tragen. Die Bierbänke aus dem Schuppen standen um wackelnde Holztische herum, und rechts des Scheiterhaufens, auf dessen Gipfel man eine Stoffpuppe befestigt hatte, lagen Bierflaschen in Wannen, mit Eis bedeckt, in einer kleineren Hütte, die über und über mit Kronkorken zugenagelt war. Lumpi, der Hund, der ein Leben ohne Kette nicht kannte, bellte schrill und heiser und unablässig. Sein braunweißer Schwanz ragte wie eine vergammelte Banane krumm nach oben. Sobald es dunkel geworden war, kamen die Leute aus der Umgebung, die kein eigenes Feuer hatten. Willi Kaländer mit seiner Tochter Emma, Richard Langer, der Schiffsschrauben aus Harz und Kunststoff fabrizierte und dafür eine geheime Formel entwickelt hatte, hinter der die Firma Netzsch wie der Teufel hinter der armen Seele her war, kam mit seiner Tochter Michaela, einer Schulfreundin Adams – und sogar der Herold, der neben den Kaländers aus Schwarzenhammer wohl die meisten Schafe besaß, und bei dem sie alle ihre Eier holten, ließ sich kurz blicken. Viele brachten Bier mit, sprachen über ihre Arbeit bei Netzsch, Vates oder dem Sägewerk. Ida und Silke saßen in geblümten Sommerkleidchen da und starrten aus glasigen Augen heraus das gerade entfachte Feuer an. Beide hatten sie zerschundene Knie, blaue Flecke zierten die dünnen Oberarme. Helmut und Roland saßen etwas abseits hinter einem Gebüsch und betrachteten die verschwindenden Sonnenstrahlen auf der erst jüngst gestohlenen Goldmünze.

»Weißt du, in der Tschechei fragt dich niemand, wer du bist«, sagte Helmut und ließ die Dublone von der rechten in die linke Handfläche gleiten, die beide bereits überaus schwielig waren. Roland machte ein verdrießliches Gesicht. Er konnte nicht aufhören, daran zu denken, was geschehen würde, wenn ihr Diebstahl ans Tageslicht käme. Sein Vater war zwar keineswegs so brutal wie Richard oder Ludwig – man konnte seinen Schlägen meist ausweichen, wenn man sich etwas konzentrierte, denn es ging Erich nicht darum, zu treffen. Er musste sich nur irgendwie abreagieren, war wegen seiner schlampigen Frau frustriert, die das Wort Haushalt zwar kannte, aber im Tablettennebel nicht wahrnahm, dass ihre Wohnung mit dem Schandloch der Finners wetteiferte. Nun, man sollte nicht schlecht über seine Mutter denken – und das tat Roland auch nicht. Ihm war es völlig egal, wie es aussah. Er versuchte, sich so wenig wie möglich im Haus aufzuhalten.

Aber wenn das mit der Münze herauskommt, wird er mich treffen wollen, dachte er.

»Wer wird so eine Münze denn kaufen?«

»Ein Juwelier natürlich. Gibt’s auch bei den Kommis. Wir fahren mit dem Zug nach Schirnding und latschen dort irgendwo über die Grenze.«

Roland zuckte mit den Schultern. Ihm gefiel das alles nicht. Es hörte sich so an, als habe Helmut etwas nicht bedacht. Etwas Entscheidendes. »Lass uns zurück zum Feuer gehen, die Hexe wird gleich brennen, und ich habe Hunger.« Er stand auf, seine Knie knackten wie das Reisig, das von den Flammen erfasst wurde. Helmut erhob sich ebenfalls. »Bier?«, fragte er, und als Roland ihn dämlich anblickte, erklärte er ihm, dass er Bier abgezwackt habe. »Das schütten wir uns rein, wenn alle schon betrunken sind, dann riecht keiner mehr was.« Er lächelte humorlos. »Jetzt hörʼ schon auf, dir Sorgen zu machen. Wir warten mit der Münze, bis es richtig Sommer ist. Sagen wir August.«

Roland nickte, aber er wusste, dass er im August noch mehr Angst haben würde, denn dann gäbe es keine Ausreden mehr.

Als sie das Maifeuer fast erreicht hatten, hörten sie plötzlich den Tumult losbrechen. Richard schrie Marliese an, dass sie die Eier im Kartoffelsalat vergessen habe und dass sie zu blöd sei, um überhaupt etwas richtig zu machen.

