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Der Weg nach Raha: 10 Die alte Bahnstation

Last updated on 19. Juli 2024

»Siehʼ an, ich hatte Sie bereits vermisst! Waren Sie nicht verschollen mitsamt ihrem Geiger

Ich kletterte in den Bus hinein unter den Blicken wachsweicher Figuren, die unter der Hitze litten, eine Welt ohne Wetter ist schwül. Aus dem sich öffnenden Loch einer Bahnhofswand heraus war schließlich der Bus erschienen, von dem der letzte Zugpassagier gesprochen hatte. Am Steuer saß Madame Blandot.

»Werden Sie mich zum Leuchtmoos bringen?«

Zeit und Raum, das waren schöne Sprichwörter geworden. Hier hatten sie keinerlei Bedeutung.

»Diesen Ort kennen wir nicht, das wissen Sie doch! Eine Erinnerung an Ihre Kindheit, nicht wahr?«

Ich hatte das Zimmer verlassen, um an einen anderen Ort zu gelangen, ich hätte mich in meine Laken wickeln können, sehnsüchtig eine ehemalige Zweisamkeit einatmen, die noch reichlich vorhanden war, sogar warm und beinahe unvergänglich. Der Traum von einem anderen Leben. Wenn man jemanden liebt, gibt es Momente, Personen, Töne, Farben, Gerüche, Reflexe, die die geliebte Person unmittelbar zur Anwesenheit zwingen. Das ist nicht nur ein Sehnen, das ist nicht nur ein Gedankenspiel, das ist die eigentliche Präsenz. Oft verkörpert sich das geliebte Objekt in einer anderen Person, die man hier und dort nur flüchtig und wage, aber auffällig oft an verschiedenen Orten antrifft. Der Initiator meiner Reise war ja Unglück und nicht das merkwürdige Gebaren Dorns.

Vor dem Bus lagen Mammutknochen, aufgeschichtet zu einem Scheiterhaufen. Zwei Heere prallten aufeinander, hinter dem blutigen Staub, den sie verursachen, war all das in Büchern beschriebene Glänzen der Stahlwaffen zu erkennen. Das Glänzen, das Schwingen der Waffen, das atmosphärisches Klirren erfüllte die Luft. Ein Gellen mischte sich unter den Wirbelwind, der aus den rauchig-vergessenen Mündern gesprungen kam. Zwei Heere, Barbarenmünder, die Nüstern der Pferde, die sich singend vor den Ruinen des Bahnhofs erschufen.

»Wir müssen sehen, dass wir hier schnell wegkommen!«, rief Madame Blandot. »Der Staub rückt näher!«

Als sie sah, dass ich keine Anstalten machte, weil ich lieber das chaotische Treiben um mich herum beobachtete, wurde ihre Stimme sanfter : »Sie ist ihnen davongelaufen, nicht wahr?«

Sie ist mir nicht davongelaufen! Sie ist unbemerkt aus der Tür gegangen. Die Tür leise schließen, heißt, nicht wiederkehren; die Türe zuwerfen, bedeutet : gehe mir nach, beeile dich!

Aber das hat sie nicht getan. Sie schloss die Tür lautlos. Es gab eine Welt, die nicht durch ein schmieriges Zimmer betrachtet werden wollte, meine heftigste Erinnerung: »Ich bin der einzige Mensch!«

»Das stimmt vielleicht, aber Sie haben die Einbildung. Sie wissen doch was man sagt : Die Welt ist niemals wirklicher als hier. Den Traum bestellt man wie man einen Hof bestellt.«

»Wissen Sie wo sie ist?«

Sie verdrehte die Augen, umfasste ungeduldig das vibrierende graue Lenkrad.

»Helfen Sie lieber dieser Frau mit dem Lattenrost.«

Vor dem Bus quälten sich die Hände eines nicht mehr ganz weiblichen Wesens. Es rupfte und zerrte an einem Gestell, das so breit und lang war wie der Bus selbst. »Der muss mit, ich muss ihn vergraben!«, keuchte sie durch die Spannlatten während sie versuchte, ihre Arme effizient zu nutzen, ohne jemals den Schwerpunkt zu finden. Das Fett ihrer Haare tropfte über die einzelnen Rippen. Madame Blandot griff zu einem kleinen Mikrofon, drückte auf einen Knopf und schon knisterte ihre Stimme aus dem Lautsprecher : »Begeben Sie sich bitte alle nach draußen, ich muss die Zeit anhalten! Bewegen Sie sich aus diesem Grunde bitte nicht mehr als notwendig! Wir werden pünktlich abfahren, aber zunächst müssen wir dieses Problem lösen!«

Augenblicklich schwieg das Schlachtfeld, tötete nicht mehr vor sich hin. Der Bahnhof sah finster aus in seinem matten Gelb, das nicht wirklich ein Gelb sein wollte. Ein spektakulärer Träger der Lichtreflexe.

