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Flamboyant: 6 Zurück im Paradies

Last updated on 18. Juli 2024

1967 fiel es Willi Kreutzmann nicht schwer, das ganze Leben als eine Folge von Zufällen zu betrachten, die schließlich auch den Reiz eines Glücksspiels ausmachten. Er fühlte sich ganz und gar wohl in seiner Zeit. Mit seinen langsam aber stetig wachsenden Haaren, den unmöglichen Koteletten, brachte er zwar die anständigen Bürger gegen sich und seine Familie auf, aber niemand versuchte, ihn zu steinigen oder an einem Ast aufzuknüpfen. Der ein oder andere mochte sich fragen, was er denn daran fand, ein Gammler zu sein, wo es doch keine Veranlassung dazu gab. Soweit er wusste, hatte sich nur Wilme Penning, die unter ihnen im Parterre mit zwei plüschähnlichen Hunden lebte, dazu durchringen können, sich zumindest darüber zu informieren, ob es denn nicht strafbar sei, sich … nun, eben … wie ein Gammler herumzulaufen, ob es denn nicht ein Gesetz gegen diese Zumutung gab. Selbstmord sei ja schließlich auch nicht erlaubt, argumentierte sie, fand aber kein Gehör, obdoch sie ihr Anliegen recht sachlich hervorzubringen wusste. Als sie bei der Polizei abgeblitzt war, versuchte sie es beim Gesundheitsamt. Läuse und Ungeziefer wollte sie aus der Kreutzmann-Wohnung herauskrabbeln gesehen haben und selbst ihre Strick-und Häkelfreundin Lore könne bestätigen, dass es neuerdings Mäuse im Haus gab, was ja nicht von ungefähr kommen könne. Sie bedaure es bisweilen, keine Katze halten zu können, wegen der Hunde doch!

Der Summer of Love, den Allan Ginsberg zwei Jahre zuvor Flower Power getauft hatte, erreichte am 18. Juni seinen Höhepunkt in Monterey, aber auch die Porzellanstadt Selb hielt in diesem Jahr neben dem berühmten Wiesenfest ein Human Be-In ab, obwohl es sich dabei in Wirklichkeit um ein Wandervogel-Treffen auf dem Goldberg handelte.

Willi trägt ein künstliches Bärenfell, kaum zu unterscheiden von einem Migranten im Lapedo-Tal oder im böhmischen Mladec. Mit der Unruhe des Sehnsüchtigen betrachtet er verwilderte Rebstöcke, Weinbergtulpen, Enziane. Weiter hinten zwischen den rastenden Felsen leuchten Lichtnelken, Fuchsschwanz und Sonnenröschen um die Wette. In den Boden gebettet versteinerte Muscheln, Quarzkristalle, Ammoniten, das Zirpen der Heuschrecken erfüllt die Luft, Eidechsen tarnten sich steinfarben.

Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, sich mit einem gekauften Zelt zu begnügen. Das sollten jene tun, die sich als Freizeit-Hippies hier eingefunden hatten. Im Innern seines Dreckberges besitzt Willi den Komfort des fahrenden Volkes, die Ruhe auf Wolldecken. Es riecht nach Erde und er riecht das gern. Wo die Menschen in ihren Träumen sitzen, begegnen sie sich im Schlaf der Zeit, denn alles schläft in dieser aus goldenen Brunnen schöpfenden Nacht, die nichts sagt, die es dem Schläfer überlässt, zu erfinden, was es noch nicht gibt.

Während er wartet und das Werden eines Phänomens beobachtet, auf das die Geschichte niemals verweisen wird, tritt Madeleine vor sein Blickfeld, setzt sich nicht weit von ihm entfernt auf eine Bierbank und lächelt ihn an. Im Hintergrund wird das Bierzelt gerade fertig, der Grill angestellt. Frisch geschnittene Zwiebelringe verschwenden ihren scharf-feuchten Geruch. Pflöcke treibt man tiefer in die Erde, über allem senkt sich bereits die Glocke einer Marihuana-Epidemie. Musik, dieses ekstatische Bräu, wird in alle Himmelsrichtungen entsendet. Gerade fegt Eric Burton durch das Kassettendeck, erzählt von San Francisco. Distanzen spielen kaum mehr eine Rolle. Fällt man in die Musik hinein, verspricht sie, dass hinfort keine Zeit mehr sein soll, Jahrzehnte, Äonen, Feuergericht. Warum hat uns die Erde erst so spät hervorgebracht?

