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Wolf aus Erz: 4 Er hatte die Welt verlassen

Last updated on 18. Juli 2024

Erneut stieg Adam in seinen Kaninchenbau hinab. Dazu brauchte es nicht viel. Einfach den Blick auf ein Farbpigment gerichtet, und schon sah er sich und seinen Bruder zurück in ihre Betten schlüpfen, obwohl das gar nicht zur Dramaturgie der Fotografie gehörte. Noch war nichts geschehen, Helmut noch nicht gefressen worden. Nur der Wolf war schon da. Er forderte durch seine Existenz, ab jetzt aufmerksam zu sein, denn bald würde alles aus den Fugen geraten. Adam war verblüfft, wie frei er sich bewegen konnte. Er schlich an Lumpi vorbei – das war eigentlich ausgeschlossen. Wie ein Seismograph reagierte der nämlich auf jede kleine Veränderung. Der Kettenhund bemerkte ihn nicht und schlummerte mit der Schnauze auf seinen schwärenden, vom Kot verklebten Pfoten. Er winselte leise im Schlaf. Adam dachte darüber nach, ob er ihn befreien sollte, sozusagen als Test, ob er wirklich in der Vergangenheit vorhanden war. Er spürte sich gleichzeitig da oben auf der Couch sitzen (von einem Kaninchenbau aus gesehen, musste es oben sein) und hier neben dem elendig aussehenden Hund stehen. Er hob eine Hand vor sein Gesicht, um sie zu betrachten, hatte das Gefühl, den Arm zu heben, aber vergeblich. Er war unsichtbar, nur ein Gedanke, der durch längst vergangene Erinnerungen strolchte. Sein Körper saß in diesem Hotelzimmer und starrte ein Bild an, das sein Vater einst geschossen hatte. Trotzdem dachte Adam darüber nach, warum er nicht fror und keinen Schnee sah, wo doch das Bild ein Weihnachtsbankett zeigte. Oder irrte er sich? Befand er sich in der falschen Zeit, oder konnte er gar gehen, wohin er wollte?

Natürlich kannst du das! Die Erinnerung ist frei, du kannst riesengroße Schritte tun, dir alles ansehen und sogar verändern. Das tust du nämlich. Du veränderst deine Vergangenheit, indem du sie besuchst. Das war Fridolins Stimme, obwohl Fridolin keine Stimme hatte. Adam führte Selbstgespräche. Interessant war nur, dass der andere Teil, der ihm alles mögliche erklärte, Dinge wusste, von denen er noch niemals gehört hatte. Raha war so eine Sache. Er befand sich auf dem Weg dorthin, gar keine Frage, abgestiegen in einem Hotel in der Rue d’Ausseil, wo er seit Stunden dieses Foto in seinen Händen hielt und erstaunlich klar die Ereignisse vor sich sehen konnte, sogar die, an denen er gar nicht beteiligt war. Und das war doch ganz sicher etwas Besonderes.

Adam löste den Haken an Lumpis Halsband. Obwohl unsichtbar, bereitete es ihm keine Mühe, das kühle Metall zu spüren und die Öse auszuhängen. Es überraschte ihn, als er sich an sein schlechtes Gewissen erinnerte. Der Mischling hatte seine Chance damals genutzt und war davongelaufen. Adam hätte schwören können, nichts mit der Sache zu tun zu haben, und das war ein weiterer Irrtum, wie er nun wusste.

Nachdem er Lumpi, der in so vielen Nächten wie ein Besessener an seiner Kette gezerrt, der sich an so vielen Tagen den heißen Schaum von den Lefzen gebellt, befreit hatte, ging oder schwebte er an dem Apfelbaum vorbei. Er wollte sehen, wie weit er kommen würde, ließ sich auf die Vergangenheit ein wie auf einen Traum. Die Umgebung zeigte sich in einem Dämmerzustand, weder war es hell noch dunkel. Sterne sah er keine, dazu hätte er sich konzentrieren müssen. Der Baum erschien ihm nur deshalb so klar, weil er ihn besonders mochte und ihn niemals hätte vergessen können. Das traf in gewisser Weise auch auf den räudigen Spitzmischling zu.

