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Die Veranda: 9 Spurenkunde

Last updated on 15. Juli 2024

Die spurenkundliche Bearbeitung des engeren Tatorts ist bereits in vollem Gange, als Egon Brunswik mit Fiffi vorgefahren kommt und vor der Absperrung hält. Felix Gerritzen ist nicht gerade derjenige, der sich darum reißt, mit Brunswik unterwegs zu sein, das tut, soweit er weiß, niemand. Und ›Fiffi‹ ist dann gleich die erste Attacke, die er zu ertragen hat, als wisse der ehemalige Kunststudent von den Zusammenhängen des hündischen Kosenamens und Felix’ sehr komplizierten Schulaufenthalts in der dritten Klasse, wo ihn seine Kameraden vor Schulbeginn mit dem Klassenbesen, der stets griffbereit in der Ecke neben der Tür nur auf diesen Augenblick zu warten schien, auf allen Vieren durch das Zimmer scheuchten und ihn ganz genauso nannten.

Brunswik ist in den dunklen Gefilden der Leidenschaft zu Hause. Es sei möglich, im Blut zu lesen, behauptet er, hat sein Kunststudium abgebrochen, um sich den Tableaus hinterlassener Installationen zu widmen, die, wenn man den Standpunkt teilt, abscheuliche Verbrechen darstellen, aber wie alles, was der Mensch in Angriff nimmt, künstlich erscheinen, es sei denn, es handelt sich um Vatermord, aus dem in Darwins Urhordentheorie die Zivilisation erwuchs, die sich wiederum zu diesen beeindruckenden Gebilden befähigt zeigt. Stets tauscht Brunswik das Wort Mörder gegen Künstler, spricht von Arrangements und nicht vom Tatort – und wird deshalb von seinen Kollegen gemieden, gerät nicht selten selbst in den Verdacht, sich der Kriminalistik nur deshalb genähert zu haben, um jene Bluthochzeiten (wie er manche Tableaus zu nennen pflegt) nicht selbst ausrichten zu müssen, um aber nahe dran zu sein, sozusagen in der Tat zu stehen, geschweige denn vom Blutgeruch betört über einer Interpretation zu schweben, die ihn oft auf unerklärliche Weise den Künstler spüren und aufspüren lässt. Sein erster Fall, den er ›Martyrium des heiligen Matthäus‹ nennt, weil das Verbrechen mit einem Schwert verübt wurde, führte ihn dann tatsächlich zu einem nackten Mörder, der Caravaggio sehr schätzte. Nach einem fachkundigen Plausch und der Ehrerbietung Brunswiks, ließ der sich nicht ungern festnehmen. Seine Hoffnung, Anerkennung zu finden, wurde auf nahezu symbiotische Weise erfüllt. »Mörder, Mörder, Mörder!«, rief der Lynchmob vor dem Gerichtsgebäude, aber wer war denn da gemeint? Der so Bezeichnete ohne Aktenmappe vor dem Gesicht, ohne Brottüte auf dem Kopf, lächelnd, vielleicht etwas schäbig, blitzlichtgewittergebadet – oder doch der grauhaarige Fürst der Finsternis, der, da sind sich alle einig, sich eingeschlichen hat. Mit einem Schwert: Das hat man ja noch nie gehört, zumindest nicht seit der Völkerwanderung. Brunswik rekonstruierte folgende Besonderheit :

Erstens: Dass ein Bad neben einem Fluss errichtet wurde.

Zweitens: Ein Dach über den Kessel gebaut.

Drittens: Ein Ziegenbock neben den Kessel gelegt.

Viertens: Dass der zu Opfernde – einen Fuß auf den Rücken des Bocks gesetzt (den anderen auf den Rand des Kessels) – seine Enthauptung fand.

