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Bartholomäus: 2 Ein Hasentod

Last updated on 16. Juli 2024

Dann schlief er ein – und erwachte mit steifen Gliedern. Sein Magen begann augenblicklich laut zu knurren. Er raffte schnell seine Decke zusammen und blinzelte aus der Tür heraus den frühen Morgen an. Über dem Tal verflüchtigte sich gerade der Nebel. Es konnte nicht später als sechs Uhr sein. Die grüngestrichenen Fensterläden ließen kaum Licht in dem fünfeckigen Schuppen mit dem roten Dach; wäre er betrunken oder zumindest satt gewesen, wäre er bis mittags liegengeblieben, bis die dunstige Hitze ihn schließlich aus dem Bau gejagt hätte.

Er spazierte Richtung Wendenschuchs Mühle, jetzt von reißendem Hunger geplagt. Seltsamerweise musste er wieder an die Fänger denken, die dafür verantwortlich waren, dass er nicht einmal bei diesen Temperaturen wagte, seine drei Hemden auszuziehen.

Der Donner nahender Pauken hebt an, virtuos mündet er in die Erschütterung eines Erdbebenschwarms. Ascheflocken gleich rieseln Vögel auf Dächer und Straßen, brechen sich Rückgrat, Flügel, Hals, verenden in Schornsteinen oder Dachrinnen. Ein Riss bricht die Sphären in kaleidoskopierende Fragmente, die Titanen kriechen aus dem Tartaros, ihre Klauen um Häuserstümpfe gekrallt. Titanide gebären Mörserkugeln und Artilleriefeuer, Blut verdrängt Wasser, verklebt die Nase, den Mund und die Ohren Gaias. Dunkelheit schleudert aus jeglichem Versteck, aus jeder Höhle, aus jedem Keller, wird Staub genannt, der wie ein Leichentuch über der Stadt vibriert, sich langsam senkt, wieder nach oben geschleudert wird durch Salven neuer, heftiger Einschlägen, durch ein tektonisches Kartenspiel. Ein danteskes, abscheuliches Lächeln stanzt sich in die Wachsgesichter der Leichen, die zu Hunderten von den Brüstungen der Häuser hängen, festgehakt an den eigenen Därmen, zerrissen von der tosenden, allesfressenden Luft, getroffen von den streunenden Schrapnellen, den niederrasenden Steinen, erstickt von Mörtel, Dachziegeln, aufpeitschendem Straßenschutt. Andere finden sich mit zerbrochenen Gliedern in den heißen Kratern der schweren Einschläge, leise wimmernd, noch am Leben.

Dann wurde es still, nur ein fernes Flackern von erlöschenden Signalfeuern war noch zu sehen. Die Vögel waren tot, der Himmel war tot, die Erde nur noch ein umgegrabener, zerfurchter, wild dampfender Acker. Die Stadt aber ragte weiter in die Höhe, geschändet und gedemütigt. Ihr Gemüt wandelte sich von einer einstigen Herberge in eine Todesfalle. Sie wollte von nun an eine Geisterstadt sein, wie es nie eine gegeben hatte, nicht leer und verlassen, sondern von Schreien und von Echos dieser Schreie durchdrungen. Vorher aber ließ sie die Anderen herein, die dieser Krieg hervorgebracht hatte, die wie sie selbst einst zu einer zivilisierten Welt gehört hatten. Die Bürger dieser Stadt – sofern es sie noch gab – rechneten nach dieser Feuerwalze damit, die feindlichen Truppen einmarschieren zu sehen, so wie es überall geschah, nachdem etwas sturmreif geschossen wurde (auch wenn es hier nie Verteidigungslinie gegeben hatte). Aber das geschah nicht. Es geschah etwas anderes, etwas, das der Stille folgte. Es begann eine Jagd.

Aus dem grauen Dampf heraus zischten sie wie ein Geschoss nahe am Ohr vorbei. Sie waren zwar nicht so schnell wie das besagte Projektil, aber sie waren schnell genug. Vor allem hatten sie die Überraschung auf ihrer Seite. Wie fliegende Bettlaken kamen sie an, wie ausgediente Fetzen, die der Wind bauscht und die man gewöhnlich auf die Toten legt, um sie vor dem lebenden Auge zu verbergen. Die staubige Luft ließ sie erscheinen wie aus den Gräbern gewühlt. Die Menschen rannten, ihre Angehörigen suchend, durch die Schluchten der zertrümmerten Häuser. Sie wagten sich nicht in die Ruinen hinein, aus Angst, sie könnten über ihnen zusammenfallen. Verletzte wurden neben den zerfetzten, löchrigen Straßen notdürftig versorgt, aber nirgendwo war jemand zu sehen, der wirklich helfen hätte können. Statt dessen griffen die Fänger an und niemand dachte daran, wegzulaufen. Trotz der unheimlich keckernden Laute, die von ihnen ausgingen, glaubte man noch nicht an eine neue Gefahr. Die Fänger trugen weder Waffen noch hatten sie auf den ersten Blick etwas Bedrohliches an sich, ganz im Gegenteil wirkten sie wie ein Lazarett auf der Flucht. Und flüchtig waren sie doch alle in diesen Zeiten. Bedauernswerte Kreaturen also, vielleicht sogar sterbenskrank.

Zeitgleich starben ein alter Mann und ein junges Mädchen. Mit einem scharfen Stein, den ein jeder der Fänger in Händen hielt, rissen sie den ungeschützten Bauch auf und bissen in die Kehlen der völlig Überraschten. Der Mann begann sich schwach zu wehren, versuchte, mit dünnen Schlägen seiner leeren Hand das Gesicht des Angreifers zu treffen. Die Erschöpfung, in der sich sein Körper befand, sowie der aufgeschnittene Wanst, in dem jetzt eine Hand des Fängers wühlte, stahlen ihm das Leben. Der Biss in die Kehle fand bereits post mortem statt.

Das junge Mädchen brachte nicht einmal den Reflex auf, eine Abwehrbewegung zu machen. Leider blieb sie etwas länger am Leben und hörte in ihrem Kopf durch den Rachenraum das blutgierige Schmatzen des entsetzlichen Mörders. Zwar wurde auch ihr mit einem Stein die Bauchdecke durchtrennt, so dass ihr Gedärm zu Boden klatschte, aber es fehlte die eigentliche todbringende Verletzung, sie erstickte schließlich an ihrem eigenen Blut.

Die Erkenntnis einer ebenso gewaltigen Gefahr wie es das vorangegangene Bombardement war, stellte sich nur langsam ein. Noch ehe jemand imstande gewesen wäre, das Weite zu suchen, kam der Tod in Form dieser merkwürdigen Gestalten, die, wollte man sie für Menschen halten, dem Wahnsinn gehörten. Das nächste Grauen kam über alle, die das Stahlgewitter so glücklich und mühevoll überlebt hatten, die sich auf Besatzung und auf Hilfe eingestellt hatten. Doch mit dem Sterben allein war ihre Aufgabe nicht erfüllt. Ganz im Gegenteil war das Schlachten, das Ausbluten und Ausbeinen nur ein Teil des Rituals. In Wahrheit nämlich dienten sie den Fängern als Nahrung. Peter Krüger wäre ihnen beinahe da schon in die Arme gelaufen, denn der Staub waberte nach wie vor weit über die Dächer der höchsten noch stehenden Mauern hinweg und irritierte jegliche Sicht.

Es roch nach Wasser. Nach Fisch, um genau zu sein. Bartholomäus versuchte, über die seltsame Kombination verschlungener, nie zu greifender Erinnerungen nachzudenken und sie in Bezug zu seiner Umwelt zu bringen, als er den Teich auch schon entdeckte. Was er sah, erinnerte ihn an eine Bröckchensuppe, wenn er sich manchmal in die Blechschale über dem Bunsenbrenner hart gewordenes Brot in die Fleischbrühe schnitt. Wie dann die Rinde, wenn sie aufgeweicht war, durch die Suppenoberfläche glänzte. Nur waren das hier Hemden, die, vollgesogen mit Wasser, Blasen warfen. Die beiden Leichen, die er in der Mitte des Fischteichs entdeckte, als er aus dem Leuthenforst herausgetorkelt kam, die Mücken durch permanente Wischbewegungen verwirrend, trieben mit dem Gesicht nach unten, die Arme entspannt ausgestreckt. Bartholomäus kam zögernd näher, den Gestank nach Faulschlamm und Fisch ignorierend. Mit Gerüchen kannte er sich aus. Er stand am Ufer und starrte auf das makabre Idyll. Jetzt bin ich erneut ein Zeuge der Vergangenheit. Das hier wird mir keinen Frieden bescheren. Einer ertrinkt schon mal, wenn er nicht vorsichtig ist, aber wie war es mit diesen beiden gewesen? Ich lebe und blicke auf den Tod, auf den gewaltsamen Tod, wenn ich mich nicht irre, auf die Ruhe danach.

Alles wirkte friedlich. Vögel trillerten und Bienen summten. Ab und zu schnappte ein Fisch nach Luft. Bartholomäus ging in die Hocke und ließ die beiden Leichen nicht aus den Augen. Er kramte in der Manteltasche nach seinen Tabaksbeutel, der noch schlimmeren Duft verströmte als der Teich, der in Ufernähe über und über mit Entengrütze bedeckt war. Erneut schlugen seine Gedanken Kapriolen. Sie kamen und gingen, und auf eine gewisse Weise genoss er seine mittlerweile unterhaltsame Verwirrtheit, auch wenn er sich etwas davor fürchtete.

Vielleicht sind sie gar nicht hineingefallen, sondern dort geboren worden, haben gelebt und sind dann gestorben und jetzt denkt jeder das Offensichtliche. Niemand kommt auf die Idee, dass die beiden dort unter Wasser gelebt haben könnten, in einem schönen Algenhaus, mit ihrer Fischfamilie. Vielleicht verwandeln sich tote Karpfen in Hemden tragende Menschen. Vielleicht verwandelt sich Porzellan in Fleisch, vielleicht verwandelt sich die Welt in eine bizarre Landschaft, die nur wenige so sehen wie sie wirklich ist.

Nachdem die Zigarette, gedreht aus Kippenabfällen, geraucht war, erschienen ihm seine Gedanken einleuchtend. Wir ernten, was wir säen. Andere ernten, was wir säen. Aber alle warten wir darauf, dass etwas wächst.

»Meinst du, der Mörder ist noch hier?«

Bartholomäus fuhr zusammen und schaute sich hektisch um, aber da war, wie so oft, niemand. »Wie so oft, aber nicht wie immer«, flüsterte er, um sich von der Stimme, die er in seinem Kopf hörte, zu unterscheiden. Aber das war gar nicht nötig, denn die Stimme war die des Gänsemädchens, hell und samten, wie er sie in Erinnerung hatte.

»Der Mörder ist für immer an diesen Ort gebunden, ein Gefangener des Augenblicks, den er bis an sein Lebensende wiederholen wird.«

»Wo bist du?« Bartholomäus nahm seinen Kopf in beide Hände, die er wie einen Schraubstock an seine Schläfen presste, aber die Stimme brabbelte munter weiter: »Es gibt keine Kampfspuren. Kampfspuren erkennst du doch noch, oder?«

»Wie machst du das?« Er drehte sich im Kreis, bis die Welt ein einziges Chaos aus Farben war. Aber die Stimme war er los. Hart schnaufend zog er sich aus, um sich zu waschen. Er drohte beinahe zu ersticken, teilte die Entengrütze und verjagte die Wasserschneider. Er füßelte ins Wasser und stieg dann ganz hinein, bedeckte seinen verschwitzen, öligen Leib mit Wasser, tauchte unter und prustete. Wie kalt, wie frisch. Er überlegte sich kurz, ob er in die Mitte schwimmen sollte, um sich die beiden Ertrunkenen (ja, sie waren nichts weiter als Ertrunkene) genauer anzusehen, überlegte es sich dann anders und verließ das Wasser, als er Geräusche hörte, die er sofort in Verbindung mit anderen Menschen brachte. Er hörte Stimmen, diesmal nicht in seinem Kopf, sondern mit seinen Ohren. Da war jemand im Anmarsch. Instinktiv duckte er sich, wagte aber nicht, sich seine schäbigen und vor Dreck starrenden Klamotten zu greifen. Wäre er nicht das perfekte Vorzeigemodell einer ländlichen Gemeinde, die einen Schuldigen suchte? Ohne festen Wohnsitz, von Kopf bis Fuß mit Narben übersät, ohne eine Erinnerung an seine Vergangenheit, aus dem gleichen Wasser steigend, in dem zwei tote Männer trieben, die vielleicht, nein, wahrscheinlich sogar jeder kannte? Er musste von hier verschwinden, die Stimmen kamen direkt auf ihn zu und ihre Träger würden ihn in weniger als einer Minute entdecken. Noch schütze ihn das Schilf, aber seine Kleider lagen etwas weiter vorne auf der Wiese. Ihm blieb keine Wahl, und so bewegte er sich in die entgegengesetzte Richtung. Doch seine Rechnung ging nicht auf. Roland zeigte hektisch mit dem Finger auf ihn und schrie mit sich überschlagender Stimme: »Der Schnackelhupfer! Lauft!«

Aber zunächst rannte Bartholomäus. Er dachte überhaupt nicht mehr nach, lief sich seinen Schock aus den Muskeln und versuchte, den Waldrand zu erreichen. Gleichzeitig sah er drei kreischende Kinder davon spurten, die sich immer wieder umsahen, ob er ihnen folgen würde. Als er endlich begriff, dass dies eine gute Gelegenheit war, seine Lumpen wieder zu ergattern, kauerte er sich hinter einen der mittelgroßen Felsen, die hier überall herumlagen und hustete sich die Lunge aus dem Leib. Ihm wurde abwechselnd schwarz und rot vor Augen und er bemühte sich, nicht ohnmächtig zu werden. Das wäre sein Ende gewesen. Ihm war klar, dass er nicht viel Zeit hatte, aber die musste er nutzen, sonst konnte er sich vergessen. Wenn er gewusst hätte, dass hier vor etwa einem Monat ein Jugendlicher auf bestialische Weise zu Tode gekommen und die Dörfler sich sozusagen im Kriegszustand befanden, wäre er auf der Stelle gestorben. Einen Hasentod.

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