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Flamboyant: 8 Der flammende Bert

Last updated on 18. Juli 2024

Place des Innocents: In der Rue Pierre-Lescot stand ein Koloss, eine griechische Skulptur aus Daidalus’ Werkstatt. Wuchtige Feuerstöße forderten das Staunen der Menge ein. Hier stand Babylons Sirrusch, einst abgebildet auf dem Ishtar-Tor, jetzt frei und gewaltige Hitze freisetzend. Warum hast du so große Hände, warum hast du so einen großen Mund?

Ein ganzes Bestiarium tanzte zähnebleckend. Pudel befanden sich auf ihren Hinterpfoten, aufgehübscht mit selbstgestrickten Pullovern in grellen Farben, Zwerge trommelten auf Bärenköpfen herum. Zunächst trat der Riese mit einer struppigen, großmäuligen Teufelsmaske auf. Die Schellenklingeln an den Füßen der Harlekin-Leute überschlugen sich. Dann legte er seinen grellroten Kapuzenmantel ab, während die Harlekins ihr Charivari durch die Gassen trugen.

»Er ist ein Feuerfresser!«, sagte Madeleine. Willi versuchte die Insekten abzuschütteln, die vor seinen Augen nicht weniger brillierten als der dritte Gesang der Komödie : Durch mich geht man in die traurige Stadt, durch mich geht man in die ewige Qual, durch mich erreicht man die verlorenen Herzen.

Der Karneval beschwor ein anderes Zeitalter herauf, in dem man sich durch eine obskure Maskerade vor den Dämonen versteckte, man sich gebärdete, als sei man selbst kein menschliches Wesen, gehörte nicht zu den ängstlichen oder hochmütigen Geschöpfen, die so sehr einem Virus glichen.

»Der ist anders, nicht wahr?« Madeleine gab die perfekte Begleiterin für Willis Arm. Unablässig rollte das Feuer aus dem Mund der Bestie.

»Er spuckt Feuer wie ein Vulkan. Ich habe noch nie so etwas gesehen!«

So muss sie gewesen sein, die Wilde Jagt, vor einem gleichen Himmel, vor einer unendlichen, verlorenen Weite beklagt ein Höllenzirkus die Einsamkeit des ganzen Planeten. Nur eine kleine Unachtsamkeit würde genügen, und das kleine Bällchen würde zerspringen, die Krater des Mondes sich mit Tränen füllen, die Sonne auf eine schwarze Wolke blecken.

»Möchtest du dich nicht malen lassen?«

»Ich kann mich nicht malen lassen, ich glaube, dass meine Seele dann verschwinden wird… oh, nicht die ganze Seele; ein Teil von ihr… vielleicht mein Hang, dein Freudenmädchen zu sein.« Sie küsste mit ihrem runden Muskel auf seine erhitzten Schnitzel-Backen.

Die flanierende Menge staut sich vor dem Fegefeuer, Mädchen, die aussehen wie Funkenmariechen schwärmen aus, springen über einen bunten Stock, vollenden ihren Handstützüberschlag, in dem sie die staunende Verwirrung dazu nutzen, nach Geldbörsen zu tasten. Der Koloss wirft seine brennenden Keulen in die Luft, wo sie in komplizierten Wirbeln wieder zurück in seine Hände fallen, die Schatten um seinen Kopf für einen kurzen Augenblick lichten, seinen verbrannten Oberkörper hervorheben.

Ganz unbeeindruckt tritt eine Frau nach vorne und fuchtelt mit den Armen. »Was kreischt sie da?«

»Man hat ihr Geld gestohlen«, sagt Madeleine. »Die Tänzerinnen sind Taschendiebe.«

»Ach ja?«

»Glaubst du etwa, so ein Spektakel veranstaltet man, um zu unterhalten?«

Der Flammenbert hebt seine Arme zum Spalten des Roten Meeres. Dieser Feuerdämon murmelt große Beschwörungssentenzen, seine Zuschauer aber heben die Hände wie bei einer großen Auktion. Sie alle sind bestohlen worden. Den Geistern gegenüber sei immer der Herr und niemals der Diener.

