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Die Fliegenpilzin

Last updated on 19. Juli 2024

Anders als ein Pfad ist die Straße stets nur eine Schneise und führt in die Städte, die sich wie ein Geschwür auf dem Fleisch des Landes ausbreiten, hinein oder aus ihnen heraus. Der Pfad hingegen kreuzt geheimnisvolle Orte, so dass man irgendwann das Gefühl hat, angekommen zu sein, auch wenn man mitten im Nirgendwo steht, ein Teil der Vollkommenheit wird, die nur aus Nichts bestehen kann.

Die Straße flimmerte in den Horizont hinein, als wolle sie sich aufmachen, eine Halluzination aus diesem Nichts zu heben. Das Ende der Welt ist eine markante Stelle, jedoch ist es immer gleich weit von mir entfernt. Komme ich näher, rückt es fort, schiebt sich hinaus, deutet aber an, dass es an Ort und Stelle verweilen könnte, wenn es nur wollte. Zynische Erscheinungen sind diese absoluten Enden, die nicht nur leicht den Geist beschädigen können, sondern auch den Körper in eine Pressmulde zu stürzen wissen.

Am Straßenrand suchte ein alter Mann etwas auf dem Boden. Im Becken nach vorne geknickt, nur leicht in den Knien gebeugt, erschienen seine Beine wie Klammern, wie Tore. Mit den Händen wühlte er im Staub, in der Erde, im Dreck, im Durcheinander aus Kannen und Eimern, die dort herumstanden. Wie groß er trotz seines Buckels war, erkannte ich erst beim Näherkommen. Ein Gesicht uralt, ein Moostopf, ein rostiger Eimer, zweidrei Löcher im Boden, ausgefranst, Blech drumherum, der ganze Eimer aus Blech, der ganze Kerl ein Buckel. Mein Wagen stand in der Trockenheit des Augenblicks still, und ich sagte : »Das sieht nach Suche aus!«

Ohne mich anzusehen verströmte er Begeisterung : »In der Tat, Freund, in der Tat. Ich suche den Ring, den ich einst am Finger trug. Nichts Besonderes, nein, aber ein Ideal, ein altes Symbol.« Er richtete sich auf wie ein stockendes, vernachlässigtes Zahnrad, offenbarte mir seine wildbärtige Front und zeigte mir die verwaiste Stelle an seiner linken Hand.«

»Wie verliert man einen Ring in dieser Öde – und findet ihn dann nicht mehr?«

»Oh. Ach was – ich habe den Ring nicht hier verloren, hier suche ich ihn nur.«

Das genügte, um ihn zu kennen. Die Fremdheit, in der man sich begegnet, wird nicht durch Namen, sondern durch poetische Handlungen zurückgedrängt. Ein erster Vorhang hebt sich, die Kulisse ist der Mühe Wert, die Erhabenheit der Posaune alter Mensur, das Motiv der Einsamkeit blasend, die kurzfristig unterbrochen wird durch die geforderte Hilfestellung einer Stimme cantus prius factus.

»Sie können mir sicher sagen, wie ich in die Stadt finde?«

Die Großmasten der Türme, die Feingliedrigkeit der Gartenzäune waren in der Ferne zu erahnen, beinahe einem Traum gleich zeigte sich die Stadt niemals am hellichten Tage. Sie war ein Gewächs geworden, angetrieben von den Errungenschaften der Anderen, Wesen, die in der Tiefe ihrer Gewölbekeller schlummerten.

»Das ist ein weiter Weg, aber Sie können den Spuren folgen. Sie sind nicht so schwer zu finden, wenn man weiß, wonach man zu suchen hat. Das Fahrende Volk hinterlässt an den Ruinen gern einen Kreis mit einem Pfeil.«

Diese Ruinen kannte ich, ich war ihnen mein Leben lang gefolgt; jede Erinnerung ist eine Ruine, ein Buchstabe auf alter Erde, eine zernagte Versalie, eine organische Metapher. »Soll ich Sie ein Stück mitnehmen?«

Er zögerte, und als ich schon glaubte, er wolle lieber seiner sinnlosen Tätigkeit nachgehen, die darin bestand, alle verlorenen Requisiten seines Lebens einzusammeln, nickte er und kam näher. Er roch nach nassem Tabak, seinen Bart trug er wie einen toten Fuchs unter der Nase.

