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Flamboyant: 7 Madeleine Ledoyen

Last updated on 18. Juli 2024

Beinahe hätte er es Ella gestanden, ihr von der Blumentapete neben seinem Bett erzählt, die dafür verantwortlich war, dass er an allem zweifelte, was als gegeben hingenommen wurde. Er stellte sich vor, wie er sagte : »Die Muster verändern sich, die Tapete ist organisch. Ich weiß nicht, ob andere es können, aber ich kann durch sie hindurch gehen, ich schlüpfe einfach durch den Wirrwarr der Blumen. Manchmal bin ich gar nicht weit von der uns bekannten Welt entfernt, nur ein bisschen nebenan. Es hängt von der Musik ab, die ich höre, glaube ich. In der Ferne steht eine Stadt, das ist die einzige Konstante. Ich weiß, dass sie sehr weit entfernt ist, eigentlich unerreichbar. Aber die Luft ist so über alle Maßen klar, dass man ihre Mauern sehen kann.«

Und Ella, ganz verträumt, würde antworten: »Würdest du mich mitnehmen?«

Tatsächlich wusste Willi nicht zu sagen, ob das möglich wäre. Er glaubte, dass jeder Mensch seine eigenen Tore besaß. Wenn jemand das leugnete, hatte er sie nur noch nicht entdeckt oder ignorierte sie beharrlich. Ella, die ihn gerade ansah, als wäre er verrückt … als wäre er verrückt und gefährlich, sah aus wie Madeleine Ledoyen, die er auf diesem Wandervogel-Treffen kennengelernt hatte. Was wäre, wenn er Ella die Geschichte erzählte und sie ihn verschmitzt anlächelte, ihm sagte, dass auch sie durch ihre Tapete huschen könne, sie es in Wirklichkeit war, die sich ihm mit dem Namen Madeleine vorgestellt hatte? Andererseits wäre es womöglich fatal, ihr gerade jetzt, wo sie beide eingeschlossen in Maltes Wohnung seiner Steinwerdung beigewohnt hatten, von der Tapete zu erzählen. Denn wenn Ella nicht Madeleine war … würde sie ihn endgültig für wahnsinnig halten. War er es denn?

Er war in Madeleines Garten angelangt. Üppige grüne Zweige hangelten sich gesättigt räuspernd über kleine Phiolen hinweg, in denen Tulpen knospten, getragen von langen harten Stielen, auf denen Farbkleckse saßen, und die Zweige, die von den Birnbäumen hingen, gewähren ließen. Die Tulpenmäuler öffneten sich halb in absichtlichen Schatten dem Sommerwind. Dort lebte Madeleine in einem Haus, das ihrer Mutter gehörte, in einer Wohnung, die sie mit ihrer dunklen Schwester und einer Künstlerin teilte, die sich Sasha nannte. Traf man sie an, trug Sasha einen Frack um den schlanken Leib, die ungezähmten Locken unter einer Melone verbergend, eine Krawatte vor dem Standspiegel in ihrem Zimmer probierend, oder Schuhe mit Spucke putzend, breitbeinig auf dem Bett sitzend, die grazilen Fesseln durch das Sitzmanöver freigelegt, wenn die Hose nach oben (den Knien entgegen) rutschte, Zigarillo rauchend auf und ab schreitend, barbrüstig, ohne dass sie den Hut abnahm. Wie ein schwebendes Wesen aus dem fin de siècle. Sie bastelte kleine Brunnen aus Ton, Glas und Gummi. Korkenzieherschwänze spritzten das Wasser in einen geöffneten Puppenmund. Bei manchen dieser Skulpturen drang eine eingefärbte Flüssigkeit zwischen Schamlippen hervor und wurde von Händen empfangen, die sich ihrerseits dem nass entgegen wandten. Aufgehäuft in einer Ecke lagen die abgerissenen und gestohlenen Köpfe von Schaufensterpuppen, denn das Stehlen der Materialien war ihr eine Herzensangelegenheit.

