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Der Abgrund (SSB-Version)

Last updated on 19. Juli 2024

Ich konnte mich zunächst ja kaum erinnern, zerschunden wie ich war, aber woher nur? Meine Augen kugelten in einem Sandlager herum, von dem aus gesehen das tränende Meer nicht weit entfernt liegt. Lichtspiele pochten hinter meiner Stirn gegen die Augäpfel, das boxende Känguru der Brüder Sklandanowsky, der einfahrende Zug in den Bahnhof von La Ciotat, die Umwelt klarte aus einem roten Nebel und ich stellte fest, dass ich lag und nicht etwa schwebte, wie ich es mir zunächst eingebildet hatte. Denn zu oft erwachte ich orientierungslos, noch eingenommen von einem Traum, an den ich mich genausowenig erinnern konnte wie an meinen Aufenthaltsort. Nur der reflexartige Schwung meiner Hand zum Wecker hin brachte mich dann zurück in mein Haus, in mein Bett, in dem ich schwer und heftig atmend wach lag, ohne mich wach zu fühlen. So wie ich lag, konnte mit meinen Händen gerade noch den Wecker erreichen, der durch die gleichmäßig vorherrschende Dunkelheit in Zahnradzungen zu mir sprach; ein Freund im Einklang mit meiner eigenen präzisen Unruhe. Ich zog ihn stets mit sieben Umdrehungen auf, nie bis zum Anschlag, jeden Tag, um in der Nacht, wenn ich wirklich nichts mehr sehen konnte, weil das Rouleau jeden Schimmer fern hielt, dem Funktionieren der Uhr zu lauschen. Ich wollte kaum atmen, weil ich ängstlich wurde, wenn ich nicht genau hören konnte, was mein einziger Fixpunkt im Gewirr der Unendlichkeit zu sagen hatte. So ähnlich waren sich die Töne, dass man sie leicht für das immer gleiche Auf und Ab halten mochte – ich aber hörte das Hin- und Herschwingen wie das Murmeln eines Geschichtenerzählers. Es erschien mir tröstlich, dass all die Erzählungen, denen ich lauschte, mit dem Vergehen der Zeit zusammenhingen. Ich wollte ja, dass die Zeit verging, wollte aber nicht, dass ein neuer Tag anbrach, denn der forderte neue Entscheidungen, die den einen Fluss ebneten, den anderen aber rasend werden ließen. Der Naturgewalt der eigenen Willkür war nicht beizukommen.

Im Laufe der phosphornen Minuten kehrte der bereits erlebte Tag dann wieder in mein Bewusstsein zurück, und mit ihm die Gewissheit, tatsächlich noch am Leben zu sein, denn woher sonst nahm man die Überzeugung? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ein einziger Tag an der Erinnerung festklebt, während man dabei ist, sich aufzulösen, den Hausstand des zurückliegenden Lebens aufzulösen, Bilder, Dialoge, Geheimnisse (und letztere mögen keine mehr sein, wenn man selbst nicht mehr der Bewahrer ist) in die Teufelskutsche zu werfen.

Jetzt aber war ich mir dieser Sache nicht ganz so sicher. Die Luft um mich herum konnte man kaum atmen, sie roch nach Holz, Wolle, Senf und Erde. So aber wollte ich mir den jenseitigen Muff nicht vorstellen. Wenn ich also nicht mehr am Leben sein sollte, wäre das doch ein ziemlich merkwürdiger Umstand. Immerhin lenkten mich derlei Gedankenspiele zunächst ab, bis ich um mich herum ein Spalier merkwürdig gekleideter Menschen in vergammelten Tonnen- und Feldröcken entdeckte, die möglicherweise schon die ganze Zeit da standen, Boten der Vorhölle vielleicht. Fand ich mich in der Nähe des Schlachtfelds wieder, meine Wunden genesen, durchaus gezeichnet allerdings, sonst läge ich wohl kaum hier, nahezu bewegungslos, und hatte von nun an durch Äonen von Möglichkeiten zu geistern, die ein unpersönliches Universum dem empirischen Verstand wie einen Jux postmortem ins Gesicht schleudert? Selbstverständlich entsprangen diese fiebrigen Gedanken meiner träumerischer Natur, doch die Verunsicherung, die mir dieser unerwartete Anblick einflößte, die fremden Gerüche, die Ahnung einer fehlerhaften Kombination meiner Situation überzog mich von oben bis unten mit Gänsehaut, als hätte ich Schokolade gegessen oder Rauschdrogen zu mir genommen. Womöglich glaubte ich nur, erwacht zu sein, schlief aber in Wahrheit so fest, dass ich nicht einmal die Möglichkeit in Erwägung zog, tatsächlich zu träumen. Also verhielt ich mich still, wollte warten, bis man auf mich aufmerksam wurde (was ja längst so war, auch wenn mein Beisinnensein noch keinerlei Reaktion auslöste) und mich ansprach. Das Pochen innerhalb meines Schädels war schließlich kein geistiges Phänomen, die lastende Schwere meiner Glieder, die auf etwas lagen, das sich wie Stroh anfühlte, keine Einbildung. Mir fiel ein, zumindest zog ich in Erwägung, dass ich die Sterne beobachtet hatte, bevor sich mein Verstand verabschiedete. Gerne hätte ich diese Faszination mit Johanna geteilt, die sich bisher stets immun gegen jeden spekulativen Gedanken, der aus diesem überwältigenden Anblick resultiert, gezeigt hatte. Der Kleine Hund mit dem hellen Procyon fesselte mich und Johanna folgte meinem Blick zum vom Blinken durchlöcherten schwarzen Tuch des Nachthimmels hinauf.