Willi und Madeleine befinden sich plötzlich in einer tumultartigen Sequenz wieder.

Die Tänzerinnen: mit ihren Dünenbeinen pranken sie den Boden nieder, tanzen in den Schmutz den Schmutz, der mit ihren samtenen Waden zirzt; ein geometrisches Jubilee in den städtischen Luftwald stanzen sie, perlonbezogenes Östrogen durchwadet fächerartig Augenblicke. Dann sind sie plötzlich verschwunden wie Schlangen, die ein Zauberer unsichtbar gemacht. Der Dämon steht inmitten der zornigen Traube, kleine Feuer züngeln aus seinem Lederharnisch, feuchte und heiße Haut. Von der Capa zur Pike, von der Pike zum Mann, der sich in die Capa verwandelt, vom Mann zur Banderilla, von der Banderilla zum Degenstich, vom Degenstich zum Dolchstoß wird der Mächtige mehr und mehr hingerissen und ist bald nur noch ein Berg dampfenden Fleisches.

»Maintenez-le serré!« Die winkende, wilde Pompadour will, dass man ihn lyncht. Dafür haben sie schließlich ungewollt bezahlt.

»Er ist ein Landsmann von dir!«, brüllt Madeleine in das erstarrte Gesicht des – jetzt doch offensichtlich – viel zu jungen Willi Billi Kreutzmann, der zittert wie ein Pappel-Blatt und denkt, dass er einfach eingeschlafen sein muss.

Mein Mund so bitter. Wo Madeleine stand, küsste ich sie in einer einzigen Nacht, in einer einzigen Welle. Die Uranfänge aller Mythologie. Schnabelkrähen; die Nacht also gebiert das Ei, das Ei die Welt mit Feuer, ihre eigenen Kreaturen – (siedeln wir die seltsamsten auf der Erde an und lassen wir sie gegenseitig in andere Körper fahren, mit den Fingern, den Zungen, den Wimpern, den Nasen, Lippen, lassen wir sie denken, dass sie im Anderen wühlen können, für eine Nanosekunde der Andere sein).

»Ein Landsmann?«

Das wieselnde Wuseln der großen Stadt-Meute; Husten, neckendes Bellen, Krakeelen im Schwefelnebel, der ein neugestaltetes Kleid über all das Leben wirft, zu bedecken die Blöße der staunenden, gelangweilten oder sonstwie maskierten Gesichter, generiert sich zu einem Mob, einem stinkenden Knäuel voller trippelnder Beinchen : ein Zweitausendfüßler, ein Dutzendkäfer dazu.

»Er muht die Vokale, verfranst die Akzente, teu=tönt die kleinen Mörphchen wie niemand, der von seiner Mutter die zärtlichen Geräusche des Altfränkischen gehört. Ein Neutöner«, lacht sie freudig, ihrer Wort-Ungetüme wegen.

Willi-Billi hat nun genug gehört. Er spürt das Blut des Gauklers auch durch seine Adern jagen, fühlt sich gelockt durch die spitzen Schreie, die sich mit zornigen Stimmen vermengen. Die Bewegungen, die er wahrnimmt, sind das stumme Äquivalent. Wie im Rausch vernimmt er den nächsten Treffpunkt: Rue-Notre-Dame-de Lorette, möglichst des Nachts. Dort werden sie sich erneut begegnen, und jetzt war es in verschiedenen Winkeln von Paris Nacht, die Laternen schnurren, ermuntert von weit entfernten Planeten.

Madeleine wird von einem Schauer in den nächsten gejagt. »Du bist deinem Mysterium begegnet, nicht wahr? Diese Reise wird dich verändern.«

»Ich bin endlich hinter der Tapete. Vielleicht ist das hier die Stadt, die mich gerufen hat.«

»Aber wenn du hinter der Tapete steckst, was treibe dann ich an deiner Seite?«

Der Traum: im Grunde sind’s Notizen, aus denen wir erwachen. Wer schlägt das neue Auge auf, die Sinne wild schmeckende Beeren? Die Glieder zeichnen die Stunden der Sonne nach, an bunt bemalten Wänden bricht die Uhrzeit sich den Weg, zerteilt den längst getanen Schritt zu künftigen Gärten hin.

