Drücken Sie „Enter“, um den Inhalte zu überspringen

Die Veranda: 3 Jeu de Dames

Last updated on 15. Juli 2024

»Ich weiß, es ist nicht deine Veranda, Schatz, aber es ist nicht weit davon entfernt, oder?« Dabei lächelte sie in einem ausgeklügelten System. Willi hätte Ilene am liebsten eine runtergehauen, eine wie Beethoven, die Bläser doppelt. Unter mondscheinbehangenen Trauben hatte er ihr erzählt, was ihm diese Veranda bedeutet, da waren sie noch nicht verheiratet gewesen, noch jedes Wort schön, klingt wie Geigen. Die Insekten symphonieren waffenstillständisch, erst später wird gestochen, gekrabbelt, gesummt, belästigt, ins Bier kamikaziert. Draperie des Mondenscheins, Wasser nicht still, bewegt vom Schunkeln der Erde, angestampfter Baggersand, Moon am Schlafen, eine Kulisse, wie um die Grotte von Vaucluse. Bildungen des Zufalls sind Bilder der Schönheit, Erdspalten und Grotten ein Synonym für das Weibliche. Das wusste auch Petrarca, der hier in die Quelle der Sorgue blickte und seine Laura besang (Anselm Feuerbach hatʼs dann gemalt). Die Erde ist voller Löcher, wie ein vom Furzen durchsiebter Käse. Warum sollte nicht ein vergessene Rasse, deren Stammvater ein Talpa ist, da unten leben, Ölkerzenalleen anlegen, der Mittelpunktsonne huldigen, angepasst mit Schaufelrädern an den Flanken, tellergroße Membrane an den Wangen, das Gehirn eines Pottwals, trockene Ursuppe, Bruder Ozean, der See hier vielleicht eine Toilette, denk’ mal dran, wer alles unter Wasser defäkiert und dann erinnere dich an das Paradies, das kannst du, es ist alles in unseren Zellen gespeichert, wir sind fleischfressende Mikrochips. Das Hirn, die Fleischmaschine. Das Leben existenzlos, auch die Welt: existenzlos.

Es hatte nicht lange gedauert, da war ihm aufgegangen, dass Ilene nicht die geringste Ahnung davon genoss, was er ihr in dieser flimmernden Nacht hier am Strand eines Baggersees hatte nahe bringen wollen, sondern dass sie, während sein Mund artiku- und tremolierte, immer nur an diesen Dichter dachte.

Sie lebte damals noch bei ihren Eltern, Willi bei den seinen. Im Grunde aber ist die Familie hin, der Mensch stockert, kaum aus dem Mutterkuchen gewühlt, alleine herum. Da draußen ist die Welt und sie ist garstig. Beim Selberwaschen verfärbt man seine Kleider, beim Selberkochen verdirbt man sich den Magen, kurz, man überlebt das alles nicht, wenn man zu früh sein Bündel schnürt.

Ilene hatte nichts gegen die Hausarbeit einzuwenden, die sie in Ermangelung ihrer Selbständigkeit der Familie hinwarf, fand es sogar aufregend, auf dem Stragula herumzukriechen, den Besenstil fest in die Handfläche geschweißt, verlorene Utensilien im ewigen Kampf gegen das Chaos (der Verlorenheit) nachzuspüren, Teller von Speiseresten zu befreien, dass nur jeder bei Tisch auf seine Bewirtung warten konnte, politische und gesellschaftliche Ereignisse diskutierend, Linsen zählen, eins, zwei, vierhundertdreiundsechzig. Sie muss von Staub zu Staub flattern, das zivilisierte Haus (mit den Räumen zur Essenszubereitung, Essen, Sich-Lieben, Schlafen, Sich-Waschen, Sich-Entleeren, Miteinander sprechen, Eltern und Kinder, Sohn und Tochter, Mann und Frau) in frischem Rosenduft erblühen lassen. Sauberkeit ist fern dem Verfall, wagst Du es, mit deiner Zunge von der Haustüre zum Esstisch, um die Stühle herum zum Bad, über die Klobrille zu fahren, sind wir für ein paar Stunden erlöst.

