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Flamboyant: 9 Mädchen aus Ebenholz

Last updated on 18. Juli 2024

Die Berge bewegten sich, Nachtgeräusche drangen aus tiefen Falten, hingen im Gebüsch, in jedem Gesträuch. Kälte und Schmutz krochen durch die Röhren der Hemdsärmel und Hosenbeine. Flöhe, die einzigen Tiere weit und breit, degustierten Haut und Haar. Lichter sangen im Gebirge, manchmal ganz unverständliche Rufe aus der Ferne, dort, wo die Sauer uns begleitete. So viele einsame Seelen schweiften nach Hause, nach dem holzsatten Ofen, der dort ansässigen Katze, dem lieben, wirkenden Herzen, der Schwester, dem Bruder. Tagsüber leuchtete uns die Maisonne – gerade für dieses Wetter hatte man den Feldzug gegen Frankreich neunundzwanzig Mal verschoben – aber die Nächte in diesem hohen Wald fanden wir frisch. Davon abgesehen plagte uns die Müdigkeit mehr als die Gegenwehr der Gallier. Drei Tage schaufelten wir Pervetin in uns hinein, halluzinierten den Schlaf als eine Göttin im wallenden Kleid, die uns aus den Lüften winkte, mörderselig am dritten Tag. Aber fremder Boden ist jener, der dich verschlingt, der eine Grube auftut, dich einlädt, in seinen Sumpf zu steigen. Du steigst dann auch hinein und wartest, hältst Wache, weißt vor dir Dörfer, in denen man deine Sprache nicht versteht; dort sind sie jetzt aufgebracht, weil du vor ihren Türen liegst.

In Bouillon hatte man eine Brücke vor unserer Nase in die Luft gejagt, aber es gab in der Semois-Schleife eine Furt und auf der Gegenseite eine Rampe. Dort begannen wir überzusetzen, liefen kurzfristig in ein Abwehrfeuer und waren nicht wenig überrascht, als die Franzosen die Stadt plötzlich verließen. Vor uns lag jetzt Sedan, die alte Festungsstadt und dessen Vorort Floing, wo 1870 die französische Kavallerie unter den Artillerieschlägen der Preußen verblutete. Hier setzten wir über die Maas, mit Flammenwerfern und Hohlladungen.

In Montcornier fand sich die Nacht klar, wie es der Nordstern vorsah, der sich nicht erst durch ein Wolkenkleid fummeln musste. Ein Rudel Hunde hinderte mich am Einschlafen. Ich sah ihre Silhouetten an einem Bach, der die rechte Seite unseres Lagers markierte. Die Hunde balgten im Kreis herum, packten sich spielerisch mit ihren Fängen an, blieben aber nur Schatten, unbelichtet ihr Leib, ihre Augen, die Maserung ihres Fells, bis sie, im sorglosen Spiel erstarrt, nach ihren Waffen griffen, mit den Mündungen in meine Richtung zeigten und damit begannen, nach mir zu feuern. Gleich schlug ich zurück, zog die Alarmschlinge durch, ohne noch klar zu denken. Wie konnte eine derartige Verkleidung möglich sein? Auch im Blitzen des nun ansetzenden Gefechts blieben die Hunde das, was sie für mich schon die ganze Zeit gewesen sind, der Trug wollte sich nicht lichten. Ihre langen Nasen schmiegten sich an ihre Gewehre, und als einer von ihnen getroffen wurde, stach das Jaulen und Winseln aus dem Mündungsdonner hervor, nahm das ganze Ohr in Beschlag. Nicht lange danach zogen sich die Hunde in den Wald zurück, niemand von uns setzte ihnen nach, da es sich lediglich um ein Scharmützel gehandelt hatte. Ich blieb liegen, wo ich war, als man die gegnerische Stellung inspizierte, hätte mich nicht zu äußern gewagt. »Die waren mit Hunden unterwegs«, sagte einer, »hier liegt eines von den Viechern.«

Niemals wieder habe ich eine Frau nach Yvonne Pierett-Pierrou angerührt, lernte sie kennen, als ich mit der waffenstarrenden Truppe an einem Sechzehnten Juli 1940 Paris erreichte und habe die Stadt seitdem nicht mehr verlassen. Ja, ich bin ein Boche

Die komplizierten Lippenbewegungen, die eine Trompete zum Weinen gebracht hätten: eine ganze Klasse beweglicher Figuren.