Adam erinnerte sich, nur ein einziges Mal die Wohnung der Finners betreten zu haben, aber da war es schon nicht mehr deren Wohnung. Die Familie war zu diesem Zeitpunkt bereits ausgezogen, die Haustür mit der gemusterten Glasscheibe eingeschlagen. Das Innere wurde beherrscht von dem unangenehmen Geruch nach Frittenfett und dreckiger Wäsche. Mäuse huschten an den Wänden entlang und hatten überall Löcher in den Boden gebissen. Als Adam jetzt unsichtbar vor der tiefer gelegenen Wohnung auf der Rückseite des Gebäudes stand, fand er denselben erbärmlichen Zustand vor wie im Jahre 1976. Aber wie konnte dann Lumpi noch da oben liegen?

Das ist möglich, weil du träumst. Ist in einem Traum nicht alles zeitlos und kann gleichzeitig geschehen?

»Ich möchte wissen, was geschehen ist.« Adam schmeckte eine bittere Trockenheit an seinem Gaumen haften.

»Möchtest wissen, was?« Da war eine Stimme, die hinter der dämmrigen Tür steckte. »Na, komm rein, ich erzählʼs dir!«

Adam konnte gar nicht anders, als die leerstehende Wohnung zu betreten. War er nicht deshalb gekommen, um aufzuspüren, was ihm damals entgangen war? Unkraut wuchs aus den Rissen über der Eingangstür. Adam sah Zimbelkraut und Blauregen bis hoch zu dem Wohnzimmerfenster ranken, vor dem er früher immer gesessen hatte, um seine Hausaufgaben zu machen, die tonisierende Wirkung des ungebändigten Grüns, das um die Weiher herum wucherte, vor Augen, die Maulschellen, die ihm Ludwig, der hinter ihm stand, verpasste, wenn er in seinen Hausaufgaben einen Fehler entdeckte.

Die Tür knarrte und warf schauerliche Misstöne aus den Angeln heraus. Zunächst sah Adam nichts, spürte aber eine erschreckende Leere, wie sie Häusern gemein ist, die seit langer Zeit menschenlos durch die Geschichte wabern. Dann erschien gleichmäßiges Licht ohne eine Quelle.

Helmut saß auf einem abgeschabten Stuhl, trug ein Jeanshemd, aus dessen Brusttasche ein Tabaksbeutel ragte, und grinste ihn an, keinen Tag älter als er ihn in Erinnerung hatte. Das wird für immer so sein, dachte Adam; er ist tot, er kann gar nicht älter werden. Kaum hatte Adam Helmut in der Mitte des Zimmers, das einst das Wohnzimmer gewesen sein musste, entdeckt, setzten die pumpenden, schwer aus der Ferne donnernden Hammerschläge (oder was er dafür hielt) ein. Seine frühe Kindheit war geprägt von diesem Geräusch, das es seit 1766 in diesem Tal gar nicht mehr geben konnte. Das war wesentlich beunruhigender, als Helmut hier sitzen zu sehen.

»Oh, es ist nicht so wie du denkst. Ich habe gar keine andere Wahl, als der zu sein, den du vor dir siehst. Ich komme mir vor wie der Geist der vergangenen Weihnacht, das muss ich schon sagen.« Helmut lachte und schlug sich auf die Schenkel. Sein braunes Haar wucherte um sein blasses Gesicht herum, fiel aber noch nicht auf die Schultern. »Weißt du, es gibt Metaphern für alles, selbst für mich.«