Sie lebt in einer umgebauten Garage, liegt in den rostigen Träumen der Blechglieder, der Auspuff-Ejakulationen. Sie robbt, ist als Kind schon auf den Knien herumgewienert, durfte auf einem Stuhl stehen, abtrocknen, Taschentücher bügeln, mit dem Schaum der Kochwäsche spielen, der aus dem Kopflader wallt, Zipfelknoten in die Bettlaken machen an Prokrustes’ Bett (in das, nimmt man die Axt zu Hilfe, ein jedes Menschenetwas passt).

Ilene ist gut situiert, ihren Eltern gehört ein Schrottplatz, die Leute müssen ja alle wohin mit ihrem Alteisen, das geht nicht so einfach in den Hausmüll. Was sie an Willi findet, wollt ihr wissen, aber das ist nur zu erraten. Vielleicht besorgt er es ihr auf eine ungewöhnliche Weise, gibt ihr schon mal hinten eine druff, dass es schallt und den Schinken einfärbt … so richtig festzurren lässt sie sich allerdings nicht (er hat durchaus öfter versucht, sie mit ihren Nylonstrümpfen an einen Stuhl zu binden). Einmal gelang es ihm, das wäre fast ihr Aus gewesen. Ihre drohenden, dann bettelnden, dann kreischenden Argumente hatte er zunächst für diese klitzekleine Nuance gehalten, die den Unterschied ausmacht, für ihren Part in diesem Stück (außer Stillhalten natürlich, zumindest bis er fertig war), verstand den Spaß jedoch nicht, brachte nur sonnenverwöhnte Gebärden zustande, deren Gegenteil er oft in den Hinterhöfen der Porzellanstadt Selb bewundert hat. Das ist ein ganz anderes Leben da, Himmel und Hölle auf den Parkplätzen, die Sprache ist archaisch, die der Räuber und Sammler, in gewisser Abwägung der Risiken, und erfüllt dafür ihren vollkommenen Zweck. Deshalb ist sie auch nicht geeignet, in irrationalen Gefilden zu denken und solche Mitteilungen zu machen.

Ilene schaukelt mit dem Stuhl und quiekt, soweit sie das mit ihrem Knebel eben kann, aber dann bekommt sie eine Hand frei und faltet sie zur Faust. Ihn interessiert, was sie da in ihr Halstuch grunzt und nimmt es ihr aus den Zähnen, sie

»…wirst mich sofort losbinden!«

sieht phantastisch aus, zermümmelt von der Wut, die Augen wie Dampfdruckkessel, Nüstern prall Luft einholend, sagenhaft, wirklich…

»…oder…!«

Auf dieses ›oder‹ will er sich nicht einlassen, seine Gier verstummt, purzelt schwerkraftgeläutert wieder gen Küchenboden, dem frischen, sauberen Parkett.

Später fehlte ihr ein Pantoffel, den dieser Dichter ihrer Ansicht nach besitzen musste. Sie stellte sich vor, wie er nachts allein unter dem Sternenzelt daran schnüffelte, sie ihm als Dunst des kaum wirklich wahrzunehmenden Geruchs erschien wie ein Engel.

In ihrer Familie fehlte jämmerlich der Tod (woher also die Romantik?). Sieht man einmal von Onkel Arnulfs Kehlkopfentfernung ab – einer Tragödie, die man feierlich zu hüten verstand, gab es in ihrer Ahnengalerie noch nicht einmal Akne. Es muss doch aber jemand zu beklagen sein! Man schämt sich fast, wenn man die Nachbarn auf den Knien prozessieren sieht, die Urnen über den Kopf gen Himmel haltend, heulend wie die Banshees, die selbst keinen grässlicheren Laut aus ihrem einzigen Nasenloch hervorstümpern könnten, in schwarze Lappen gewickelt, verschleiert, die Gesichter von salzigen Tränen in der Mitte geteilt: das rote Meer des Stammes Israel. Wie viel Geschmack doch in den Tränen zu finden ist, langes Rinnsal auf dem Weg. Da singen sie ihr Lied in der Familiengruft, wo (seien wir ehrlich) allerhand los ist. Die Ahnen liegen da alle mit gefalteten Skeletthänden in Sarkophagen aus Granit, entfleischt im Knochenmehl.