Doch manchmal ließ sie sich auch beschenken, und wann immer sie Besuch empfing, konnte man darauf wetten, dass ihre Verehrer und Verehrerinnen einen Plastikkopf und eine Flasche Champagner dabei hatten. Die drei exzentrischen Mädchen in ihrer zauberhaften Nische. Madeleine hatte Willi eingesammelt, wie sie ihn vorgefunden hatte, in einem Zustand sokratischer Mündlichkeit, dem Wein und der Verschwörung ergeben, der wild pumpenden Musik sowieso, die hier in Selb über den Goldberg schallte.

»Das Leben ist nicht immer ein Fest!« Kein Satz wie dieser, den Madeleine kurz vor ihrer Abreise zurück nach Saarbrücken zu ihm gesagt hatte.

Ein Fest bis du, du Bacchanal,

Nie müde fließt der Wein.

Du zählst nicht auf das Nocheinmal

Und lässt nur Heute sein!

»Du solltest mich besuchen kommen, damit wir zusammen nach Paris fahren können.«

»Was ist in Paris?«

»In Paris? Paris ist in Paris. Was ist denn das für eine Frage?«

Sie saßen zusammen in seinem Erdloch, die Zeiten verschmolzen zu herrlichen Farben, zu einem Fliegengitter. Willi machte von ihren Lippen Gebrauch, sie von seiner Zunge. Der Wein verlor seinen düsteren Geschmack, hinterließ Leben. Er wäre gerne für immer hier liegengeblieben, die Welt dürfte Kulisse sein. Tag und Nacht verschwendeten sich, wurden nimmer gezählt, in ein Datum gepackt.

»Warum bist du hier? Ich meine, hier gibt es außer Porzellan nichts.«

»Ich kenne jemanden.« Mehr sagte Madeleine nicht zu diesem Thema. Als Willi ein missmutiges Gesicht zog, sagte sie: »Wenn du mich besuchen kommst, kennst du auch jemanden woanders.«

Willis Gesicht wurde noch ranziger. Madeleine erschien ihm wie ein einziges Geheimnis. Sie fragte ihn in all den Tagen, die das Fest andauerte, nicht ein einziges Mal nach seinem Leben. Sie schmiegte sich an ihn und rauchte Pott.

»Gefällt es dir im Fichtelgebirge?«

»Ich kenne nichts davon. Es ist hier wie in einer anderen Welt, aber ich wüsste nicht, was ich hier tun sollte. Was würde man hier sagen, wenn drei Mädchen zusammenlebten und Kunst machten?«

»Nichts würde man sagen.«

»Bist du dir sicher?«

»Vielleicht würde man euch öfter besuchen kommen. Ihr könntet sehr gut auf der Ponderosa leben.«

»Ihr habt hier eine Ranch?«

»Oh … nein«, Willi lächelte, als er bemerkte, dass sie an die Fernsehserie ›Bonanza‹ dachte. »Ponderosas sind Kiefern. Dort wachsen ziemlich viele davon. Die Leute, die dort leben sind ziemlich abgefahren. Eigentlich ist dort das Leben immer ein Fest.«

Lichtfinger betasteten das Blütenreich der Erde, rührten in den Zitronenfalterfarben herum, blendeten den Horizont aus, indem sie ihn in Brand setzten und alles, was es dahinter zu finden gegeben hätte, vergessen machten.

Die ersten beiden Flaschen waren leergetrunken. Auf der Rückbank vermoderte ein geräucherter Schinken.

»Assemblage, Cuvée«, bestätigte sie. »Demi Sec, weil ich ein wenig Zucker gerne habe.«

Willi bestaunte, wie gekonnt Madeleine ihren Opel Sedan manövrierte. Die Champagne hüpfte auf und ab, ließ sich links wie rechts, oben und unten bestaunen. Brünett tanzte ihr offenes Haar am Fenster. Willi erzählte ihr in Ermangelung eines seichten Themas von Franz Wedekind, mächtig in der Laune eines sprudelnden Erzählers, der, wenn er spricht, seinen Grund zementiert, sein Gegenüber ausgiebig anzustarren. »Einer unserer absonderlichsten Dichter eigentlich. Bevor er starb, ließ er sich Champagner durch den Mund seiner Frau einflößen.«

