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Kleewald Robinson

Last updated on 20. Juli 2024

In der Staraba, einer Bar am Rande der Stadt, die bekannt war für ihre zwielichtigen Dienstleistungen – sogar eine Wochenzeitung gab man heraus, die gespickt war mit Kleinanzeigen, die ein Normalsterblicher nie hätte entziffern können – saßen Mention Handsome, der seine Frau umbringen lassen wollte und Carl Canal, der Chefredakteur besagter Wochenzeitung 23 Minuten vor der Sperrstunde am Tisch mit der Nummer 7. Die Zeitangabe ist nicht so wichtig, man sehe es mir als eine Marotte nach, die Tischnummer allerdings, die sollten Sie sich merken.
“Wenn du die Sache perfekt erledigt wissen willst, gibt es nur einen, den ich empfehlen kann: Kleewald Robinson”, sagte Carl.
“Du weißt, dass ich so gut wie keine Erfahrung im Umgang mit … dieser Sache habe. Ich werde dir vertrauen müssen, auch wenn es mir nicht schmeckt.” Mention Handsome, der gerne etwas getrunken hätte, aber kein Geld bei sich hatte, was er für die Zukunft zu ändern gedachte, befummelte die Tischplatte. Seine Finger hinterließen einen schmierigen Film auf dem Polymer.
“Kleewald Robinson ist der, den du brauchst. Schlag ein oder lass es.”
“Erzähl mir was über ihn.”
“Hm. Das wird schwierig sein am Telefon.”
“Telefon? Was für ein Telefon?”
“Sagen wir so: ich fühle mich in deiner Gegenwart immer wie am Telefon. Und da rede ich nunmal nicht gern. Aber ich kann dich hinbringen. Vielleicht erzähle ich dir unterwegs, was ich weiß. Ich hol’ dich in einer Viertelstunde ab. Ich leg’ jetzt auf.”
“Sag mal, Carl … übertreibst du das mit dem Telefon-Gefühl nicht etwas?”

