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Der Gänsehüter

Last updated on 18. Juli 2024

Der Umstand des Geheimnisvollen führte mich im Angesicht der verschwundenen Welt durch Orte, die diesen Namen kaum verdienten, von denen noch nie eine Menschenseele je gehört. Und sie hießen, hießen alle wie alles heißt. Alle strahlten sie unheimliche Fremdheit aus. Ich starrte hinaus, und ich saß am Bullauge, froh darüber, auf der anderen Seite zu wesen, während draußen, wo der Bus zum Stocken kam, diese gefräßige Fassade einer scheinbaren Idylle nur auf jemanden wartete, der bereit war, sich dem Unbekannten zu stellen. Die Einsamkeit schlich sich in das Herz, ich blickte ins Nirgendwo; die Zweige der Bäume bewegten sich tückisch, auf den Straßen war kein fester Halt zu finden. Fiele nun die Heizung aus, erfröre man, weil es einen Sommer dort nicht gab, so wie überhaupt keine Jahreszeiten existierten.

Nach und nach stiegen sie alle aus, ohne je den Blick zu heben, alle der gleichen Werkstatt einer Menschenflechterei entsprungen, bis ich der letzte Fahrgast war, am Bullauge saß. Die Straße zog sich wie ein grauer Schlauch durch ein farbloses Grün hindurch. Die vereinzelten Bäume fingen Vögel mit ihren hervorschnellenden Ästen, wenn sie nicht gerade im Stehen einen absurden Tanz aufführten. Stromkabel ließen ihre Bäuche nach unten hängen und glitten über die Eisgraubahn.

Die Städte der Menschen entwickeln sich aus der Gruft ihres urbanen Verhaltens, das Leben erquickt sich an ihren Architekturen. Ihr Gebaren ist verbindend und abstoßend zugleich. Die Gebäude kleiden sich, sie bilden neue Zellen aus, während andere absterben. Sie pulsieren, sie vegetieren, kerkern Seelen, die sie ihren Bewohnern stahlen. Manchmal lassen sie die Seelen mutwillig entkommen, dann aber im Zustand weit aufgerissener Münder, panischer Züge.

Städte und Dörfer leben im Bewusstsein ihrer Einwohner, leben durch ihre Historie, ihre Attraktionen, ihre Lage und wegen ihres Nutzens. Ein Zusammenschluss gegen die Unbill der Natur. Lebensraum und Amüsement. Eine Stadt taucht nicht einfach auf, sie ist im Besitz ihrer eigenen Evolution, entwickelt, verändert sich, bleibt aber immer diese Stadt. Doch was ist mit den Geisterstädten, den ausgemerzten Dörfern, die im Schutt des Krieges begraben werden mussten, die vergessen wurden unter der Oberfläche der verstreichenden Zeit? War jemals eine Stadt darunter, die man völlig vergessen hatte, ihre Lage, ihre Geschichte, ihre Einwohner? Die man für tot hielt, die sich selbst aber nie aufgegeben hatte, die jetzt in diesem Augenblick versuchte, wieder an die Oberfläche zu gelangen? Ich war auf den Weg in eine solche Stadt. Ein Gespenst von einer Stadt, mutiert, mutierend, der Physik trotzend.

Einer, der gekleidet in einen Herzschützer, mich aus seinem Wachsgesicht heraus betrachtete, deutete auf den übriggebliebenen Küchenflügel des Schlosses, das gegenüber von uns lag und selbst träumte, umfangen von einem ungepflegten, aber sanften Garten, befächert von Wildbienen und Spatzen. Es lohnt der Weg, der morgen schon ein anderer ist, es lohnt der Steine torloses Tor, der Garten Giverny, Water Lily Pond, das ganze Gefühl explodierender Sinne, nach innen brandend, über Sandsteinmauern hinweg, ein Schritt und der nächste Schritt. Hortensisch das Gewimmel der vielen Finger, die im Honigbett mit Herzgeblüt die offene Tür erwarten, die unausführbar Tage zählen, weil sie nichts daran erinnert, dass je einer vergehen wird. Es fliegt, was jetzt noch war, und flieht, was morgen ist.