Adam dachte daran, dass er eigentlich unsichtbar sein müsste, nur ein Gedanke, der in seiner Erinnerung schwelgte, und fragte sich, ob das ein Teil Wendenschuchmühle war, die er kannte. Helmut hörte auf zu lachen und sah ihn ernst und mit zusammengekniffenen Augen an. »Du liegst gleich da oben, wenn du das fragen willst. Du könntest dir sogar beim Schlafen zusehen. Aber das willst du gar nicht, stimmtʼs? Du willst etwas wissen, sonst würdest du jetzt nicht in diesem komischen Hotel herum sitzen und dich fragen, wo um alles in der Welt du überhaupt bist.«

Noch bevor Adam etwas erwidern konnte, beugte sich Helmut vor und griff in eine gummibeschichtete Stofftasche, an der über einem dämlich grinsenden Snoopy der Satz ›Everybody likes a little fling‹ angebracht war. Die Tasche lag unter Helmuts Stuhl und war gerade erst aufgetaucht, als Helmut sich nach ihr bückte. Helmut räusperte sich und hielt plötzlich ein fiependes Etwas in der Hand, das er zu ihm hinstreckte. Das war die nächste Überraschung. Helmut hielt Fridolin umklammert. Die Albinoratte erschien Adam wesentlich kleiner als damals, als das hier noch seine wirkliche Zeit gewesen war, als seine Mutter noch lebte, Carisma noch lebte, als im Grunde alles zur Unsterblichkeit gehörte.

»Na, ihr kennt euch ja bereits.« Helmut streichelte mit dem Zeigefinger über das weiße Köpfchen des Tiers. »Mein Vorgänger«, sagte er. »Falls dich jemand fragt, du hast uns nie gesehen!« Wieder begann er zu lachen, als sei das alles wirklich zu komisch. Die komplizenhafte Mine verwandelte sich dabei in eine Fratze gekünstelter Heiterkeit. In einem anderen Raum tropfte hörbar ein Wasserhahn. Als Adam halbwegs seine Fassung wiedergefunden hatte, fragte er: »Was machst du hier?«

Helmut sah die Ratte an, die vor sich hinschnupperte, dann wieder Adam. »Meinst du mich oder ihn?«

»Jemand hat dich umgebracht, deshalb frage ich dich.«

Helmut spitzte die Lippen. »Mich nicht. Aber den, der so aussah wie ich jetzt.«

»Du bist also gar nicht Helmut Finner?«

»Jetzt wirst du albern, Adam. Was glaubst du, wem das ganze Spektakel hier gilt? Du bist da in eine wirklich dumme Sache hineingeraten. Hörst du das Hammerwerk?« Adam nickte. »Ich habe es immer gehört, obwohl es schon sehr viele Jahre nicht mehr in Betrieb ist.« Helmut schenkte ihm mit einem missmutigen Blick. »Es ist mein Hammerwerk.«

Als Adam darauf nicht reagierte, sprach das Helmut-Ding weiter. Es wirkte dabei so amüsiert, als sei es gerade aus dem Urlaub von den Bahamas zurückgekehrt und wollte ihn, den Skeptiker von Urlaubsreisen ganz allgemein, davon überzeugen, dass er sich schleunigst in ein Flugzeug zu setzen habe. »Unser kleiner Freund hier hat dir sogar schon erzählt, was wir in der Mühle so treiben. Wir fertigen Ideen. Die meisten Leute finden sich einfach damit ab, was ihnen in der Welt so begegnet. Sie nennen es Schicksal, Zufall oder Glück undsoweiter. Niemand verschwendet auch nur einen Gedanken an unsere Ideenmanufaktur. Nun, weil eben keiner weiß, dass es so etwas überhaupt gibt. Alle wundern sich, zumindest in gelehrten Kreisen, wie rapide sich der homo sapiens ausbreiten konnte. Du nicht auch? Nein, ich wette, du denkst darüber nicht weiter nach, habe ich recht? Du willst nach Raha.« Er lächelte versonnen. »Also, wenn es dir lieber ist, mich in deinem Hotelzimmer zu empfangen, können wir das Gespräch gerne dort weiterführen. Aber dann entgeht dir eine Besichtigung.«