Ihre Reaktion war ein blumiges Lächeln. »Magst du diesen Wedekind?«

»Soweit würde ich nicht gehen, aber er gehörte zur Deutschen Bohème, und die mag ich zumindest ein bisschen. Tatsächlich gab es da einst eine Welt geistiger und gesellschaftlicher Außenseiter. Man nannte sie Wahnmoching. Beschrieben findet sich das Ganze in Franziska von Reventlows Roman ›Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil‹. Damit ist Schwabing gemeint. Es gab eine Zeit, da unterschieden sich die Metropolen nur dadurch, dass der eine Verrückte gerade hier und der andere gerade dort rumlungerte.«

»Unser Fest auf dem Goldberg war nicht weniger bohemial«, sagte sie in eine ihrer Strähnen hinein und hindurch. »Du sprichst viel von dieser Zeit und vergisst immer die Jahreszahlen.«

»Diese Zeit hat keine Jahreszahl. Man findet sie im Barock genausogut wie um die Jahrhundertwende. Wahnmoching war 1913, bevor dieses ganze Gemetzel der aufgeklärten Zivilisation einsetze. Und jetzt haben wir Vietnam und die Hippies. Es gibt einfach keine Jahreszahlen für so was.«

Paris näherte sich taumelnd, Boulevard Périphérique, Lichter verlorener Seelen, die nichts anderes beabsichtigen, als in Hausmanns Paradies zu blinken.

Nähme man alle Architektur von dieser geballten Ladung Mensch hinfort, dann sähen wir um uns herum die Schlenderer, die Mörder, die Wollüstigen mit verketteten Gliedern, kurzum, wir sähen die Menschheit, kein einziger Charakter ginge uns verloren. Da die Mäuse und dort die Katzen. Paart man sich mitten in der Nacht im Halteverbot in einem Automobil, fühlt man jederzeit die Apokalypse nahen, strahlt eine merkwürdige Anziehungskraft aus. Wer weiß, wie weit ein Liebeslager wirklich imstande ist, diese Impulse zu tragen. Hier entdeckt man, wie seltsam sich Menschen benehmen können, wenn sie von einem Gefühlscocktail genossen haben, der auf reiner Einbildungskraft beruht.

Die Champagne mit ihren kleinen Schleppern und Weinbauern fanden sie noch wie in einem befahrbaren Märchenbuch vor, sie berührte Willis Mund mit sanftgoldenen Rebhängen zu beiden Seiten des Tals, auch weil es galt, in so einem Falle die Lippen zu öffnen, nicht nur, wenn Madeleines Rosengeblüt versucht, etwas von ihm abzunagen. Das Grün und Gelb wellte sich nur leicht, unterbrochen von Wiesen, saftigen, kleinen Waldkuppen und zahlreichen Obstgärten. Im Glase wellte sich demhingegen ein sprudelnder Badoit oder ein prickelnder Brut: Châlons sur Marne. Willi verschüttete mehr Zaubersaft als er trank. Um noch etwas anderes mit seinem Mund anzustellen, suchte er vorzugsweise Madeleines Lippen, die sie ihm wie dem jungen Dionysos Weintrauben entgegenstreckte. Ihre Zunge schlug alles an ihm schaumig.

»Wie träumst du?«

Sie blickte ihn eine Sekunde lang an, ohne etwas an ihm zu vollbringen. »Du hast gesagt, ich träume nicht, sondern ich tue all das angeblich Geträumte in Wirklichkeit. Willst du mich fragen, was ich träume?«

»Ich will dich fragen, wie du träumst! Laut oder leise?«

»Ich träume –«

Sie beginnt erneut, Willi an ihren Bewegungen teilhaben zu lassen: »Wie ein Pulsar; schnell, magnetisch!«

Der Teppich ihrer Haare weht durch das offene Fenster nach draußen. »Du wirst dich in Paris verlieben und mich vergessen!«

»Ich kann Paris nicht ohne dich darin lieben. Ich kenne diese Stadt nicht so wie ich dich kenne.«

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