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Der Taubenfütterer: 1 Der Taubenfütterer und die Fuchsmaschine

Last updated on 15. Juli 2024

Der frisch aus dem Destillationsprozeß hervorgehende Alkohol enthält in beträchtlicher Menge Aldehyde wie Furfurol. Läßt man nun den Cognac in Fässern lange Zeit stehen, so scheiden allmählich die schädlichen Beimischungen durch Oxydation am Sauerstoff der Luft aus, und das Getränk wird schmackhaft. Man ist seit langer Zeit bestrebt gewesen, den natürlichen Vorgang durch einen künstlichen, schnell wirkenden zu ersetzen. Sauerstoff oder Ozon, in reiner Form angewandt und mit dem Alkohol in innige Mischung gebracht, musste den gewünschten Erfolg haben. Man kann mit diesem Apparat je nach seiner Größe in einer Minute 3 – 50l vorzüglichen, sofort genießbaren Alkohol jeder Gestalt herstellen. Ein Gehalt von Aldehyden von 10% wird in dem Apparat auf die nicht mehr wahrnehmbare, unschädliche Menge von ½ % reduziert.

– Apparat von M.W. Saint-Martin zum künstlichen Altmachen alkoholischer Getränke

Jonathans Striatum schlägt den Takt, misst nicht das Fließen der Ereignisse, sondern ein Feld, das Zeicheneinheiten manipuliert und in variablen elf Dimensionen auch das Flow-Phänomen zulässt. Das Facettenauge schlägt das Linsenauge, von den Fliegen haben wir’s gelernt. Die Geschwindigkeit des Fangschreckenkrebses, der Schützenfisch, die Flinkzunge des Colorado-Krebses : ein Wunder rast in das nächste. Nur Blödköppe reden vom Zufall. Fred Ott niest für Edisons Kamera, der Geistertanz der Sioux, Ebbe, Flut, Nippflut, Springflut – alles da, und zwar nicht nur in den Lexika, sondern in seiner Küche. Jonathan sieht das als Holographie herumstehen, während die Milch den Kaffee in eine Wetterwolke verwandelt.

Was hat die Natur mit solch absonderlichen Kerlen vor, mit einem Analogien-Seher, wie er sich selbst gerne bezeichnet? Er trägt den Sprieß, der den Jüngling (trotz des eingefurchten Gesichts, trotz der halonierten Augen) verrät, wie einen Juniper, von den Koteletten angefangen bis zum Barriereriff seiner Kinnlade, weil er hofft, sein hageres Gesicht würde dadurch verschwinden. Ein Daunenkissen, das nach dem Überzug ruft, weil der eine Bastei gegen Umwelt, Schweißperlen und Wasser fremden Lebens ist. Beschnitt ihn regelmäßig mit einer Heckenschere, die so klein ist, dass sie in die Brusttasche des abgewetzten violetten Hemdes passt – eine Bonsai-Ausgabe für Sadebaum-Miniaturen. Neuerdings rasiert er sich sogar die Beine, was ein merkwürdiger Kontrast zu sein scheint, aber er erträgt den Primaten an sich nicht, will sich als einen Primus verstehen, schwankt zwischen dominantem Ereigner und devotem Spucknapf beinahe stündlich. Er hasst, was er im Spiegel sieht.