»Eine Besichtigung?« Adam wäre es überhaupt nicht recht gewesen, sein Hotelzimmer preis zu geben. Er ahnte, dass es Helmut nicht so einfach gelingen würde, den Ort und die Zeit zu wechseln, wie er andeutete. Viele Märchen kannte er natürlich von Carisma, die ihm stets erklärt hatte, dass Märchen nicht nur Märchen seien, dass in ihnen in annehmbaren Bildern eine universale Bedeutung verborgen lag. Man musste sie nicht mit dem Verstand erfassen, konnte es auch gar nicht. Es genügte, sie erzählt zu bekommen, sie immer wieder neu zu erzählen. Sie war der Auffassung, das Erzählen von Geschichten sei das einzige, das die Welt vor dem Zusammenbruch bewahrte.

»Kein Geist kann sich bei dir einnisten, wenn du ihn nicht darum bittest.« Das waren ihre Worte und das war auch eines der elementaren Gesetze, im wahrsten Sinne des Wortes: Es war gesetzt vom Anbeginn des Weltenlaufs, der ja ebenfalls nur durch Erzählungen ins Rollen gekommen war.

Helmut räkelte sich genüsslich auf seinem Stuhl. Fridolin war mittlerweile in seinem Hemdsärmel verschwunden. »Ich zeige dir Wendenschuchs Mühle.«

Die Ideenmanufaktur, von der er gesprochen hatte Da wollte er ihn also haben. Aber warum? Vielleicht wurde dort an einer Idee gebastelt, die es ihm unmöglich machte, jemals wieder zurückzukehren. Raha schützte sich bereits hier vor ihm.

Es geht wie immer um Macht und du bist doch selbst eine hervorragende Idee, eine Idee der Hoffnung, möchte man fast versucht sein, zu sagen. Fridolins Stimme.

Plötzlich fiel es Adam ein: »Das ist nicht Fridolin, den du da im Hemd stecken hast.«

In Raha geschehen Dinge, die nur dort geschehen. Adam begriff es noch nicht, aber er dachte daran, dass die Mühle und Raha konkurrierende Unternehmen sein könnten. Licht und Dunkel. War das denkbar? War es so einfach?

Helmut machte eine enttäuschte Geste und hob die Hände sowie den Blick unschuldig gen Himmel. »Die echte Ratte war nicht aufzufinden, um ehrlich zu sein.«

»Wenn das also nicht Fridolin ist und du nicht Helmut bist, dann bist du…« Adam wusste nicht, welchen Namen er aussprechen sollte. Das Ding in Helmut hatte gesagt, dass ihm die Mühle gehörte, aber er wollte nicht daran glauben, dass Alfons Wendenschuch hier vor ihm saß, um im Körper eines toten Halbwüchsigen mit ihm zu reden.

Die Helmut-Erscheinung funkelte ihn an. »Ich bin der animus loci, der Geist des Ortes. Bis auf dich habe ich alle bekommen. Okay… bis auf dich und diese Ratte. Ihre Geister toben in den Schwanzhammern und Blasebälgen, oder sie sind ganz einfach tot, wie du weißt.«

TOT.