»Ich erkenne da gar nichts«, sagte sie. »Immer nur das Gleiche! Die dauernden Debatten über ein Leben anderswo … wenn’s so wäre, müßten wir es doch wissen!«

Vielleicht spiegelte ihre ablehnende Haltung die Angst, aus den Fugen zu geraten, wenn sie sich darauf einließe, nicht mehr über das Gemüsebeet, die freien Tage, die Besonderheit ihrer neuen Frisur, eine modische Wasserwelle, reden zu können, weil es doch belanglos wäre im Angesicht der großen Ideen, die um uns herum lauerten, die Feldgleichung des Juden nicht zuletzt genannt.

»Also ich erkenne da oben nichts, auch wenn’s schön ist! Laß dir den Abend nicht von mir verderben!« Sie ging ins Schloß zu ihren Porzellanfiguren.

»Warum gefällt dir die Natur nicht?«, rief ich ihr nach.

»Ich will nicht, dass da draußen jemand lebt, der einen anleuchtet. Ich fühle mich bei diesem Gedanken gefangen, begafft, außerstande, an mich zu glauben, wenn mich andere sehen, von denen ich nichts weiß.«

Noch verschwammen die Konturen der mich umgebenden Gestalten wie schimmernde Kerzenlichter. Ich erkannte, dass sie alle in Fetzen gekleidet waren, die mich an Bewohner einer mittelalterlichen Gosse denken ließen, als lebten sie seit Jahrzehnten im Dreck. Niemand rührte sich.

»Er ist wach.« Die Stimme tauchte an meinem rechten Ohr auf. Ich verstand die Worte, was zweierlei bedeuten konnte. Es konnte sein, dass wir das gleiche Idiom benutzten, ebenfalls war jedoch denkbar, dass ich in meinem ungewöhnlichen Zustand jede Sprache verstehen konnte, dass es eine Sprachbarriere nicht mehr gab.

»Wieder einer«, sagte eine Frau (oder schneuzte sie sich?). So ungeheuerlich auch alles anmuten mochte, es handelte sich nicht um Dämonen oder Erdgeister, sondern um Menschen, und sie benahmen sich in einer mir vertrauten Weise: ich war hier nicht willkommen.

Der Schleier der Dämmerung, geboren aus Schmerz und Ohnmacht, begann sich wie auf ein Stichwort hin zaghaft zu öffnen. Als derjenige, der mein Erwachen dokumentierte, mich nach meinem Namen fragte, hätte ich fast geantwortet, doch dann bemerkte ich, dass ich es nicht wusste. Meine Lippen bewegten sich, formten sogar einen Namen, der in meiner Erinnerung nicht mehr vorhanden war, vielleicht erinnerten sich meine Lippen an etwas, das einmal gewesen war. Seltsamerweise erinnerte ich mich schwach an ein tiefes Gefühl der Trauer, nicht an meinen Namen, aber an andere Lippen (und an Johanna, dass du jetzt da auch hingehst, Tielt, wo soll das überhaupt sein, wenn du nicht zurückkommst, bringe ich dich um). Während ich in dem dicken Brei meiner Erlebnisse stocherte, brach ein Lichtgewitter in das düstere und stickige Grau, brachte mich wieder in den Kreis der Gezeichneten zurück, die nicht weniger erschrocken waren als ich selbst. Ein schneller Wechsel von Farben und Helligkeit rochierte durch die kleinen eingelassenen Fenster, die vermutlich aus Gründen der Stabilität nicht groß, aber zahlreich waren. Die Lichtmassen waren derart intensiv und durchliefen das ganze bekannte Spektrum des Regenbogens in unterschiedlichen Intervallen, dass mir im ersten Augenblick der Atem stockte. Während sich der Kreis der Gaffer auflöste, um das Schauspiel durch die Fenster zu betrachten, fand ein einziger kein Interesse daran und blieb an meinem Lager stehen, betrachtete mich nachdenklich (also bitte! Ich erkenne einen nachdenklichen Blick!) mit Augen, die das Geschehen um uns herum reflektierten. Der Spiegel der Dunkelheit ist Licht. Wäre ich halbwegs bei Kräften gewesen, so wäre ich wohl aufgesprungen, um mir irgendwo Schutz zu suchen. Doch ich war nicht einmal zu einer instinktiven Reaktion fähig und lag starr, als hätte ich mir alle Knochen im Leib gebrochen, und vielleicht hatte ich das ja auch. Dann zog er die Schultern nach oben und begab sich in dieser geduckten Haltung ebenfalls zum Fenster, diesen Armen Seelen-Löchern. Aus mir unbekannten Gründen hörte ich die Einschläge nicht, die es doch hätte geben müssen.