»Mein Quartier lautete Quai Branly 11, lag unweit des Eifelturms. Auf der anderen Straßenseite stand der Zwilling des Hauses und dort sah ich im Fenster ihre Silhouette an der Wand dahinter erblühen. Die Kontur zog sich Strümpfe an, das Rascheln stammte aus meiner Erinnerung, dem privaten Orchester, dem Reißen von Pergament. Rauchend, Lieder summend : Yvonne, das Mädchen aus Eibenholz geschnitzt, wie aus Gefäßen hervorwachsende Blumen in der bäuerlichen Volkskunst. Oh Yvonne, mein Mädchen, das mir das Leben gab und die Kraft, mich zu entscheiden. Wenn du unter jenen bist, die mir Geleit anbieten in diese unbekannte Welt, wohin es uns alle drängt, sing mir noch einmal dieses Lied, das meine Augen einst dich finden machte!

Da durchfuhr mich ein Strom, den kein Gedanke einzuplanen weiß, der süße Wahnsinn traf mich tief und obwohl es uns verboten war, Bekanntschaften zu schließen, übersetzte ich ihr aus einem Wörterbuch heraus meine Liebe. Ich vergaß, was mir hier zu tun beschieden war, vergaß, dass wir Bordelle errichteten und alle, die sich weigerten, kurzerhand erschossen. Ich vergaß, dass ich ein Boche war, der Feind, der weder Kunst noch Schönheit kannte, der auszuradieren hatte, was diese dröhnenden Stimmen verlangten. Als Yvonne meine Gefühle erwiderte, zerriss etwas in mir. Die stampfenden Stiefel, die Brücken zum Einsturz bringen konnten mit ihrem Gleichklang, erreichten nicht mehr mein Herz, und mir war mit einem Mal, als wäre ich einer Bleiweste entschlüpft. Im Traum sah ich Blut an meinem Mundwinkel, wenn ich in den Spiegel blickte; meine Zähne rot vom Fleisch der Menschheit.«

Die Tür öffnete sich, und zwei Mädchen drängten zusammen mit Adele herein, die sofort wieder ihren Platz am Boden einnahm. Die beiden Tänzerinnen, deren Kleidungsstil sich nicht von den Plüschwänden abhob, hievten Adele auf einen Sessel und schnatterten beseelt, ohne Willis und Madeleines Irritation im Mindesten zu bemerken. Bert blickte in eine traurige Vergangenheit, die sich für ihn auch in der Zukunft fortsetzen sollte, ohne dass es jemand der beteiligten gewusst hätte. Willis Tapetengefühl wandelte sich in Unbehagen. Was ist die Zeit, wenn sie nicht an Uhren klebt, anderes, als ein Meer, das brandet und gischtet, nach vorne bebt, zurückdrängt? Eine Pause aus Eis zerrann in der heißen Hand der Ewigkeit.

»Ich desertierte. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, geht es den feinsinnigsten Menschen niemals um eine Nation. Noch nicht einmal um die Freiheit geht es ihnen. Liebe ist niemals Freiheit, aber sie legt einen Schleier um uns, der uns befähigt, eines Tages Mensch zu werden, wenn wir es zulassen. Die Idee der bloßen Freiheit schränkt nur eine andere Freiheit ein. Aber die Liebe lässt uns, im Gefühl, frei zu sein, mit Freude aneinander gebunden sein. Aber vielleicht bin ich nur ein alter Tor, der versucht, weise zu erscheinen.«

In den dunkelsten Höhlen traf sich die Résistance, und Jean Paulhan, auf diesem Bild von Max Ernst, im Kreis der Surrealisten sitzend, die graue Eminenz der französischen Literatur, sagte:

»Du kannst eine Biene in deiner Hand pressen, bis sie erstickt, sie wird nicht ersticken, ohne dich gestochen zu haben, das ist nicht viel, sagst du, ja, das ist nicht viel, aber stäche sie nicht, gäbe es schon lange keine Bienen mehr.«

Als Yvonne ihn dorthin mitbrachte, hätte er beinahe sein Leben verloren. Man fasste ihn an wie einen Gefangenen, schickte Yvonne fort. Vor den rohen Wänden brachte er sein Anliegen vor.