»Das hier«, er fuchtelte sich über dem Kopf herum als wolle er einen Hubschrauber imitieren, »ist nur eine Fassade, Restenergie. Hier hat ja auch jeder ziemlich viel davon hinterlassen. Wie deine Schachtel voller alter Fotos. Wenn sie niemand ansieht, existieren sie nicht, erst wer sie herausholt, um sie zu betrachten, erweckt sie wieder zum Leben. In diesem Fall bist du das. Wenn du dir aber gedacht hast, in jedem Winkel deiner Erinnerung ungestraft herumschnüffeln zu können, dann hast du dich getäuscht. Du bist viel zu sehr verwoben mit anderen Leben. Im Grunde sind die Mühlen, die an Schnittstellen stehen, auch Grenzposten. Man kommt an ihnen nicht vorbei.« Helmut griff in sein Hemd und holte die Albinoratte daraus hervor. Adam erkannte jetzt eindeutig, dass es sich nicht um Fridolin handeln konnte. Dazu war das Tier nicht nur zu klein, sondern auch zu wenig auratisch. Helmut betrachtete es und sagte: »Was soll’s«, bevor er ihm den Kopf abbiss. Blut bespritzte sein Gesicht und lief über seine Lippen. Er spuckte den Kopf auf den Boden, der noch ein wenig weiter kugelte und rote Farbtropfen absonderte. Den Torso warf er achtlos in eine Ecke, mit dem Handrücken fuhr er über seinen Vampirmund und verschmierte das Blut, so dass er aussah wie Graf Dracula persönlich. Als Helmut sich erhob, war seine Haltung eine andere. Seine Augen funkelten unstet wie Morsezeichen. Adam verspürte merkwürdigerweise keine Furcht, er konnte sich, wenn er wollte, jederzeit zum Erwachen zwingen. Erwachen war ganz und gar das richtige Wort, denn er fühlte sich, als träumte er. Deutlicher vielleicht und zusammenhängender. Tatsächlich fühlte er sich entspannt und sah sich die Szene wie einen Film an, von dem er wusste, dass er nur zu seiner Unterhaltung gezeigt wurde. Das hätte sein können, dachte er. Aber so war es nicht. Es gab die Hammermühle vor dem Granitwerk, das war schon richtig. Auch, dass Claus das Surren und Pochen genauso gehört hatte wie er. Trotzdem war Adam der Meinung, es würde dort etwas aufrecht erhalten werden. Der Geist des Ortes wollte ihn testen, mehr nicht. Das Erlebnis hier in der leerstehenden, diffus und gleichmäßig beleuchteten Wohnung der Familie Finner gehörte zum Hotel in der Rue d’Ausseil. Der Geist des Ortes konnte ihm nichts anhaben, weil er sich nicht an diesem Ort befand. Die Ideenmanufaktur nämlich stand in Raha. Das ahnte er mittlerweile. Um dort hinzugelangen, musste man durch ein labyrinthisches Moor wandern. Jederzeit war es möglich, in einem Schlammloch zu versinken, und das hier musste eines dieser Schlammlöcher sein, die Vergangenheit saugte sich an seinen Beinen fest, war für ihn nur deshalb so leicht erreichbar, weil etwas davon ausging, dass er verschluckt werden würde. Adam wollte sich an den Tag erinnern, als er wirklich hierhergekommen war, die zerschlagene Tür öffnete und durch die Zimmer lief, auf der Suche nach etwas, das er gebrauchen konnte. Finners hatten nicht alles mitgenommen, als sie Hals über Kopf verschwunden waren. Wäschesäcke standen herum, darin wollte er aber unter keinen Umständen wühlen. Die Küchenzeile erweckte den Eindruck, als sei sie mit einer Axt zertrümmert worden. Überall lagen Holzspreißel, und die Schubfächer waren aus ihrer Führung gerissen. Unter dem Spülstein, von dem kein Rohr mehr in die Wand führte, lagen zwei tote graue Mäuse. Die Erinnerung war jetzt so stark geworden, dass er Helmut nicht mehr wahrnehmen konnte. Die Gestalt verblasste, wurde zu einem stehenden Nebel in Menschengestalt und löste sich auf, ohne noch etwas zu sagen. Was blieb, war der