Es mochten Stunden vergangen sein, in denen ich wieder und wieder in einen seichten Schlummer fiel, dennoch wurde ich dem ständigen Kommen und Gehen gewahr, das sich in dieser halbdunklen Hütte vollzog. Es schien, als gäbe es immer nur eine festgeschriebene Anzahl jener, die sich hier aufhalten durften, warum sie aber extra hereinkamen, um dann aus diesen engen Sehschlitzen zu spähen, blieb ein Rätsel.

Eines dieser heruntergekommenen Wesen trat durch die Tür und kam mit einer hölzernen und dampfenden Schale auf mich zu. Es war mir unmöglich, große Unterschiede in der Art der Kleidung, der Bewegung oder der Mimik dieser absonderlichen Gestalten herauszufiltern, hier handelte es sich jedoch um eine Frau – oder das, was einer Frau annähernd nahe kam, ihr faltiges Gesicht war übersät mit Warzen, auf denen vereinzelt drahtige Haare sprossen, sie reichte mir wortlos die Schale. Obwohl ich ein hungriges Stechen in meinem Magen verspürte, stockte mir jeglicher Speichelfluß, als ich den Gestank wahrnahm, ich machte keine Anstalten, die Schüssel in Empfang zu nehmen. Unbekümmert hielt das Weib die Arme ausgestreckt und wartete.

»Was ist das?«, krächzte ich.

»Du wirst essen müssen«, sagte sie in einem Ton, der vermuten ließ, dass sie wusste, wie mir zumute war, dann seufzte sie verhalten und stellte die Schüssel neben mein Lager auf den Boden. Als sie sich bereits zum Gehen wendete, hielt ich sie zurück und fragte, was das hier für ein merkwürdiger Ort sei und wie ich hier hergekommen wäre. Sie zögerte einige Sekunden, bevor sie antwortete: »Du wirst gefallen sein, wie wir alle hier. Die Erinnerung kommt wieder, darüber brauchst du dir am wenigsten Sorgen zu machen.« Zu mehr Konversation war sie nicht aufgelegt, drehte sich endgültig um und schlich zu einer der Luken, um die Einschläge zu bestaunen. Was aber hatte das, was sie sagte, zu bedeuten? Befand ich mich in einem Lazarett? Wir tragen in alle Gassen den Brand.

Nach einigen Tagen fühle ich eine gewisse Lebendigkeit zurückkehren, ich hatte mich an den seltsamen Kräutersud gewöhnt, der, wie sich herausstellte, erbärmlicher stank als er schmeckte, nach Kerbel und Sauerampfer ganz hinten auf der Zunge, bevor man zu schlucken beginnt. Das Feuerwerk, das langanhaltend durch die Scheiben gewittert war, hatte seine Aktivität eingestellt, einen Tag schien es hier nicht zu geben, zumindest im Moment nicht, was mir einleuchtete, sollte sich wirklich alles auf einen einzigen Zeitraum konzentrieren, der ja überhaupt keine Unterschiede mehr zuläßt.

Die Hütte war jetzt die meiste Zeit über leer. Ab und zu verlor sich jemand herein, starrte mich eine Weile an und verschwand dann wieder nach draußen. Auch jetzt war es mir unmöglich, mir die Gesichter zu merken. Ich konnte nicht sagen, wer mir das Essen brachte.