»Du kannst kein Französisch«, sagte man ihm.

»Ich kann es lernen.«

»Du bist kein Franzose«, sagte man ihm.

»Aber ich kann es werden.«

»Die Boulevards würden einen Bogen um dich machen, wie um ein Haus. Beide können sich nicht vereinen. Das Haus wird niemals den Boulevard verstehen, es ist eine andere Philosophie. Warum möchtest du für Frankreich kämpfen?«

»Ich liebe ein Mädchen.«

»Ah!«

»Das ist nicht alles; ich habe Bouches getötet!«

»Das konntest du tun?«

»Ich kannte sie, deshalb tat ich es. Bevor du eine weitere Frage stellst : es gibt keine guten Deutschen, auch ich bin keiner.«

»Und deshalb tötest du deine Kameraden?«

»Ich bin Soldat, ich würde jeden töten.«

»Man kann dir nicht vertrauen.«

»Solange ich liebe, kann man mir vertrauen.«

»Wenn deine Liebe plötzlich endet, was dann?«

»Dann werde ich es dir sagen.«

»Ich würde dich töten.«

»Dann muss ich es nicht selber tun.«

Von diesem Raum ging es in einen anderen, in dem Wasserhähne tropften. »Das ist Bert, er ist flüchtig.«

»Wir brauchen ihn nicht, erschieß ihn!«

»Er will für uns kämpfen.«

»Wir wollen ihn nicht, erschieß ihn!«

»Er liebt ein Mädchen!«

»Er liebt sie? Dann sollte er nicht kämpfen, sondern zu ihr gehen. Wer ist sie?«

»Ein Mädchen, ich weiß nicht, sie heißt Yvonne.«

»Wozu können wir ihn gebrauchen, was kann er?«

»Er kann Feuer speien.«

»Von nun an werde ich das Feuer nehmen und mich ausbrennen, gegen eine Wand werde ich den Feuerkelch spucken und das Feuer zurückspiegeln lassen, und wenn keine Haut mehr auf meinen Knochen sitzt, und wenn mein Fleisch nur noch stinkt, werde ich mich in die Blutflagge kleiden, und mich mitten auf die Straße legen, um zu sterben, die Geräusche des Wahnsinns sind stampfende Stiefel, eine Masse ohne Gehirn, geeicht, geeichelt!

Das Feuer ist das einzige Element, das transformieren kann, alle anderen reinigen nur. Lebenskraft, Intuition, Läuterung, Transformation, Aktion, Dynamik, Schwert; deshalb das Schwert! Das Schwert besitze ich, um mir die Meute vom Hals zu halten, aber das Feuer ist meine Männlichkeit, getrennt vom Wasser, dem Weib!«

Die beiden Mädchen saßen bei Adele, die langsam zu sich kam.

»Ich war ein Pyromane, bevor ich das Feuer bändigte, ich wollte Flammen entfachen! Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie erregend ein brennendes Haus ist, wenn die Hitze wie ein Sturm um dich herum wabert!«

Man erzählte ihm, dass sie von seinen einstigen Kameraden verfolgt und gedemütigt wurde. Als sie sich wehrte, schlug man ihr mit einem Gewehrkolben sehr viele Male auf den Kopf und ließ sie mitten auf einem Boulevard liegen. Vielleicht ist es ein Gerücht, wenn man es sagen hört, man habe immer die Wahl, man könne sich in jeder Sekunde für ein anderes Leben entscheiden. Vielleicht ist es ein Gerücht, weil jede Richtungsänderung nie uns allein betrifft.

Erst da verlor er seinen Verstand, erst da suchten ihn die Träume heim, die schwarze Witwe.

Der Weinpanscher Labes, skurriler Lockenwipf, der in seinen Keller schlüpfte, um seine Gemische Mickmack, Hickhack zu taufen und in die riesigen Fässer zu füllen, mit denen er alle Großen des Reiches abtaufte, war des Feuerspuckers Großvater. Ein seliges Säuferchen, ein wurstgleicher Schlemmer, der jedem seiner Gäste aber immer ein Buch mitbringen ließ, so dass er sich, von Schulden angenagt aus der Berliner Gesellschaft auf das Gut Zernikow zurückzog und sich als römischer Imperator seinen Bediensteten aufnötigte, im Traume polnischer König werden wollte.

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