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Zu spät gekommen

Last updated on 18. Juli 2024

Wie schön der Ort war, an dem du einst gesessen bist; Fliegen gab es kaum – überhaupt hatten sich die Insekten zurückgezogen, obwohl doch alles in fetter Blüte vegetierte. Die Bank stand noch, sonst wüsste ich es nicht. Man hat wohl vergessen, sie abzumontieren, denn den Weg zu ihr hat sich die Natur – sie benötigt dazu ja niemals lange – zurückgeholt (wie man diese Tatkraft bezeichnet), macht aber, ich möchte es nicht Wunder nennen und lasse die Sache als denkwürdig stehen, vor den Rippen, den Querstreben, vor den beiden Zementsockeln bereits halt, sendet dorthin nur kümmerliche Brennesseln, die sich erst noch zu beweisen haben, und denen man es innerhalb der Familie der Rosiden nicht übelnahm, dass sie hier versagten oder noch nicht wussten, wie denn vorzugehen sei, um das menschgemachte Bauwerklein in Besitz zu nehmen, als hätten sie Furcht davor, denn der Sichler besäße dann einen Grund, sie hinzumähen, gäbe es dort noch Wanderer, die nicht hierher kämen, weil sie sich verirrt hatten, sondern weil sie ganz gezielt – sei es ihrer täglichen Runde geschuldet oder ein sonnachmittäglicher Spaziergang – diese Bank für einen Ruheposten nähmen.

Nachdem ich mich durch das satte Grün gewunden, über zahllos abgefallen, abgefaulte Äste gestiegen, mich so manches Mal bücken musste, um herabhängende Zweige nicht in mein Gesicht schlagen zu lassen, und nachdem ich mich derart gymnastisch bereits am Rande der Anhöhe fortbewegte, zweifelte ich für einen Augenblick, der durchaus etwas länger anhielt als es der kurze Wimpernschlag meint, an meinem Vorhaben, nach Jahren der Abwesenheit erneut aufgebrochen zu sein, um dich nicht zu sehen, das heißt, dich nicht zu sehen als die, die du heute vielleicht bist. Nein, ganz und gar die Erinnerung – so liegt es mir im Gemüt – wollte ich suchen und aufsuchen, nicht dich, die du heute nichts mehr von dieser besonderen Stelle weißt, die du weit entfernt in einem Haus, das ich nie betreten habe, lebst und eine andere bist als zu dieser Zeit, zu der ich aufbrach, um durchaus darüber nachzudenken, was wohl aus dir geworden sei.

Der Zweifel aber galt nicht dir und nicht der Bank, auf der du die Beine untergeschlagen gesessen und ins tiefe Tal hinunter geblickt, er galt nicht mir, der ich im Gegenzug zu dir derselbe geblieben bin über all die Jahre, die wir uns nicht begegnet sind, er galt einzig und allein der Zeit, die mir in Form des Wildwuchses ihr Lauern auf einen Fehler bezeugte, einen Fehler, der mir, dem Erinnerungskünstler zum Verhängnis würde, so dass dieser Teil meiner Existenz für immer verloren wäre; so sehr ich mich auch mühte, zur Bank zu gelangen, in das dazugehörige Jahr zu pilgern, nichts fände ich vor als makabres Grün, das aus Gräbern sprießt oder das man an ungepflegten Ruinen aufzufinden sich gestattet, aber nicht in der Illusion von einer Begebenheit, die dem Sänger Lieder, dem Dichter Worte eingibt, die so lieblich in ihrer Art, dass man, pflückte man sie, einen schweren Wein davontrüge.

Die Zeit – ich bin aus ihr gefallen und kenne sie gut, weil ich sie aus der Ferne vermag zu betrachten – ist ein windschiefes Gebäude von einer unbestimmbaren Größe, ein Hexenhaus fürwahr, eine Kaserne für das, was man sich nicht entblödet Fortschritt zu nennen, aber sie ist nur augenscheinlich ein Haus, in Wirklichkeit ein Geist, der mit Schlangengift durchtränkt durch die uns bekannte Materie zieht. In diesem Gifte, so ging mein Gedanke, in dem auch du jetzt wie in einem Bade liegst, könnte auch mein Ziel, das ich bange ansteuerte, verödet und für keinen Traum mehr zu erreichen, haltlos schwimmen, ausgefressen der archivierten Bilder. Doch nichts dergleichen! Mein Dünkel zeigte sich alsbald als unbegründet, denn obwohl die Natur immer weiter vorgedrungen ist, lässt sie mich neben dir Platz nehmen, lässt mich erneut die Worte sprechen, die ich schon damals zu dir sagte: »Verzeih … verzeih, dass ich so spät gekommen bin.«

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