Wenn er seine Beine, hübsch wie ein Mädchen, in die keusche Luft hob, um das Rosetten-Nest zu erspähen, in dessen Flechten sich die Köddel verfingen, war ihm, als müsse er sich nicht nur waschen, sondern lausen. Seine Hände krauchten wie Arachniden über karst bewachsenes Land (in seiner Haut schienen sie nicht einmal das Terminalhaar richtig hinzubekommen), der Mensch der Zukunft, dieser haarlose Schwimmer, war ihm zwar weit in der Zukunft gelegen, aber von einem Panini hatte er nun ebenfalls nicht viel. Ah – jetzt fiel ihm ein, warum er sich als Steinwurf der Evolution fühlen durfte, ein mathematischer und natürlich rein theoretischer Punkt, ein finales Quant, Zeitenkelch: der Ouroboros spotzte ihn von der Zukunft in die Vergangenheit, bevor er sich sofort wieder sein Schlangenende ins Maul stopfte. Das Bild war nicht stimmig, (weil) einmal losgelassen, würde das Hinterteil die ununterbrechbare Diarrhoe sonstwohin sprühen. Eine Winzigkeit Matrix – das war ja überhaupt die Erklärung, warum mancherorts vom Demiurgen gesprochen wird, der mit dieser Welt nicht gerade den 1. Preis im Werken abräumt – und was nur als Ganzes perfekt funktionieren kann, muss im Falle des Mangels mit einer Mogelpackung aufgespritzt werden, falls auch nur ein einziger String ausscheidet. Dürre fleischlose Lippen mit Botulin, die Brutalität der Natur mit Religion. So bekommt auch der Begriff ›Lippenbekenntnis‹ eine ganz neue Bedeutung. Rostaria – du liebe Güte! Die Heckenschere reißt ihm heute beinahe den Flaum von den Backen, braucht neue Batterien. Das Ladegerät hat er an einer seiner Erfindungen verbaut. Er hat heute etwas sasquatchiges an sich; Bigfoot, das wäre überhaupt der bessere Urahn, mystische Bestie aus den Appalachen, der Bäume ausreißt, wenn er schlecht geschlafen hat, Felsenformationen ein Gesicht knetet, wie man das wunderbar in den Black Hills bestaunen kann, statt Baumhangler (oder Rotarsch) in Bolivien. Die Taube stößt ihm auf, die hätte er nicht vor dem Kaffee esse sollen. Aber vielleicht liegt sein Ungefühl auch an den in Fett angelaufenen Zwiebeln. Auf einer Reise von Venedig nach Rom, Neros hübschem Kamin, war es ihm auf dem Markusplatz so vorgekommen, als würde er eine altschlesische Speisekammer besuchen, das Flügelflappen arbeitete wie eine Pawlowsche Glocke, sein Maulwasser wie der entsprechende Hund. Verrückt gemacht hatten ihn allerdings die Tank-Träume. Die guten, in denen er Heinrich von Ofterdingen war, und die schlechten, in denen er aus einer Stadt nördlich der Nordwinde mit Rimbauds Bateau Ivre fliehen musste, nachdem ihm Diogenes von Sinope, der während seiner Avalonischen Reise hier hängengeblieben war, an diesem Ort festhalten wollte und sich dann seine Augen für eine Sammlung in Formaldehyd wünschte. Allerdings sah Diogenes verdächtig nach Dr. Hohenner aus, einem Landarzt, der sowohl die Kälber aus den Fuden zieht, Sterbescheine ausstellt und Kinder gegen Masern impft. Mit Knecht und Pferdekarren trotzt er den Automobilen.

»Wach auf! Jemand beobachtet dich!«

Das war nicht wirklich eine Stimme, die ihm das sagte, es sei denn, es gäbe in ihm einen Pool ganzer Stimmverbände, Jonathan Levke wäre keine Person, sondern eine Familie von Personen, sagen wir: ein Clan; abwechselnd dem Schlaf ergeben, Zwei eingeteilt zur Wache, Sensoren, die keiner Augen bedürfen, Mormyridae, die aus dem Echo eine Umwelt bilden, kein Schatten entgeht ihnen. Der Schatten ist immer zuerst da, nennen wir ihn doch ›Weltschatten‹, Jonathan… als wäre Platons Pferdheit, Fischheit, Baumheit hernieder gestiegen, um sich die Fabrikhalle mal anzusehen. Kilroy war immer schon da, wir ahmen die Erstbegehung nur nach. 1980 hat Dr. Saxe während seiner Tauchgänge in der Umgebung von Nan Madol auf einer sieben Meter hohen Säule das Bandpassgesicht entdeckt. Das hat er der Trust Territory of the Pacific verschwiegen. In Nan Mwolusei, also dort, ›wo die Reise endet‹, die absurde Zeichnung, die man auf Toilettenwände schmiert, zu finden, hieße ja … es hieße … Moment … dass Kilroy bereits in dieser zyklopenhaften Wallanlage seine Spuren ausgelegt hatte, um damit zu sagen : Es gibt keinen Ort, den ihr entdeckt, den ich nicht schon kenne. Kilroy ist ein Zeichen, das sich jeder zu eigen machen kann, es befindet sich in jedem Finger, der die Nase über die Mauer ritzt. In diesem Spaß, der sofort umschlagen kann, hat er sein Nest. Er lebt von der Wiederholung, nur darin ist er einzigartig, unberechenbar – ein Virus, der nicht zu greifen ist. Vielleicht befindet sich wirklich niemand an diesem Ort, wenn du ihn mit Tinte hingeschmiert – sagen wir in Te pito o te Henua – auf einem bröselweichen Lavatuff-Moai entdeckst, niemand, der hinter dir steht oder dich mit seinem Feldstecher ins Visier nimmt. Aber Kilroy war hier, ein weiterer Wirt, der in dir ein Gefühl der Anspannung herstellen will, der Weltschatten, der dann, wenn du an ihn denkst, erscheinen wird. Du wirst ihn nicht entdecken, also nicht so gehetzt, Schatten gibt es schließlich genug. Schon reift die Idee… (Du spürst es, nicht wahr?)… deinem Nächsten in die Butterdose zu krakeln, denn: muss es immer ein mysteriöser Ort sein?