tropfende Wasserhahn. Eine Lache breitete sich um die toten Mäuse herum aus und versickerte stellenweise in Dellen im Boden, von dem das Linoleum in Fetzen herausgerissen war. Er hörte ein leises Keuchen und sah plötzlich Marliese auf dem Boden herumkriechen. Sie tastete mit den Händen herum, als sei sie blind. Adam erkannte, dass die Küchenfassade durch sie hindurch schimmerte. Ihre braunen Strümpfe, die unter ihrem ausladenden Hinterteil unter einem geblümten Kleid verschwanden, waren voller Laufmaschen. Adam konnte die rissigen Schwielen an ihren Fersen sehen. Fasziniert beobachtete er die Mutter Helmuts, wie sie schemenhaft und scheinbar ziellos den Küchenboden abtastete. Er vermutete, dass es stockdunkel gewesen sein musste, als sich dieser Spuk wie eine Tonbandaufnahme in die Matrize dieser Wohnung brannte. Dann löste sie sich auf, um einer anderen Erscheinung Platz zu machen. Richard Finner materialisierte sich an der Eingangstür. Dahinter traten Erich Wendler und zwei ihm völlig fremde Männer wie in einer Prozession in den Flur und weiter ins Wohnzimmer. Erich trug eine Sonnenbrille wie an dem Tag, als er mit Ludwig Streit bekommen hatte, der ihm daraufhin die Fresse polierte. Adam erinnerte sich, dass er eine Zeitlang sein Bier mit dem Strohhalm trinken musste und überall tapsige und blutige Handabdrücke an der weißen Wand die Treppe hinauf hinterlassen hatte. Die beiden anderen Männer trugen einen Bart und abgewetzte Kunstlederjacken über einen Pullunder. Sie sahen sich ziemlich ähnlich, nur dass einer von ihnen grüne Cordhosen trug und der andere eine Jeans, die unten in seinen Wollsocken steckte. Adam folgte ihnen über den staubigen abgeplatzten Boden, solange er sie noch sehen konnte, denn auch sie waren durchscheinend und verschwommen. Jetzt erkannte er Ida und Silke, die aus dem angrenzenden Schlafzimmer kamen. Sie trugen Schüsseln, die mit Emaille überzogen waren. Beide weinten wie verrückt. Adam starrte die beiden jungen Mädchen an, die er so gut wie nie zu Gesicht bekommen hatte, vor allem nicht gemeinsam. Er hatte sich oft gefragt, ob sie eigentlich überhaupt zur Schule gingen. Das taten sie natürlich, aber es war eine etwas andere Schule, eine, in der man etwas langsamer voran kam. Sie trugen nur T-Shirts und waren unten herum nackt. Zitternd standen sie nebeneinander. Die Männer zerflossen fast vor Gier. Richard sagte etwas, das er nicht verstehen konnte. Aber es schien ein Befehl zu sein, denn die beiden Mädchen setzten sich auf ihre Schüssel und benetzten mit ihren Tränen den Boden, dann löste sich auch diese Szenerie auf. Plötzlich war Adam elendig zu mute. Er wollte aus diesem Loch heraus. Kaum hatte er den Gedanken zu Ende gedacht, befand er sich in der Wohnung seiner Eltern. Zwei blonde Jungen standen vor dem Küchenfenster und unterhielten sich angeregt. Der eine etwas älter, der andere jünger. Das war eine frühere Ausgabe von ihm selbst und Claus. Ganz aufgeregt trat Adam näher. Er hatte sich noch nie selbst beobachtet, und auch in den echten Träumen hatte er sich nie als sich selbst identifizieren können. Es war mehr ein Gefühl gewesen, das ihn sagen ließ : das bin ich. Aber jetzt war er es tatsächlich. Die beiden Jungen betrachteten einen Mann, der im Garten vor der niederen Lagerhalle mit den vielen Kunststoffbooten saß. Es handelte sich erneut um Erich Wendler, der mit einer Sonnenbrille über seinen geschwollenen Augen hinter dem Maschendrahtzaun in einer Sonnenliege saß und Bier aus einem Aluminiumfass saugte. Sah er das, weil er sich unten in der Finner-Wohnung daran erinnerte?

