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Flamboyant: 4 Maltes Eisenbahn

Last updated on 18. Juli 2024

Hier wurde bereits viel gesehen. Gespenster blicken aus allen Fenstern, in den Kaminen hängen die Laken der Steckengebliebenen, die Keller überlaufen von dunklen Obsessionen, die ihr Geheimnis ablegten in den Ecken, den Spalieren, unter den Dielen, in einer Truhe unterm Dachgebälk oder im Gedächtnis der Ortschaft. Viel gesehen, viel geschwiegen, vergraben – ausgemerzt. Keiner weiß mehr.

Malte glänzt in der geöffneten Tür mit einem goldenen Morgenmantel, dessen Kragen bis zu den Ohren hochgeschlagen einen ägyptischen Herrscher persifliert, der seinen Hals ebenso wenig der Öffentlichkeit präsentiert wie sein Geschlecht. Gut behütet wird er von einer Baskenmütze, zu poltern erlauben ihm schwere Narbenlederschuhe. Die Schritte dröhnen mächtig und erschüttern zumindest den ersten Stock, aus dem sich niemand herauswagt, um der Wanderung der Titanen Einhalt zu gebieten. Die Wände, hoch und im Hausmann’schen Stil, waren schon vor den Göttern erschaffen, Stuckarabesken falten sich in ein verblasstes Deckengemälde hinein. Eine Jagdszene ist dort zu sehen, Hunde mit Menschenaugen, Jäger, die sich mit lilaschwarzen Trauben mästen, während ein Hirsch in ihrer Mitte zufrieden dreinblickend verblutet.

»Aber Malte, Sie haben uns doch gestern eingeladen!«

Der stand reichlich verblüfft darüber, Ella und Willi gemeinsam vor seiner Tür stehen zu sehen, für Momente wie eine goldtriefende Kleiderpuppe auf der Schwelle zu einer anderen Welt. Den Randgebieten seines Königreichs war leicht anzusehen, dass sich hier der Herrscher des Raums, den er durchmisst, mit demselben zu vereinigen wusste. Die Ausdehnung seines Körpers fand hier statt, und indem man Maltes Wohnung betrat, betrat man ihn selbst.

Die Würze ist das Rätsel, geheimnisvoll wie Safran und Curcuma. Das Rätsel ist die Würze in einer unendlich dahinschwebenden, sich beständig ausdehnenden Welt. Wir alle werden größer, aber wir bemerken es kaum, wir werden durchlässiger, durch uns mäandern Gezeiten.

»Das stimmt nicht ganz, junge Dame – ich ging von zwei unterschiedlichen Situationen aus.«

Geheimnisvoll (seine Stimme sank dahin) raunte er: »Ich fürchte, jetzt müssen wir alles zusammen erledigen.«

Er hielt weiter die Tür auf, machte aber keine Anstalten, sie einzulassen. Sie hörten das Rauschen der Miniatureisenbahn aus einem der Zimmer dringen, die von einem langgezogenen Korridor links und rechts abzweigten, ohne dass man hineinsehen hätte können. Geradeaus schien der Flur in eine Küche zu münden, Töpfe, Zuber und Schüsseln standen auf dem nackten Boden herum, halb von einer alten Kellertür verdeckt. Ella war jetzt doch froh darüber, Willi dabei zu haben. Sie glaubte zwar nicht, dass ihr wirklich etwas Schlimmes in dieser Wohnung zustoßen könnte, aber wenn sie darüber nachdachte, dürften selbst ihre hypothetischen Schreie völlig uninteressant für die Nachbarn sein, sollte sie je in die Lage geraten, überhaupt schreien zu müssen.

»Was machen Sie mit Ihrer Eisenbahn, wenn der Strom ausfällt?« Willi kratzte die Straße seines Scheitels entlang, an dem die Haare besonders stark zogen.

»Oh!« Malte trat beiseite. »Das müssen wir ja auch noch klären. Kommt rein und helft mir, mein Leben sinnvoll zu gestalten.«

Rumpelnden Schrittes führte er sie in ein Zimmer, das wie ein Warteraum in einem kleinen Bahnhof eingerichtet war. Bänke an die Wände geschraubt, Auskunfts- und Ankunftstafeln, stank es nach Bohnerwachs und kalten Kohlen. Die Glasfront eines Fahrkartenschalters (mit einem Sprechfenster in der Mitte) führte in einen anliegenden Raum hinüber und in der Mitte zischelte eine Lokomotive mit drei Waggons durch eine kunstvoll gestaltete Landschaft.

»Abgedreht!«

Ella glaubte, dass Willis Spleen sich nicht so sehr von Maltes unterscheiden konnte, wenn sie sein begeistertes Zwinkern nicht falsch deutete. Okay, jetzt befand sie sich also mit zwei Verrückten in einem subversiven Bahnhof, der so ziemlich alles vermissen ließ, was eine gute alte Wartestelle in der Wirklichkeit auszeichnete, vor allem aber: Öffentlichkeit.

»Wartet hier«, Malte deutete auf eine angeschraubte Holzbank, »der nächste Zug fährt erst in zwei Stunden.« Er trampelte zum Fahrkartenschalter hinüber und kam mit zwei Billetts wieder zurück, die er ihnen in die Hand drückte. Als er ihre fragenden Gesichter sah, sagte er: »Wir müssen die Form wahren. Es ist verboten, sich ohne Fahrkarte hier aufzuhalten.« Der ehemalige Chefredakteur der Frankenpost war nicht wiederzuerkennen. Sein Gesicht hing wie mit Steinen beschwert nach unten. Wackersteine, dachte Ella. Warum hast du so ein sackähnliches Gesicht? Damit du dich besser fürchten kannst! Gestern hatte dieser Mensch so überaus fidel gewirkt. Ella bemerkte die Unsicherheit, die von Willi ausging, als ob er es jetzt endlich ebenfalls wahrnahm, dass hier etwas nicht stimmte. Das machte sie derart nervös, dass sie am liebsten aufgestanden und aus dem Haus gelaufen wäre, im Grunde hinderte sie nur ihre Höflichkeit daran.

»Achtet auf den Widder!«, gurgelte Malte und speichelte seinen Goldkragen voll.

»Was?!« Jetzt war sich Ella sicher. Malte war nicht mehr Malte. Ein schabendes Geräusch ging von ihm aus, die Luft roch nach absonderlichen Dämpfen und er bewegte sich nicht mehr.

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