Jonathan zieht sich heute einen violetten und einen gelben Strumpf an. Das ist jetzt noch gar nicht modern, aber er hat keine Chance, in seiner Sockenkiste ein passendes Paar zu finden. Bis vor kurzem hat er sich Fußlappen gebunden, aber die braucht er jetzt, um sein Geschirr abzutrocknen, oder um die Ventile seiner drei Kaffeemaschinen abzudichten, deren Grundlage ein Heißgasmotor ist, den er nur anzufassen braucht, damit er in Gang kommt und die Bohnen schleift. Und natürlich für den Nachbau des Apparates von M.W. Saint-Martin zum künstlichen Altmachen alkoholischer Getränke.

»Wissen schmeckt süß«, sagt Jonathan Levke. Verwahrlost in seinem Äußeren, wie es einem werdenden Geist geziemt, putzt er sich nicht einmal die Brillengläser, sondern nimmt die Brille ab, wenn er etwas lesen will. 1904 oder 05, als sein Urgroßvater mütterlicherseits gerade fünf Jahre alt geworden war, schickten seine Eltern ihm zum Cheder, der jüdischen Grundschule, wo er lernen sollte, die Hebräische Sprache und das Alte Testament zu lesen. Unter den Juden der Provinz Grodno in Weißrussland war es Sitte, jedem Jungen bei Eintritt in die Cheder eine Schiefertafel zu schenken. Sie galt als sein persönliches Eigentum, auf dem er begann, Mensch zu werden.

Da sitzt er, den starren Blick auf die Zeitlampe gerichtet, die noch einen Schluck Öl enthält, beginnt der Mund zu sprechen, den wir vorher nicht sehen konnten, weil das weißgraue Gemisch des Bartes die Worthöhle verdeckte. Die Stimme aber ist gefärbt mit einem kräftigen Ton, in dieser betagten Haut steckt ein Haudegen, der in allen Epochen an der Tafel der Edelleute gesessen, der die Narben unzähliger Kriege offen trägt wie ehrenvolle Abzeichen und der einen Teufel tun wird, zu flennen, wenn die schwarze Barke naht. Ganz anders sein Urenkel, der sich beinahe einscheißt, wenn es donnert.

»An jenem Tag tat der Lehrer etwas Bemerkenswertes : er schmierte die ersten beiden Buchstaben des hebräischen Alphabets, aleph und beys, mit Honig auf die Tafel, die mein Urgroßvater dann ableckte.« Levke hatte es, nachdem ihm das erzählt worden war, an Ort und Stelle mit Quittenmarmelade ausprobiert, die er auf ein Buch schmierte. »Ich esse Bücher, nachdem ich sie gelesen habe«, sagte er vorzugsweise den Mädchen, die ihn sowieso schon mieden, und die, nachdem er das gesagt hatte, sogar flüchteten. Sie hielten ihn für einen Teufel, zumindest für einen großen Verwirrer. »Das ist ein Bibelzitat, nicht wahr? Demoiselles, ich kann euch beruhigen. Der Teufel ist nicht der große Verwirrer, sondern der große Vereinheitlicher. Er versucht, die verschiedenen Ansichten zu homogenisieren, bis alle dasselbe denken, glauben, tun. Das ist das eigentliche Gefährliche. Der Verwirrer erweitert dagegen das Blickfeld, er eröffnet neue Möglichkeiten und macht die Fülle sichtbar. Es ist ein guter Geist, der verwirrt.«