Erst stiegen wir durch einen Wald voller dichter und üppiger Vegetation, dabei war es ganz belanglos, wohin wir unsere Schritte lenkten, wir konnten nur an einer Stelle wieder aus dem Dickicht finden. Indem wir dem Pfad folgten, gelangten wir hinter jede verschlungene Durchtriebenheit und bestaunten die Mesotonie der Büsche und Sträucher. Wir wichen den saftigen Ranken aus und irrten tiefer und tiefer in das gewundene Blattwerk hinein, bemerkten an einigen Stellen das übermäßige Vorkommen des Pantherpilzes, deren Oberfläche den Schokoladenlebkuchen aus Nürnberg ähnelte. Durch die Reste weißer Pilzhaut entstand die Illusion von Nüssen, die zerhobelt auf ihren Dächern lagen. Rötlicher Thymian, rote und weiße Nelken mit ihrem scharfen Duft, kleine Stiefmütterchen, Brennesseln, stachelige Disteln und giftiger Schierling wucherten unter einem Dach aus Huflattich. Noch immer folgten wir den Spuren des Fahrenden Volkes, dessen Name wir nicht kannten, Spuren, die längst keine mehr waren, denn das Geschlecht, das diese Nachrichten einst hinterlassen hatte, war längst eins geworden mit der Stadt, die nicht zu erreichen war.

Den Wagen hatten wir am Rande zurückgelassen.

»Hier muss ich aussteigen, und Sie sollten mit mir aussteigen, wenn Ihnen Ihr Leben lieb – so ein »Mobil« ist nichts Wert, wenn man sich auf einer Queste befindet. Zu schnell könnten Sie an etwaigen Hinweise vorbeirattern, und schon stünden Sie im Nirgendwo. Zurück : das können Sie nicht, wie Sie wissen. Das übersehene Zeichen wäre zwar noch da, es täte so, als wäre es ihm egal, von welcher Seite man sich ihm nähert, doch das ist selbstverständlich ein Irrtum. Den spiritus loci hätten Sie bereits beleidigt, und nun kämen Sie angekrochen und müssten ihm beibringen, wie Sie in übersehen konnten. Unterschätzen Sie niemals die Eitelkeit der Zeichen!«

Und ich war froh, aussteigen zu könne, denn der Alte stank wie ein Fischotter. Er selbst stand bereits zum Gehen bereit und blickte über die Weite des obszönen Grüns, bevor er sich in Bewegung setzte. Ich folgte seinem übertriebenen Schnaufen und plötzlich wurden wir eines weißen Häuschens gewahr, das über einen ehemaligen Fluss hinweg eine Brücke bildete. Es stand nur auf fragilen Stelzen und auf beiden Uferseiten führten Holztreppen zu ihm empor. Das mediterrane Ambiente wollte nicht recht in diesen wuchernden und überlebendigen Urwald passen, uns bekanntes Holz wäre längst verrottet oder von den Schlingpflanzen zu Boden gerissen worden. Mein Begleiter betrachtete die Treppe kurz, die vor uns bergauf führte, bevor er verlauten ließ, dass sie dem Mond gehörte und wir wohl nun den Weg nicht länger miteinander teilen könnten.

»Dies hier ist eine Mondbrücke, die nicht ohne Gefahr überschritten werden kann. Für mich besteht diese Gefahr nicht, denn ich käme schlicht auf der anderen Seite wieder zum Vorschein, aber ich suche auch nicht nach den weiblichen Urkräften und fordere sie deshalb auch nicht heraus.«

Kurz bevor sich unsere Wege trennten, waren wir zu Komplizen geworden und er sprach von der Welt als von einem Theater. Doch hatte ich nichts anderes im Sinn, als ebenfalls auf der anderen Seite wieder zum Vorschein zu kommen. Aber ich käme dann wohl wieder dort heraus, wo ich einst begann, nur hinter dem Spiegel, auf der verkehrten Seite, wo ich mir selbst begegnen könnte, um mich einige Dinge zu fragen, und ich hätte zu entscheiden, bei mir zu bleiben, um mich vor dem Spiegel zu betrachten, oder die Reise noch einmal zu wagen. So gaben wir uns Valet.