Doch lassen wir uns, liebes Publikum, liebe Voyeure, nicht täuschen! Auch hier ist die Familie Umschlagplatz zwischen Sexualität und Allianz, sie führt das Gesetz und die Dimension des Juridischen in das Sexualpositiv ein und transportiert umgekehrt die Ökonomie der Lust und der Intensität der Empfindungen in das Allianzregime.

Die Bälger krähten unter dem Bingo-Tisch, wohl wieder eine Murmel verschluckt, Heissa das Spiel – aber nein, da ist ja auch noch der Hund, ein Promenadier, der die Kuchenkrümel einsaugt, was schöner Sonntag, mit Holzspielzeug und Jeu de Dames, nach unten wabert das staubige Gelächter, trotz vorgehaltener Hand, wie beim Gähnen. Die Körper schütteln sich freundlich und der Hund schlabbert über die Gesichter, öffnet mit seiner lappenartigen Zunge die jungen Mäuler, um die restliche Spitzbubenmarmelade zwischen den Zähnen, auf den Lippen, zu erhaschen, eine Hand auf seinem Nacken, den Mutterfang imitierend, »Bongo, sei artig, Bongo… oder Kinder… kommt doch mal da raus!« Und Bongo kommt aus dem Tafelzelt, die Kinder bleiben. Aber was gesagt werden soll: Das Spiel heißt Schwedisches Steckhalma, und schon während dieser Vergnüglichkeit wurde klar, dass die beiden Kleinen – also, wer so brav unter der Tischdecke fläzt… das ist doch ein Zeichen!

Oben: Die Schwierigkeit hinter den Trauben. Sie wurden bereits vergoren, kaum erinnert sich Willi daran. Aus Faulheit das Erwachen keinem anderen zeigen. Halma als Heiratsvermittler, unentscheidbare Aussagen. Es geht hier um die Sucht, Glück zu haben. Willi und Ilene wurden abgenickt. Solange sie sich wie Brüderchen und Schwesterchen küssten, solange der Eine keine Flecken in das Bett des Anderen machte, blieb ihr wildes Gefummel unentdeckt, auch wenn Willi natürlich wusste, dass Ilene das Zeug nur schluckte, um eben nicht dauernd das Bett überziehen zu müssen. Trotzdem wäre es ihm lieber gewesen, jemand hätte mit der Schrotflinte auf ihn gewartet und er ihr, vorzugsweise unter einem spionierenden Mond auf einer zappelichten Leiter stehend sagen können: »Pass auf! Da gibt es noch etwas, das muss ich unbedingt haben, sobald wir unbeschadet aus dieser Geschichte heraus sind – eine Veranda!« Weil ihnen in einer prekären Situation nichts anderes übriggeblieben wäre, als die Träume des vorzugsweise Geliebten so zu verstehen, als wären es die eigenen. Mord und Totschlag schweißen zusammen und manchmal auch eine warme Suppe. Und sie, vom Himmelfenster herab: »Oh!«

Diese Veranda, von der Willi im Insektendunst stehend schwärmte, wurde bereits am Tag nach seinem Geständnis zu seiner Veranda. Da hätte er es doch merken müssen, es gab kein Annehmen des Sternenfunkelns romantischer Luftschlösser, kein »Schwärmemännchen, ich folge dir!« Aber er merkte natürlich nichts. Er heiratete Ilene und zog mit ihr unter Rotz und Tränen der familiären (und unsterblichen) Belegschaft in das von jeglichem Verkehr gereinigte Quartier dieser gespenstischen Stadt, Vierzimmermitbalkon, Minergiebauklotz.

Gib den ersten Kommentar ab

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert