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Bartholmäus 3: Mechanismus der Sublimierung

Last updated on 16. Juli 2024

Die Gedanken hat man früher Vögel genannt, mächtige Steinadler hoch im Himmel, insektenfleißige Wintergoldhähnchen weiter unten, beide verschwindend in der rauen Nacht. In kanutischen Kreisen produziert der Malstrom undenkbare Wirren. Weit ist das rettende Ufer; wer es erreicht, der hat sich deshalb noch lange nicht in Sicherheit gebracht, der lässt sich vielleicht täuschen von den Schwarzerlen, der artenreichen Krautschicht, die es hier zu finden gibt, der wird ganz versessen darauf sein, die Auwälder zu betreten, nachdem er gerade dem finsteren Schlund seiner eigenen Vergangenheit entkommen ist. Wo will er hin, Bartholomäus, der Wanderer? Er kommt von dort, wo man einst Monstren an die Wände malte, wo man statt der Säulen geriefelte Stengel mit krausen Blättern und Voluten malte, statt der Giebel Zierwerk, ebenso Kandelaber, die gemalte Ädikulen trugen. Auf deren Giebel wuchsen aus Wurzeln sich ein- und ausrollende zarte Blumen, auf denen dann ganz sinnlose Figürchen saßen. Und schließlich trugen die Stängelchen sogar Halbfiguren, die einen mit Menschen-, die anderen mit Tierköpfen.

Während er zu diesem Weiher zurück schlich, sah er diese Bilder wieder vor sich. Erst wenn die Wirrnis total, die Finsternis nicht mehr vom Licht zu trennen ist, erst wenn alle Werte vernichtet sind, das Ich sich in die Allheit beugt, wird es erkennen, dass der Geist (der Verstand erst recht) nicht ausreicht, etwas jenseits von sich zu erfassen, dass alle Flüsterei, die von außerhalb eindringen mag, in Wirklichkeit der eigenen Urheberschaft entstammt und alles im Universum ganz genauso beschaffen ist; dass wir den Kosmos nicht teilen, sondern jedes Partikelchen ein eigenes All hervorruft, allein durch seine rätselhafte und nie zu klärende Existenz. Wie will er je seinem Schatten entkommen?

»Trödle nicht, du musst versuchen, zu fliehen, sie sind dir auf den Fersen und dein Schicksal ist noch nicht erfüllt!«

Zunächst hörte Bartholomäus ein sehr lautes Geräusch nicht weit von sich entfernt. Es hörte sich an, als würden mehrere sehr trockene Äste gleichzeitig brechen. Sein Problem war, dass er nicht wusste, wohin er sich wenden sollte. Kaum von seinem ersten Schrecken erholt – sein Herz taktete gerade wieder mit Innerstadtgeschwindigkeit – war er der Meinung, der Verfolger, den er den ganzen Weg um sich herumschleichen spürte, nutze nun endlich die Gelegenheit, ihn (warum auch immer) anzufallen. Bartholomäus konnte sich keinen Grund ausmalen, warum es jemand auf ihn abgesehen haben könnte. Ein seit langer Zeit verborgenes Gefühl löste das nun folgende Zittern aus, das durch seinen ganzen Körper wanderte. Weder wollte es ihm gelingen, sich von der Stelle zu rühren, noch entdeckte er etwas Bedrohliches in seiner Nähe. Aus der Richtung, in die er eigentlich zu gehen beabsichtigte, vernahm er die Echos aufgeregter Stimmen. Er hatte nicht die geringste Vorstellung davon, was die erschrockenen Kinder in ihm gesehen haben wollten. Fürchteten sie sich am Ende vor dem gleichen Ding wie er selbst?

»Wer bist du?« Gerne hätte er selbstsicher geklungen, seine Stimme war im Grunde gar nicht so zaghaft, aber davon war er weit entfernt. Ein Krächzen stolperte aus seinem Mund, nervös blickte er um sich. Das Brechen der Zweige war nun wirklich nicht mehr weit von ihm entfernt. Dort versuchte er angestrengt etwas zu erkennen, bis seine Augen zu tränen begannen. Da war nichts, da war überhaupt nichts. Oh doch! Es knackte an einer anderen Stelle, nicht mehr so laut wie vorhin, aber spielte das eine Rolle? Er versuchte sich, trotz seiner Starre, wieder in Bewegung zu setzen. Was blieb ihm schon übrig? Augenblicklich gaben seine Beine nach und er fiel in die Sträucher, die sich wie Katzenkrallen in seine Haut bohrten. Als hätte ihn ein Giftpfeil betäubt, war er nicht mehr Herr seiner Muskulatur. Wieder knackte es, diesmal wusste er nicht, wo das Geräusch herkam, es schien ihn einzukreisen. Er stützte sich auf die Unterarme und schleppte sich wie ein Soldat unter feindlichen Kugelhagel vorwärts.

»Ich bin euch entkommen«, krächzte er erneut, Speichel troff ihm von der Unterlippe. Jetzt tauchten Bilder vor ihm auf, genauer: eine Ruinenstadt. Staub schwebte durch die Gassen, ferne und nicht ganz so ferne Detonationen wühlten brüllend die Erde auf, verschmutzte Torsos lehnten an Häuserwänden oder lagen wie weggeworfene Handpuppen auf der Straße herum; dann Nebel, durch den sich eine Frau in Trauerkleidung nach vorne schob. Sie kam auch diesmal nicht ganz aus ihrer gelben Wolke heraus, Bartholomäus konnte ihr verdammtes Gesicht erneut nicht erkennen. Etwas berührte ihn an der Schulter, verstärkte den Druck. Wo zum Teufel befand er sich? Der Wald ging eine Liaison mit den zerfallenen Häusern ein, es sah aus wie im Dschungel. Ihm gelang es nicht, die Schüsse, die aus der Vergangenheit in die Mauern um ihn herum einschlugen, von den krachenden Ästen der Gegenwart zu unterscheiden. Der Druck auf seinen Rücken (jetzt war es nicht mehr nur die Schulter) nahm zu, seine vernarbte Haut schmerzte wie schon seit langem nicht mehr. Dann wurde er ohnmächtig, aber die Geräusche um ihn herum verstummten nicht. Bartholomäus nahm sie mit hinüber, wo immer wir hingehen, wenn wir das Bewusstsein verloren haben.

Der Mechanismus der Sublimierung hat den Zweck, das gestörte Gleichgewicht zwischen dem Kohärenten ICH und den verdrängten Elementen wiederherzustellen. Diese Wiederherstellung geschieht zum Wohle des ÜBER-ICH, das sich gegen die gegenwärtige unerträgliche Wirklichkeit auflehnt, gegen alle Mächte der Außenwelt.

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