Im Innern des Hauses wirkte das Holzgestade wie ein altertümlicher Bahnhof, der einst in jedem kleinen Dorf stand : leer. Von Staub war jedoch nichts zu sehen, nur vereinzelt schimmelten kleine Flecke durch das Holz. Vor den großen und nicht eingefassten Windaugen befanden sich kleine Altane angebaut, wie zur Zier, um Blumen sprechen zu lassen. Da sah ich Rosen, Veilchen und Lilien zum Himmel grüßen, weil diese fünfblättrigen Pflanzen zum Weinstock passten, der sich an den Stelzen nach oben wand, ganz jung, wie junger Wein – und in einem Pentagramm auslief. Vor mir lag der Durchgang zur anderen Seite. Der Gedanke, nun doch einen Spiegel zu betreten, der Gedanke, in den heiligen Hain zu Dodona einzudringen, in die Höhle des Trophonius, riß mich sogleich in den Malstrom der Visionen und dumpfen Stimmen. Wie ist das Wort wild, wie ist die Beschaffenheit meiner Reise außergewöhnlich, wo kommt mein Leben her, wo noch bin ich am Leben, während ich hier stehe und grüble, mich vergrüble, vergrabe im Gang meines Weges?

Über der Tür prangte ein hölzernes Schild, auf dem die verschiedenen Mondphasen dargestellt waren, beginnend mit der Sichel, die wie eine Schale oder ein Schiff gemacht war. Der Mond stand als Symbol des weiblichen Elements in der Welt, als der Schoß, der alles Irdische gebärt; als nach oben offener Bogen, eine Vertiefung, ein Tal, eine Höhle im Boden, aus der alles Lebendige entspringt, aus der die Gestalt des Lebens steigt. Daneben angedeutet das Gefäß des Bades, der mannhohe Becher, gefüllt mit einer rätselhaften Flüssigkeit, ein Teich mit seinen Ufern, die Lebensflüssigkeit, die Zahl 28 aufgraviert. Zum Abschluss der Szene wurde der Mond voll und in silberner Farbe vorgestellt.

Ich nahm das Schild von seinem Fleck, schritt mit ihm durch die Tür und legte es auf die Balustrade auf der anderen Seite. Zäher Nebel war auf diesen Wegen unterwegs, der Spiegel, ja, die Spiegelfläche, dahinter jedoch dicke und obszön verschlungene Bäume. Unten, wo die Ufer des einstigen Flusses einen wuchernden Wall bildeten, mäanderte das übersatte und dickblättrige Grün, als läge Honig über den Hängen und nicht der Tau, ein Wald, den man sich nur in seiner Phantasie erschaffen konnte, den es in dieser Sattheit nirgends sonst gab. Dann brandete das Heulen heran und überschlug sich, brach sich an jedweden Hindernissen und versetzte das schleimige und brachiale Grün in Schwingung. In den Baumkronen rauschte der Widerhall, aus einer Urkehle gespuckt, ein Magmaregen in Tönen, Geräusche-Räusche. Die Atmosphäre wandelte sich schlagartig, zu den sich windenden Selenotropien, Ysopen und Ölbäumen, die vor Saft zu bersten schienen, gesellte sich nun eine fremdartige Fauna, die vorher nicht von mir bemerkt wurde. Mutterschweine, Hirschkühe und Ziegen brachen aus dem Dickicht, aufgepeitscht von diesem tiefen Sirenenbass, der die Erde zum kochen brachte. Hundsköpfige Affen und Panther, deren Augen die Mondsichel zeigten, liefen dem Heulen voran, die Erde quoll auf und brachte Mäuse aus der Fäulnis hervor. Ich stürzte zurück in das Innere des Hauses und schloss die Tür keinen Deut zu früh. Das Mondschild plazierte ich wie ein Sigill davor und wich noch etwas weiter zurück, als auch schon eine starke Kraft gegen die Tür krachte. Ein bestialischer Gestank tobte zu mir herein.

»Ich will nicht, dass du hereinkommst!«, rief ich gegen die Tür. Und was auch immer davor wütete, konnte das Schild, das wie eine Gemme zwischen mir und ihr lag, nicht passieren. Doch das Wesen war so voller Zorn, dass es mit einer behaarten Klaue einen Spalt schuf und herein griff, und so verlor es seinen Arm. Ein Schnitt von unsichtbaren Quellen trennte ihn ab, aber es gab augenblicklich kein Geheul mehr von sich. Stille. Auf dem Boden vor mir lag der graue und bereits zu Stein gewordene Vorderlauf eines Wolfes von unglaublichen Ausmaßen.