»Dort lebe ich mit meinen Urgroßeltern und den Gänsen«, sagte er und bedeutete mir, ihm zu folgen. Eine einzige Straße wand sich auch hier über eine Brücke und verschwand kurvenreich im Tal. Wir überquerten sie und steuerten auf das Jagdschloß zu, das keinen Anstrich besaß. Vereinzelt fehlten die Latten des Zaunes, und durch eine dieser Lücken betraten wir einen kleinen Vorhof. Früher musste der ein Idyll gewesen sein, die Sockel für mögliche Plastiken waren um ein großes grünes Plateau angeordnet, selbst waren sie schalig abgeplatzt, feinplattig abgeschuppt, von Trümmersprüngen durchwirkt oder grusig zerfallen.

Wir hatten dich herausgeholt aus dem Nichts, dem steinernen Garten, die Dunkelheit zwischen zwei Schatten, trügerische Schönheit, die man erblicken will, dorthin sich retten mit letzter beeindruckender Kraft, liegenbleiben, außen herum versinkt die Welt im Chaos, aber dieses Idyll ist das Brandmal auf schwarzem, wissendem Papier, in Hügelketten wellend – eine Sekunde des persönlichen Empfindens lang, hier spricht die Erde, nichts ist erschaffen, alles entwachsen aus dem Spiel der Gewalten; das Leben kein Spiel – was dann?

Man will seinen Körper schützen, man lässt nicht ab davon, ihn zu erhalten, aber man geht stumm ins Verderben, weil man aus irgendeinem Grunde annimmt, der Stärkere zu sein, jeder Makel muss erst bewiesen werden, in seinem eigenen Körper vermutet man nur sich selbst, die Gedanken hält man für unhörbar, für ein solides Geheimnis, wer immer weiter läuft, bekämpft die eiserne Hand in der Brust, sie wird sich nicht um das rasende Herz schließen können, die Tat rettet vor der Resignation.

Der wachsweiße Bursche öffnete die schwere, schwere Tür, mit Akanthusblättern verziert verriet sie ihr Naturell, und drehte sich zu mir um. Vereinzelt waren uns Gänse gefolgt, bereit, einen neuen Martin zu finden und zu verraten.

»Wir müssen jetzt leise sein!« erklärte er und trat ein. Es ging wuchtige, knarrende Treppen hinauf, von den Wänden fiel der Stuck. Zahllose Türen befanden sich links und rechts eines gewaltigen Korridors. Ich folgte dem jungen Menschen ganz zum Ende hin, und er öffnete die erste Tür, trat aber nicht ein. Ich näherte mich, um zu erkennen, was es dahinter wohl zu sehen gab.

In einem Schaukelstuhl saß eine glitzerhaarige Frau und häkelte einen Pullover, Luftmaschen, Kettmaschen, der bereits den ganzen Boden überzog, ein schäumendes Wollmeer, pastellfarben. Nichts an ihr bewegte sich, außer ihren Händen, die Finger und Nadeln gegeneinander fechten ließen, Pergament über Gebein.

»Wie lange tut sie das schon?«

»Seit dreiundachtzig Jahren häkelt die Schöne Johanna diesen Pullover für ihr totes Kind«, zischelte der Wachsgewordene versonnen und schleppend und im Einklang mit der vollkommenen Entrücktheit seiner gesamten Erscheinung.

»Gehört sie zu deiner Familie?«

»Nein. Ich glaube nicht.«

»Soll ich ihr Guten Tag sagen?«

Er beeilte sich, die Tür zu schließen. Vorwurfsvoll sagte er: »Ich habe dir gesagt, wir müssen leise sein. Du darfst hier niemanden ansprechen, bevor er nicht dich anspricht! So verhält es sich mit den Gesetzen des Traums.«

»Darf ich wenigstens deinen Namen erfahren?«

»Mein Name ist nicht von Belang. Ich hüte die Gänse, und so nennt man mich hier auch. Den Gänsehüter.«

»Du hütest den ganzen Tag die Gänse?«

»Das ist schließlich meine Aufgabe, so wie Johanna diesen Pullover häkeln muss, dabei habe ich allerdings nur darauf zu achten, dass die Tiere in ihrem Gatter bleiben, unten am alten Weeth. Johanna indes ist in einer größeren Schleife gefangen; sie ist nahezu deswegen heilig, weil sie Sinnloses mit einer allergrößten Andacht zu tun vermag.«

»Aber sie hat wenigstens einen Namen.«

»Sie hat den Namen von ihren Eltern bekommen, als sie geboren wurde und als es dieses Dorf noch nicht gab. Hör jetzt auf, Fragen zu stellen und komm mit.«

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