»Sehen Sie das Gelb?«, sagte die Frau mit dem Lattenrost.

»Dieser Lattenrost ist viel zu groß!«, antwortete ein hilfsbereiter Fahrgast. Sie nickte eine Antwort, ihr Blick verklärte sich. Endlich fiel es ihr ein: »Als ich noch ein kleines Mädchen war… Sie werden mich ansehen und denken, das wird nie der Fall gewesen sein… aber ich versichere Ihnen… da träumte ich von einem Haus in den Bergen, und in diesem Haus, da lebte ein Mann unbestimmten Alters … halten Sie mich nicht für verrückt, diesen Mann gab es wirklich! Ich will damit sagen, er lebte und war genauso existent wie Sie!«

Sie meinte mich. Der Lattenrost bog und wand sich, wurde in die Höhe gestemmt, gedreht, wieder fallen gelassen.

»Lassen Sie den Rost hier, Hauptsache Sie selbst kommen von hier fort« Ich besah mir das idiotische Manöver voller Unbehagen.

»Das ist nicht die Hauptsache! Ich muss dieses Ding vergraben!« Ihr blasser kleiner Mund. »Jedenfalls … war es so ein schönes Haus! Und es blieb für immer dieses Haus, nur der Mann veränderte sich… sein Gesicht…« Sie beschrieb einen Kreis, um einen Ballon anzudeuten.

»Wir können diesen Lattenrost nicht in und nicht auf den Bus bekommen, wir sollten fahren!« sagte ich zur Busfahrerin, die noch vor kurzem meine Wirtin gewesen ist.

Madame Blandot selbst stand wie eine Walküre inmitten der tumulthaften Versuche der Unmöglichkeit, fasste selbst aber nicht mit an. Die nackte Panik ergriff das Gesicht der Dame, die sich verzweifelt an ihr Utensil krallte, ließ eine Maske entstehen wie den ersten Versuch eines unerfahrenen Bildhauers

»Darf ich denn trotzdem mit? Und das Ritual? Das Ri-tu-al?«

Madam Blandot fixierte mich: »Natürlich kann sie mit, aber was wird sie ohne ihr Bett in der Fremde anfangen?«

»Es ist ja kein vollständiges Bett. Keine Mensch schläft allein auf einem Lattenrost!«

Das Mikrofon wurde wieder hörbar, nahm jedes Atmen auf und verwandelte es in Teer. Die Fahrgäste stiegen lautlos wieder in den Bus. Ich hätte schwören können, es waren die gleichen wie bei meiner Ankunft. Lautlos ihre Gedanken, lautlos ihre Augen.

»Die Zeit läuft gleich weiter. Wenn alle einsteigen, wird uns nichts geschehen, wir haben Adam an Bord!« Ein Seitenblick in meine Richtung, die Lippen über die Membrane gestülpt: »Adam.« in Zeitlupe, die Muskeln schwangen nach, alles vibrierte, der Ton war mollig warm und langsam unterwegs : »Er ist der einzige Mensch! Sie wissen es, meine Damen und Herren!««

Ich bin Adam, ich bin der einzige Mensch! Aus meinem Kopf entspringen Träume. Sie wickeln sich in den Tag, es sind gelbe Träume, dreckige Träume. Der Glanz schreitet durch die zänkischen Bilder, wohnt in den Häusern. Dieser Glanz bildet die Gedanken, aber niemand kann diese Kraft mit eigenen Augen sehen, das verhornte Gelb.

»Ich weiß nicht, wo Sie finden werden was Sie suchen, nicht hier, so viel steht fest, aber auch nicht dort, wo wir hinfahren. Sie wissen, dass wir zu einer alten Lagerhalle aufbrechen. Dort fuhren niemals Züge.

Man wird also durch nichts daran erinnert, dass man verschwinden könnte, wenn man wollte. Die Lagerhalle beherbergt noch mehr von diesen Geheimnissen, die wir alle meiden sollten, aber Sie sind der einzige Mensch, vielleicht werden Sie das Rätsel lösen!«

Durch die Steppengräser hindurch verfolgte uns der Wind der alten Bahnstation. Madame Blandot trat das Gaspedal im Leerlauf durch und der Motor zornte auf. Wir bewegten uns keinen Meter von der Stelle. Eine Bewegung gab es nicht; die Erde war von Feuer, Luft und Wasser umgeben; unterhalb der Sonnen- und Planetensphäre wälzte sich die Kristallsphäre des Mondes über die Erde hinweg. Über all dem packte das primum mobile seinen Mantel aus, niemand befand sich im Autobus. Im Universum existierte eine bisher noch unbekannte Energiequelle, deren spektakuläres Resultat die Quasare sind, durchläuft die Schöpfung, die auf dem Rücken einer Schildkröte ausgetragen wird, aus dem Nichts: nichts.

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