Sein ganzer Stolz jedoch steht in dem Buch ›Ich jagte Ricky Birmingham‹, das sein Verleger in Bezug auf seine dort zum ersten Mal entwickelte Theorie der Bluthochzeit in Anlehnung an einen blutsaufenden Mannwolf genauso nennen wollte: Mannwolf. Brunswik lehnte diesen reißerischen Titel mit dem Hinweis ab, dass man den Fall des Mädchens mit den Zündhölzern oben in Schweden (nicht in Dänemark, wo man gewiss ähnlich elegant zum erfrieren gezwungen werden kann) auch nicht nach einem literarischen Vorbild benannt hatte, sondern nach stahlharten Fakten. Tatort: Türschwelle. Blau wie der Winter auf einer Weihnachtskarte der 50iger kniet die Kleine im Nachthemd vor der Tür auf der frisch abgebesten Schwelle (es muss danach nicht mehr geschneit haben), die rechte Hand an der muscheligen Messingklinke festgefroren. Ein Aussperrmord, wurde ihm von einem Kollegen mitgeteilt. »Du stehst doch auf abgefahrenes Zeug; diese Leiche war die schönste, die ich jemals zu Gesicht bekommen habe, wie in Glas geblasen, ein Engelchen für Doktor Skoras Wachsfigurenkabinett, reglos, eine Eisfigur, ein Trugbild gar, denn wenn das Frühjahr kommt (man würde sie ja gerne da an der Tür kleben lassen und Eintritt verlangen, du weißt ja, der Profit …), was bleibt dann noch übrig? Die Sonne ist ein Feind der Kunst, Brunswik!«

»Das sind Remontanten«, sagt Brunswik, bückt sich und greift in die Erde hinein, »meine Mutter hatte die auch in ihrem Garten.« Vor dem Absperrband steht ein junger Polizist und wirkt überrascht.

»Was glauben Sie, Fiffi … ob ich mir da eine abschneiden kann? Wie sähe das aus anstelle einer Nelke im Knopfloch?«

Gerritzen wirkt etwas betreten, weil nicht mehr nur der junge Beamte herüberschaut und sich fragt, ob die Forensiker etwas Elementares vergessen haben könnten, etwas, das nur eine gewaltige Spürnase sofort finden kann, wie die geschlechtsreife Sau, die den betörenden Duft der Trüffel auch dann noch riecht, wenn sie einen halben Meter tief unter der Erdoberfläche liegen, weil es dort unten nach wildem Eber riecht, der ihr den ganzen Tag so besorgen kann, dass sie diesen nur noch breitbeinig durchforsten wird.

»Als ich noch Kunst studierte…« (Da ist es wieder, das Gefühl, das sich bei jedem Vortrag einstellt. Felix spürt das Würgen in seinem Hals. Er weiß nicht, wie lange er das noch zurückhalten kann.)

»… tat ich das, weil ich beeindruckt war von der Kreativität und Zeigfreudigkeit der Pflanzen. Das ist wahrer Exhibitionismus, es ist Narzissmus, es ist das vollendete Werk der Verschwendung. Fragen Sie sich nicht auch manchmal, wozu diese Schönheit da ist?«

Aus dem Eingang des Zinshauses tritt eine Gestalt in den beginnenden Tag. »Was ist mit Ihnen … sind Sie der Gärtner oder was haben Sie hier zu suchen?«

Brunswik streichelt weiter die Rose, die er sich dafür ausgesucht hat, in seiner Glasflasche auf dem Küchentisch zu stehen. »Ich bin sein Gegenspieler, wenn Sie auf das Lied von Reinhard Mey anspielen.« Ganz versonnen hält er seinen Kolben in den Kelch und schnaubt wie ein Ross, lässt den Einsatzleiter näher kommen und sich endlich erkennen.

»Ich habe Sie durch das ganze Gekröse, in dem Sie stehen, gar nicht erkannt, was tragen Sie denn da?«

»Einen Inverness-Mantel und dazu passend einen Deerstalker. Sagen Sie … meinen Sie, ich kann mir von diesen Rosen ein Stück abschneiden?«

Ein Nachbar erkundigt sich im Bademantel, ob er eine Forensiker-Jacke bekommen kann. Die Wohnung liegt im zweiten Stock und hat etwas zu bieten, das ihn an eine Schleuderbildmaschine denken lässt, eine, die er als Kind selbst gebastelt hat, mit einer Graupner Luftschraubenkupplung, 14850 U/min.; das Blut zeichnet überraschende Konturen. Sofort beginnt der Film in seinem Kopf mit dem Vorspann: Hauptstrasse 63 präsentiert … eine Bluthochzeit-Produktion … Frau aus dem Off: »Klaus!« (oder »Bernd«, oder »Schatz«.)

… Atmen…

»Klaus, was … « (oder »Hermann, was …«, oder »Liebling, was …« )

Ein Messer zerfetzt die schwarze Leinwand, der Bildschirm wird, ausgehend von den Schnitten, vollkommen mit Blut ausgefüllt… Schuberts Der Tod und das Mädchen, Allegro, setzt ein… natürlich das obligate Kreischen, ein bisschen Poltern dazu… dann der Titel: Ja, der Titel, das ist noch nicht ganz klar, das hat er noch nicht auf dem Schirm.

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