Der Schlaf: im Grunde istʼs die Reise, die abends wir beginnen.

Sie begrüßten sich in der Rue-Notre-Dame-de Lorette wie auf einem Bal des Victimes mit einem kurzen Ruck des Kopfes, der die Bewegung der zum Tode verurteilten im Augenblick, wo der Henker das Haupt des Unglücklichen in die Öffnung des Fallbeils legt, imitiert. Noch bevor die wütende Meute in der Rue Pierre-Lescot, beraubt von den Nachtgeschöpfen, Schwertschluckern und Rasierklingenessern, mit Hebelkränen und Wurfmaschinen heran war, wollte es Willi Billi Kreutzmann gelingen, dem entfesselten Flaschengeist ein großes Bravo entgegenzubringen. »Flieh!«, beschwor der Dschinn, der das Kind in den Brunnen fallen sah. »Das kleine Feuerwerkeln ist nicht so viel wert, und auch nicht meine halbnackten Huren!« Der Flammende Bert raunte ihm eine Adresse zu, nannte ihm die Zeit und setzte dann das ganze Quartier unter Nebel, indem er mit glimmendem Pech wedelte, seine Keulen die Aspergille gaben, und flugs darauf verschwand wie eine Naturgewalt, die sich nur kurz aus dem Schlafe reckt.

»Du musst das Feuer liewen, Freund!«

»Ich tu’s! Ich liebe das Feuer!«

In einem plüschverkleideten Wohnwagen sitzt schminke-verschmiert eine abgehalfterte, völlig besoffene Schickse, ein Mieder verkehrt herum an, auf einem Kopfkissen, auf dem rosa Elefanten mit Braunbären tanzen. Ein Pudeltier macht sich über das Katzenfutter her, rückwärts eingesaugte Luft. Bert wedelt mit seinen Schaufelhänden Sauerstoff durch die Tür, bittet die Bewunderer, einzutreten, zu denen Madeleine nicht gehören will. Sie steigt, Willi zuliebe, ein, zeigt mit ihrem Gesicht große Bedenken, die sie als Kind von ihrer Mutter gelernt: Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, sing nicht ihre Lieder!

»Adele. Ignoriert sie, bitte, sie meditiert.« Schon flogen Blechtassen heran, gefüllt mit blauem Fusel. Auf einem Plattenspieler ohne Gehäuse tätowiert die Nadel ein grobes ungarisches Bauernkleid in die schwarze Scheibe. Die Luft des Himmels bricht aus der Ozongefangenschaft, orgiastische Bewegungen auf den Wiesen um den Trailer sind auszumachen. Der tragende Part wird von einem Klavier übernommen, durch die Sonne verstimmt.

»Stören wir auch bestimmt nicht?« Madeleine wünscht sich das so sehr, doch der Dämon nimmt eine Flasche aus dem Werkzeugkasten, lächelt, Feuer umringt sein blasses Gesicht, schüttet sich die Flüssigkeit in den Mund, die ihn brennen macht. Katarakte aus blauem und apfelsinenem Feuer purzeln aus seiner Nase. Bert saugt sie durch den Mund wieder ein.

»Wo sind deine Tänzerinnen hin?« Willi hört die Klänge des verstimmten Klaviers von draußen kommen, neben Adele knackt der Plattenspieler dazu.

»Huren. Es sind alles Huren.«

Das ist doch eine komische Geschichte, Madeleine; wollten wir nicht in deinem Tulpengarten bleiben, in deinem Zimmer auf dem Boden? Das Parfum der Geliebten aus Moschus, Rosenöl, Mandelblüten und ihrem eigenen, geheimnisvollen Duft des Haares, versinken im warmen Wasser, Haut reibt sich an Haut, lachende Mädchenlippen, perlende Nässe, Jasmintee, Gesetz der Erde.

Und: wollten wir nicht hinaus fahren ins Braune, zerschossene; üppigen, grünen Zweige, den Gräsern beim Sterben zusehen, in Verdun durch Blutgräben marschieren? Ganze Städte, Fleury, Vaux, dem Erdboden gleichgemacht, Bezonvaux, Ornes, das Gebeinhaus, die Zitadelle, die Horchstollen, in der uns unruhig das Grundwasser umringt.