Es war der achte Tag, als ich aufzustehen versuchte, nach dem Verebben des Schwindels gelang mir das sogar, ich schwankte zu einer der Luken und starrte in eine tausendjährige Nacht, das war nicht nur ein vorübergehendes Zwielicht, das war eine kriechende Schwärze, daran änderten auch die provisorisch aufgestellten Lampen nichts, die aussahen wie aufgespießte, glimmende Bälle. Ah! Dieses sonderbare Erwachen! Diese Bilder, die sich in die Netzhaut brennen! Die Sonne ist nicht mehr zu sehen. In dieser stahldunklen Umgebung wird alles zu Stein, die Sinne mutieren, die Ultraschalljäger dominieren.

Die Umrisse der Gebäude, die ich in diesem diffusen Licht mehr ahnen als sehen konnte, zeigten sich uneinheitlich, manche waren nicht mehr als aufgeschichtete Steinhaufen, andere schienen gewöhnliche Hütten zu sein. Die merkwürdigen Bewohner wandelten wie Gespenster auf Trampelpfaden, die durch dicht am Boden kriechendes Buschwerk geschlagen waren. Eine andere Vegetation konnte ich in dieser spärlichen Beleuchtung nicht ausmachen.

Dieser Ort beunruhigte mich mehr als meine Amnesie, alles wirkte wie in einer Strafkolonie, verströmte den Hauch des Unwirklichen, ich war mir nicht einmal sicher, ob ich mir das hätte vorstellen oder gar davon träumen können, nachts, vom Wahn berührt. Diese Dinge sind nicht leicht herauszufinden, ein bloßes Gefühl des Bizarren entlarvt einen Traum nicht als solchen, es sind siebzig Stufen hinab in den leichten Schlummer, siebenhundert führen von da aus in den tiefen Schlummer, sagt man. Beim Gedanken, dass ich doch tatsächliche diese Stufen hinuntergefallen sein könnte, musste ich lächeln. Man fällt, kaum dass man steht, und das Gehen erlernt man im Fallen.

»Du wirst dich erinnern«, sagte jemand hinter mir, ich hatte ihn nicht eintreten hören, es war jener Gezeichnete, mit dem ich den ersten Kontakt in meiner neuen Umgebung hatte, zumindest glaubte ich das. Es war ein Gefühl, mehr nicht, dieses graubärtige und runzlige Gesicht passte zu jedem anderen, das ich hier bisher gesehen hatte.

»Es wird Zeit, dich mit einigen Regeln vertraut zu machen. Du scheinst erholt und neugierig.«

»Das mag sein«, erwiderte ich, »aber ich habe nicht vor, länger als nötig zu bleiben.«

Die Gestalt musterte mich eindringlich. »Das dachte ich mir«, sagte sie. Ich war erleichtert, denn es hätte durchaus sein können, dass man mich hier festhalten wollte.

»Das Problem wird sein, dass wir uns hier auf einer Insel befinden.« Ich erwiderte, dass dies nicht wirklich ein Problem sei, ich könne durchaus auf das nächste Schiff, das ausliefe oder ankäme, warten. Schließlich sei ich noch nicht zur Gänze wieder bei Kräften.

Er schien ein Nicken andeuten zu wollen, seine Augen bohrten sich jedoch weiterhin starr in meinen. Dann sagte er, dass es keine Schiffe gab, das dies zwar eine Insel, dass sie jedoch nicht von irgendeinem Gewässer umgeben sei.

»Um es genau zu nehmen, ist diese Insel von gar nichts umgeben außer von einem gähnenden Abgrund, der in die ewige Nacht hineinführt.«

Und jetzt laufe ich, aber ich könnte nicht behaupten, dass ich um mein Leben lief. Nachdem man mir meine Fragen nicht beantworten konnte oder wollte, mir nach meiner körperlichen Genesung sogar eine Aufgabe zugedacht hatte, deren erstes Gebot im Schweigen bestand, glaubte ich, das Mysterium der Insel für mich selbst erforschen zu müssen. Zunächst erschien es mir lächerlich, mir eine Insel vorzustellen, die frei im Raum schwebte wie ein Satellit. Noch weniger wollte ich akzeptieren, überhaupt hier zu sein. Ich begann zu argwöhnen, man hätte mich hierher verschleppt. Diese Anklage erhob ich immer öfter, aber jedes mal gebot man mir, zu schweigen und mich dem stummen Marsch vor der Hütte anzuschließen, der einmal durch das im Dunkel liegende Dorf führte. Wohl ging ich nach draußen und beobachtete die endlose Prozession meiner neuen Gesellschaft, schloss mich allerdings kein einziges Mal an.

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