Der Seelenkäufer da am Boden, die Besorgnis der Professoren, die Furcht der Kommilitonen, die Hoffnung der Missratenen. Ein von der Ärztekammer ausgeschlossener Arzt, der mit Morphium erfolgreich seine Alkoholsucht bekämpft hatte, assistierte ihm bei seinen Floating-Tank-Manövern. Dieser von John C. Lilly in den 50ern erfundene Isolationstank war die schnellste und effektivste Möglichkeit, einen außerkörperlichen Zustand herbeizuführen. Das, was man gemeinhin für Halluzination hält, setzt bereits nach fünf Minuten ein. Mit seiner verrückten Gundel Gaukelei, deren Alter unmöglich zu schätzen war (aber sie ging, jede Wette, stracks auf die sechzig zu), stahl Jonathan Badewannen von den Kuhweiden und verschweißte sie mit allerlei Isolationsmaterial. Kam oft an mit einem schwarzen Daimler, rüscheliger Stoff auf halber Scheibenhöhe, um Blicke abzudunkeln. Aussteigen tat sie nie, wartete (der Motor knisterte die verbleibende Zeit), man hätte ja eh geglaubt, es sei die Frau Mama. Das Auftauchen des Automobils ließ den Gesprächsatem jedes mal in der lauen Luft zerbröseln (war die Luft kalt, polterten unfertige Worte klirrend auf den Campusboden). Die geheimnisvolle Lady hatte den Studenten mit kuriosen Erzählungen an sich gebunden. Gundel, die in einem Paralleluniversum Myrrha hieß, hatte weniger mit physiologischer Mimikry zu tun als mit psychologischer.

Sie mergelt mit einem Reisigbesen ihren Weg, so dass der Staub die Luft martert. Mit ihren flinken Handgreiflichkeiten verschwindet sie bald im Dunst wie eine Geisterfrau, umgeben von wirbelnden Dämonen, eine Tschuper-Gäie, die sehr viel nachts unterwegs ist, mit roten Augen im Dunkeln sieht, dem nüchternen Betrachter aber wie eine Harlekina mit einem vom Ruß geschwärzten Gesicht erscheint, die Füße bloß mit Leder umwickelt, mit Stücken von rotem, gelbem und grünem Tuch, dreieckig geschnitten und nach der Form zu einem Wams zusammengenäht. Nichts, was man in der Diskothek aufreißt und fröhlich zu Hause schändet. Sie lässt sich mit einer Tasse Kaffee, die ihr Blut reguliert, in der einen, und einer brennenden Zigarette, die ihre Stimme wie das verzweifelte Wimmern aus einem Rostkeller zum Klingen bringt, in der anderen Hand, in die Couch sinken. Sie mag diesen entlegenen Studenten, weil er nicht nur äußerlich mit ihr harmoniert, mag das irre Leuchten seiner jugendlichen Augen, Überbleibsel einer existentialistischen Restkultur, schwarz : ja, Pullover : nein, leiert aus, »ich bekomme es mit dem Waschen nicht hin. Schau nicht so, auch ich habe von Waschsalons gehört, selbst in meinen Haaren hängt noch Seife!« Stolpert also der denkbarsten weiblichen Interpretin seines Gedankenschwulstes (Teleologie, Animismus, Holismus undsoweiter) in die ranzigen Arme, die ihn heimfahren will, es sich anders überlegt und ihn lieber bei sich parkt. Er muss sofort gespürt haben, dass sie mit ihm Kuhtränken stehlen wird. Psychologie in mehreren Semestern (Methodenlehre und Statistik an der Ludwig-Maximilians-Universität in München), Philosophie und Ethnologie (noch in der Biologie in Hamburg steckengeblieben) belegte er neben seinem Interesse für Astrophysik an der Uni Bonn – und Religionswissenschaft an der Ruprechts-Karls-Universität in Heidelberg, Sprachen und Komparatistik (hier weiß niemand genau, wo). Seine Kaffeemaschinen halfen ihm dabei, wach zu bleiben, darin bewunderte er Balzac, von dessen Nierenversagen er schwärmte und dessen Kaffeekanne er in Imitation besaß. Hätte Levke überlebt, wäre er früher oder später dem Wahnsinn anheimgefallen. Sein Geist wollte stets mehr, als das Gefäß zu fassen bereit war.

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