Die Platte knisterte zu Ende, und Adele fiel vornüber, schulterte das Gewicht des Bodens mit ihrem Gesichts-Ensemble. Bert würdigte sie keines Blickes, warf kleine Feuer von einer Hand zur anderen. »Das macht sie immer, sobald die Musik verstummt.«

Madeleine hopste zum Gerät, um sich die Drähte und Spulen anzusehen.

»Wenn die Nadel wieder aufgesetzt wird, erwacht sie zu neuem Leben – und wenn du die mit dem grünen Etikett auflegst, holt sie sogar noch etwas zu trinken, weil ihr das erste Stück nicht gefällt.«

Madeleine blätterte sich durch die abgegrabschten Platten. »Was ist das alles?«

»Leg sie auf, Madeleine, wenn du billigen Wein trinken willst.« Berts Gesicht nickte ermunternd, begann damit, seine Schwerter zu säubern. »Bohème, unphiliströs, asozial und individualistisch. Das sind Zigeunerweisen.«

Ein kleiner Blick zur yoga-ähnlichen Figurette. Adele lag mit der rechten Wange auf einem kleinen Teppich, ihr Hinterteil ragte in die Luft.

»Ist sie deine Frau?«

»Sie dressiert den Hund, er wird bald einfache Büroarbeiten verrichten können. Du bist hier zu Gast bei der familia harlechinis, einer der zahlreichen Verkörperungen der Wilden Jagt, des Totenheeres. Wir alle sind Minstrels und Joculatoren

Madeleine seufzte. »Natürlich, ein Traum. Ich hätte es mir denken können. Willi, wir sollten uns nicht derart verausgaben. Denk dir doch : wir könnten noch die astrologische Säule ansehen, obenrum toskanisch, unten dorisch, fein verziert mit dem Bourbonenwappen, Füllhörnern und Kronen, zerbrochenen Spiegeln und zerrissenen Knoten.« Sie legte die Platte mit dem grünen Etikett auf, Bela Bartoks Zigeunerweisen Opus 20 hob an und ganz genauso wandte sich Adele in ihren verdrehten Kleidern nach oben. »Und hier ist der Beweis! So etwas geschieht nicht in Wirklichkeit. Willi, du hattest Recht, wir befinden uns hinter deiner Tapete. Die Frage ist nur…«

»… wie du da rein geraten bist!«

Sie nickte. Bert runzelte die angesengten Augenbrauen, Adele purzelte aus dem Wohnwagen, gefolgt von ihrem in Schleifen gerahmten Pudel, der ihr in den Rücken hüpfte.

Wenn sich das Alter mit den nahenden Schatten verbündet, drängen Traumbilder aus dem Meer der Erinnerung in den nicht mehr wachen Verstand und reichen uns die Schlüssel unseres Lebens. Ich denke an das Bild von Max Ernst, auf dem Jean Paulhan, das Idol der Résistance, inmitten seiner Freunde sitzt, so wie ich ebenfalls unter Freunden saß, die eigentlich meine Feinde hätten sein müssen.

Die Liebe ist ein Weltreich, und ihre vom Sonnenlicht durchflutete Einfriedung durch Tore an jedem Ort, zu jeder Zeit begehbar. Doch ihre goldenen Türme baut sie auf der Tragödie, die wie ein Trümmermeer zu ihren Füßen liegt.

»Ich werde mich nicht beklagen, denn ich durfte mit einer Stadt verschmelzen, die mit diesem Weltreich steht und fällt, ich verschmolz mit Paris, das ich seit jenen Tagen nicht wieder verlassen habe; nicht verlassen konnte, ohne meine erworbene Freiheit einzubüßen. Au Rendezvous des amis. Ihr seid alle nicht mehr hier, aber wir werden uns bald wiedersehen – und es wird uns keine Tragödie mehr trennen. Sie verbleibt bei den Dichtern der Erde, diesem schönen und in dieser Schönheit einsamen Planeten, den sie nicht ohne Schmerz besingen.

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