»Seitdem der Wolf hier ist, verändert sich die Welt«, hörte er sich selbst sagen. Er sprach mit völligem Ernst, was gar nicht zu seinem Aussehen passte, das nichts Pathetisches an sich hatte. Claus sah ihn mit riesengroßen Augen an und er selbst senkte die Stimme. »Der Wolf sitzt nicht mehr dort.« Die Wirkung eines geflüsterten Satzes ist, selbst wenn er von einem Kind ausgesprochen wird, schwer und drückend. Adam hätte das nicht für möglich gehalten. Er ertappte sich dabei, wie er über sich und seinen Bruder hinweg zum Waldrand spähte. Auch jetzt konnte er die stampfenden Geräusche, das Sägen an den Nerven und das elektrische Vibrieren hinter den Kathedralenfenstern der Netzsch Kunststoff hören. Es war etwas anderes als das Pumpen der Hammermühle, vor allem schien es realer.

»Wo ist der Wolf jetzt?« Auch Claus begann jetzt zu flüstern, wobei seine Stimme etwas Brüchiges hat. Adam sah sich selbst eine theatralisch geheimnisvolle Miene aufsetzen. »Mein lieber Mann!«, sagte er sich.

»Er ist unter uns«, sagte sein jüngeres Ebenbild. »Ich werde dorthin gehen, wo er saß und ich wette, er beobachtet mich, während ich den Platz aufsuche.«

»Ich will nicht dorthin!« Claus schiebt seine Unterlippe nach vorne, wie immer, wenn er kurz davor ist, zu weinen. »Sieh mal, ich will da ebensowenig hin wie du, aber ich werde gehen. Du ja nicht!«

»Und wenn der Wolf dich frisst?«

»Er ist aus Erz, schon vergessen? Der kann mich nicht fressen. Der hat keinen Appetit auf Fleisch.«

»Aber was will er denn dann!«

Jetzt hält Claus die Anspannung nicht mehr aus, die durch Adams verrückte und unfassbare Worte den Kessel zum Bersten bringt. Tränen rieseln salztrocken aus den jungen Augen, springen beinahe davon wie Frösche.

»Das muss ich ja eben herausfinden.«

Die Stimmen wurden leiser wie an Kraft verlierende Echos. Er sah, wie Jungadam noch etwas zu Claus sagte, aber es war nur noch ein ferner Hall. Das Bild in seiner Hand verwandelte sich wieder in das Portrait eines Festbanketts. Ich bin der animus loci, der Geist des Ortes. Bis auf dich habe ich alle bekommen. Mit dem Verschwinden des Wolfes, der eigentlich ein Baumstumpf sein sollte, der eben nur so ausgesehen hatte, begann das Sterben seiner Mutter. Er wusste, dass er sich den Wolf eingebildet hatte, der wochenlang das Haus beobachtete. Die Erklärung war, dass der Förster den Baumstumpf endlich weggeräumt hatte. Hatte er sich je die Mühe gemacht, den Platz wirklich zu erkunden, wie er es Claus versicherte? Hatte er natürlich nicht.

Aber der Wolf war kaum verschwunden, als die schlechteste aller Nachrichten ins Haus flatterte, beziehungsweise flatterte sie mit Sebastiana selbst ins Haus, an dem Tag nämlich, als ihr Arzt ihr erklärte, dass ihre Knoten in der Brust zwar tatsächlich vorhanden, und ja, dass die Proben auch nicht gutartig seien, aber das noch lange nicht zu bedeuten habe, dass man da nichts mehr tun könne, dass sie unbedingt positiv bleiben müsse. In ihrem Alter – sie war ja gerade einmal 28 – bestand eine große Chance, eigentlich eine richtig große Chance, dass sie wieder gesund würde. Adam dachte an die Ideenmanufaktur. Hätte er sie sich vielleicht doch zumindest einmal ansehen sollen? Dann dachte er an Carisma, seine Großmutter. Kein Geist kann sich bei dir einnisten, wenn du ihn nicht darum bittest. Mittlerweile empfand er sich selbst als Geist. Er hatte die Welt verlassen, das stand fest.

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