Sie blieben stehen und sahen Richard mit den Händen herumfuchteln. Es wirkte fast wie ein Schattentanz, wie er da hin und her sprang. Gesichter glühten, vom Feuer beschienen. Von den Körpern war nichts zu sehen. Das Feuer erreichte in diesem Augenblick die Hosenbeine der Puppe, die auch einen ausgedienten Besen verpasst bekommen hatte. Das war gewöhnlich der Augenblick, wo sich alle erhoben und sich Glück wünschten, ähnlich wie an Silvester. Diesmal war das Schauspiel ein anderes. Richard packte Marliese an den Haaren und schüttelte sie daran hin und her, als wäre sie selbst nur eine Puppe. Ida und Silke begannen zu weinen und klammerten sich aneinander. Ludwig Pikid und Manfred Bergmann sprangen auf, bereit einzugreifen – blieben aber dann stehen, als Marliese, plötzlich losgelassen, mit dem Hosenboden in den Dreck plumpste. Richard machte einen großen Schritt über sie hinweg und verschwand brüllend im Haus. Sebastiana half Marliese, die sich den Kopf hielt und etwas Unverständliches murmelte, auf eine Bank. »Ist alles in Ordnung?«

Ludwig musterte seine Frau, wie sie auf Marliese einredete.

»Es war ja nichts«, sagte sie, immer noch leicht benommen.

Die Hexe kreischte, die Flammen hatten sie jetzt ganz und gar eingehüllt. »Ich verfluche euch!«, rief sie vom Gipfel des Scheiterhaufens herab. »Sieben mal sieben Jahre soll …«

»Wir gehen da jetzt besser nicht hin«, flüsterte Helmut. Roland konnte sich ohnehin nicht bewegen. Er sah die Puppe, die wie eine menschliche Fackel aussah, in die Mitte des Feuerkegels abrutschen. Der blaue Rauch ließ die Augen tränen und wirkte wie ein verschleiernder Nebel. Die kurze Ruhephase – keiner sprach in diesem Augenblick ein Wort – wirkte umso geisterhafter, weil man die beiden Finner-Mädchen leise wimmern hören konnte. Im Haus krachte es, und dann kam Richard mit einem ganzen Arm voll Kleider aus der Türöffnung gestürzt und warf sie in die Flammen. Unterwegs verlor er einige hellbraune Strumpfhosen und einen BH, in den man Melonen hätte einpacken können.

»Der spinnt!«, sagte Helmut und es klang fasziniert. »Das sind die Klamotten meiner Mutter.«

Richard holte noch zweimal etwas aus der Wohnung. Schuhe, einen Stuhl, an dessen Lehne eine Stoffjacke hing, sowie zwei Wollmützen, bevor er sich beruhigen ließ, auf eine Bank setzte und stumm in das Feuer starrte. »Keine Eier«, murmelte er. »Wo gibt’s denn so was, dass ein Kartoffelsalat keine Eier enthält?«

Die Nacht duldet die Helligkeit des Feuers, sie duldet Kerzenschein und den Mond, denn dies sind die Lichter, die sie nicht zu durchdringen vermögen, die nicht gegen sie eifern. Ganz im Gegenteil bekränzen sie ihre unerbittliche Allgegenwart und beleuchten ihre Gestalt, die erst dadurch Formen bekommt. Was immer in der Nacht verborgen liegt, von ihr gefördert wird, ist nicht dazu angetan, von einem gesunden Geist geschaut zu werden, hat kein Interesse an der gewöhnlichen Schönheit, die von Apollon beschützt wird.

Aus der Eger krochen Schatten zum glimmenden Feuer hin, aus dem Schwemmland glitten seine Brüder durch Disteln und Lupinen und erstickten die noch seicht züngelnden restlichen Flämmchen. Von oben sah das glimmende Holz aus wie eine glühende gigantische Stadt. Adam hörte, in seinem Bett liegend, die lange Kette des goldbraunen Spitzmischlings Lumpi rasseln, und dann die Schaufeln, wie sie Sand und Erde über die Glut warfen. Aber nicht ein einziger Schatten wurde damit begraben. Körperlose Stimmen besuchten ihn. Da draußen stimmte irgendwas nicht. Und es sollte sich bewahrheiten.

»Wie geht es dir?«, fragte er seinen Bruder, der unter ihm im Etagenbett lag. Adam bekam keine Antwort. Claus hatte sich längst schon in den Schlaf gezappelt, hielt die Stoffwindel zusammengeknüllt an seine Wange. »Ich habe einen Wolf gesehen«, sagte er in die Dunkelheit hinein. Er hätte es nicht gesagt, wenn er gehört worden wäre. »Aber es war auch irgendwie kein Wolf.«

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