Madeleine setzt sich, angetan mit einem bunten Sommerkleid und den Sandalen in der Hand in diese fröhlich hektische Betriebsamkeit des nahenden Festes. Ihre Kupferhaut weist das Sonnenlicht in seine Schranken.

Das Nachher bestimmt das Vorher, brütend über ornithologischen Gebietskarten im Dinarischen Tannen-Urwald, den Schlangenhaut-Kiefern, im tropischen Auslauf, Schaumnest, Spinnennetz, nackt und blind, konvulsivisch zuckend, schleimbadend, sekretabsondernd. Die großen Geheimnisse treten durch die Tür, man probt für den Tod in einer täglichen Pflichterfüllung, der Arbeitsraum der eigenen Körperwärme unter Tierdecken, Daunenmull, in diesem Klima beginnt die steinerne Wirklichkeit immer enger zu werden, die große Wirklichkeit streckt ihre Ammenarme aus. Du hast es erreicht für wenige Stunden, du hast es erreicht für ein begrenztes Immer!

In einem Garten explodieren alle anderen Gärten, den Blick hinunter zu den Mufflons, die wir ritten, wenn wir über den Zaun kamen, mit Epinephrin angereichert in den Schlamm stiegen, wenn der Widder mit dem grauen Vlies sich um die Mittagsstundʼ nicht sehen ließ, sein Arkadien war dies.

In ihrem Garten regnete es unter dem dunklen Dach, Schatten sind nie einsam, das lichtlose Schwitzwasser von Objekten, die Kirsche wirft eine Kirsche, der Apfelbaum nimmt das Licht, knorzt sich vor das Auge, mein eigener Schatten wirft ein Notizbuch, Momente flüchten zu anderen Momenten, die Worte, hinterhergetragen, werden flüchtig, aber sie sind dort zu lesen: Einsam wie ein Schatten komm ich an über die Dächer. Wer kommt über die Dächer? Ich komme über die Dächer, als Schatten ohne Objekt, das mich wirft, das pure Funkeln des Obsidians in seiner dunklen Dämonie. Es gab keine Kleiderordnung und jeder hielt sich daran. Sie war die einzige bepelzte Schrittmacherin wo das Feld sich um das Tunnelsystem herum auszudünnen begann. Es ist das unentschiedene Glück, das ein Wechselspiel einleitet, die Finesse, nicht zu verweilen, sich nichts vom Leib zu halten was auch nur eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Geheimnis aufweist. Für jede neue Tätigkeit müsste man sich einen neuen Namen ausdenken, Bacchanal auf der Heide, in jeder Situation wäre ein numerologisches Gleichgewicht wieder hergestellt, das Summen, Singen, Brummen, Raunen der Ekstase angepasst. Denn diese fleischige Orchidee ist nicht identisch mit ihrem hingehaltenen Rostellum, dem Schnäbelchen Labellum.

Oh Lene, Lene, Lethe – ich vergesse mich, weiß doch nur deinen Namen, im süßen Tod gebrabbelt zerfällt er zu einem bilabialen Frikativ (schnüffeln, starren, kratzen, beißen, spucken). Die Natur hält sich nicht mit unserem Verständnis auf, reagiert aber auf die Vorstellung von Welt und Zusammenhang.

Ich zog die eigentlich schwere Haut an, den Mantel der Jahre, die ich noch kannte. Ich kann Lippen abwarten, ich kann langsamen Duft verstehen; kann auch von einem Fieber überrascht werden, das in einem Gegenüber Furchen zieht.

Du (und ich sage: »Du …«) weißt nichts von meiner wahren Gestalt, bleibst auf der Spitze der Couch sitzen, lehnst dich nicht zurück, bleibst dem Abgrund nahe. Kommt der Tag, dann will ich sagen, was ich noch an Worten weiß. Du (und ich sage : »Du …«) hältst jetzt die Augen gesenkt, weil dich ein Fleck hypnotisiert, der deinen Schatten imitiert. Dein Lippen-Netz ist spröde, dein Unglück eine Wüste. Ich bewege mich, wie es Alpträume tun, bevor sie tiefen Schlaf aufschrecken; ich kann außerhalb in Räumen sein. Du (und ich sage: »Du …«) zitterst; aber warum zitterst du? Ich vollbringe dich : ein Werk, das deine Lippen wässert. Am Portal verschwimmen Sprachen; wir sprechen über nichts.

Wir sind zurück im Paradies, Verzeihung für all diese Mühen und Überraschungen, die Entbehrungen, die Gewalt. Jetzt sind wir wieder beisammen, das Lamm liegt endlich wieder bei dem Löwen. Es ist 1967 und wir haben es fast geschafft.

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