»Entschuldige meinen einstigen Liebhaber, aber wie hätte er auch anders reagieren sollen? In ihm steckt die Eifersucht des wilden Mannes.«

Die Stimme war hinter mir erklungen und löste die Erstarrung von meiner Haut. Ich drehte mich, gewohnt, den Stimmen zu begegnen, herum.

»Ich bin Anna, die Fliegenpilzin, und Ihr seht aus, als wäret Ihr etwas aus der Fasson geraten.«

Mit kindlicher Grazie machte Anna große runde Augen, es sollte Unschuld symbolisieren, doch dahinter lauerte eine nicht unbedeutende Gefahr, die mich körperlich anging. Gekleidet war sie wie ein Rotkäppchen, ihr Alter war überdies schwer zu schätzen. Ihr eigen schienen sämtliche Zeitalter zu sein.

»Auf mich ist ein Alter nicht anwendbar«, reagierte sie auf mein Staunen. »Ich bin ganz und gar Erscheinung, bin pubertierende Prinzessin und weise Greisin gleichermaßen.« Es folgte ihren Worten eine wegwerfende Handbewegung. »Ihr seht, was Ihr sehen wollt. So verhält es sich mit allem hier. Eure Phantasie überrascht mich indes nicht eben wenig, und so bin ich natürlich aufs Erfreulichste neugierig, was Ihr mit mir anzustellen gedenkt.«

Was ich nicht denken kann, das gibt es nicht, was ich nicht hören kann, das klingt auch nicht. Das Mysterium der Begierde im Blut, das in Wallung gerät.

Die Liebe sei blind, so sagt man, aber die Liebenden sind es nicht, und sollten sie es sein, so erkennen sie sich am Geruch oder am Klang ihrer Worte. Eichendorff sang: Es steckt ein Lied in allen Dingen.

Das ist ein schöner Satz, auch wenn der Dichter vergessen hat zu sagen, dass nur die Liebenden dieses Lied auch hören und schmecken können. Das Universum strebt nach Vollendung, die Evolution des Menschen ist ebenso wenig abgeschlossen wie die Ausdehnung des Kosmos. Anders ausgedrückt : es scheint eine Zukunft zu geben, wenn man an die Zeit glaubt, die dem menschlichen Verstand eine Krücke ist, damit er durch das Leben zu navigieren weiß. Hier jedoch war alle Zeit verloren, oder: alle Zeit war aequalis und mündete in einen einzigen unwahrscheinlichen Moment. Was immer ich durch meine Wanderschaft angelockt habe, sucht mich zu finden und nimmt Gestalten an, die ich in mir selbst nur als Schatten erkenne. Nicht die Brücke über den Fluss ohne Wasser ist das Tor, kein Ort und keine Bewegung in der Welt bedarf meiner Schritte, das Unmögliche wird nicht gedacht, sondern erlebt.

Anna im roten Kleide, die nackten Füße in feinen Sandalen, ihr Lächeln schwamm über das Himmelszelt hinweg, ein Lächeln war es, das man in vielen Breiten, unter vielen Sonnen vergeblich suchen wird. Also kostete ich Amanita, als wäre ich gefangen. Nicht durch die Begrenzung einer Zelle, nicht durch den Zwang der Gesten, sondern durch ein Labyrinth der Möglichkeiten, in dem man, ist man in eine Sackgasse geraten, nicht den selben Weg zurück finden wird, um etwa an einem liegengelassenen und verworfenen Pfad neu ansetzen zu können. Es wäre dieser bereits ein anderer, alles im Zwielicht, ein übriggebliebener, nicht entladener Donner am Himmel. Versprengte Menschengruppen taumelten mir entgegen und tändelten vorüber.

Sie liefen davon vor einem Jahrmarkt, der hinter ihnen mit seinen Ketten rasselte. Aus allen Richtungen kamen sie, sie kamen aus den Straßen, liefen auf den Straßen, kamen aus den Gassen, liefen auf den Gassen, gingen über Brücken, walzten über Wiesen, die aus Staub bestanden, und sie eilten auf die knöchernen Busse zu, die auf den Pisten brüllen, vollbesetzt; doch man sah sie nirgendwo halten. Das wilde Morsen der Schritte von nah, von fern, das Murmeln stummer Münder gemahnte mich daran, augenblicklich von hier zu verschwinden. Die Stadt war nahe, das Unmögliche geschafft.

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