“Es gibt da eine Sache”, Carl lenkt aus der kleinen Gasse mit dem zweiflügligen Eingangstor auf die Flingerstraße, gleich werden sie vor einem pittoresken Gebäude stehen, das zu bestaunen ist, wenn man sich das Bestaunen für diesen Tag vorgenommen hat, Nachbarschaft absent, Heckenbekränzt, ein Lebkuchenhaus selbstverständlich oder ein Schloss en miniature, mit einem Holzbalkon zur Straße hin, auf dem abgedeckte Moch-Figuren stehen. Folgt man der vorbeiführenden Straße, fällt man von der Erdscheibe, niemand weiß, was das für ein Ort ist, an dem man landen wird, ein Nicht-Ort vermuten die verbliebenen 23 Einwohner, aber ‘Childhood’s End’ ist auch nicht gerade ohne, schwarze Rosen, die nach phytophagen Insektenkot müffeln, “stell bitte keine Fragen, wenn wir dort sind. Es wird dir etwas seltsam vorkommen – lieber Gott! sogar mir kommt es jedes einzelne verdammte Mal seltsam vor.” Die dramaturgische Hinrichtung seiner Gedanken. “Wir werden mit einer Frau verhandeln, du wirst ihr nicht widersprechen und wenn sie etwas wissen will, sagst du es ihr ohne zu zögern, egal, was es ist.”
Mention mustert Carl, der seine Nervosität auf das Gefährt überträgt, wie er mit behandschuhten Händen auf das Lenkrad trommelt, den Motor überdreht. Warum ist das so eine große Sache? Wird nicht alle 48 Sekunden eine Ehefrau ins Westjordanland geschickt – oder wie war die Stoßrichtung? Theoretisch könnte man in einen Park schlendern und
“Suchst du einen Job?”
eine rhetorische Frage an die Maskierten auf den Bänken mit den gefärbten Koteletten stellen, Carl hat auch dort sein Personal, regelmäßig tauchen Spezifikationen in den Kleinanzeigen der Staraba auf, man kann eine Entführung nicht von einem Taschendieb ausführen lassen, ein Hochleistungsunternehmen muss sein Profil geschärft halten. Wenn es sich machen lässt, muss jeder Schatten, ob nun Halbschatten oder Umbra, seine Qualitäten offenbaren.
“Hör auf, so laut zu denken, Kleewald Robinson ist der Richtige!”
Da ist er sich nicht mehr sicher, warum wachsen hier keine … sagen wir, er vermisst eine Pseudolandschaft, einen bepflanzten Kreisverkehr, wunderbar prunkte die Falle, dass alle unsterblichen Götter, alle sterblichen Menschen betroffen staunten beim Anblick. Sproßten doch dort gleich hundert Blütenköpfchen aus einer Wurzel; lieblichste Düfte erfüllten das lachende Weltall, droben den breiten Himmel, die Erde, die schwellende Salzflut – hier ist alles in Ordnung. Schau, wie die Vögel die Abgase vertragen, es findet sich immer nochetwas, das man zum blühen zwingen kann.
“Ich wusste gar nicht, dass es so eine scheußliche Gegend in der Nähe überhaupt gibt.” Kleewald Robinson. Katharina. Jetzt tut es ihm leid, damit angefangen zu haben. Im Grunde sind wir nicht geeignet für eine wie auch immer geartete Wahrheit. Wir sind auf der Welt allein, aber wir sind es nicht in uns.
Als er sie zum ersten mal traf, stand für ihn fest, dass sich die Welt in Geschichte verwandelt haben musste. Sie war die Beobachterin seiner Gesten und Bewegungen, seiner Stolpertiraden. Ohne ihre Blicke gab es ihn schlicht nicht mehr. Er war Schrödingers Katze und sie hatte die Truhe geöffnet und sich versichert, dass die Katze am Leben ist, die Phiole mit dem Gift nicht zerbrochen. Er ist jetzt ihr Pussytierchen, hat sie nicht sein Leben gerettet, sein Leben überhaupt erst ermöglicht durch ihre Bräutigam-Wahl, wie es Beltane will, im Mai?
“Wenn du mich heiratest, wird es dir gut gehen (und du wirst lange leben auf Erden).”
Aber er wollte nicht, erfand ständig neue Ausreden, hatte nicht gerade viel vorzuweisen, keine Geschäfte in Balnibarbi oder Luggnagg (manchmal schlief er unter einer Brücke oder auf einer Baustelle, wenn er einen wichtigen Termin vorgetäuscht hatte). Sie füllte ihn mit Wein und feudalem Essen. Es gab Hummer, Lotte, Erbsensuppe, Atterochse und wilden Saibling, alles mit viel Butter, das Fleisch von Fett durchzogen, Scampi und Taube, es gab Hüftsteak und Seezunge. Und er nahm zu. Zwei Fernsehapparate liefen gleichzeitig mit dem Radio um die Wette, dazu jodelte sie

Holla-re-dü-rü
Jo holleradi-adi-jö
…. gewonnen haben, aber … sweets for my … (jö-hü) … sweet, sugar for my … sagt auch einiges aus, wie wir … honey … und dann die Beute … jo holdri poltri duä … gefügig … schleimig ist, bäh, ab ins Bett … wurde in vielen Ecken neues … juhu

Als er etwa zehn Kilo zugenommen hatte, musste sie ihm neue Kleider kaufen, von da an hatte sie ihn als sein Eigentum stigmatisiert. “Ich glaube dir jetzt, dass du es nicht auf mein Geld abgesehen hast, Bello. Und ich nehme deinen Antrag an”, sagte sie und er erwiderte nichts, seine Nerven unpässlich. Bello. Die Wahrheit war: er konnte sie von Anfang an nicht leiden, mit ihrer Kegelfigur und dem konkaven Gesicht, aber sie hatte eine aussgekräftige Schleimspur ausgelegt, erwischte ihn in einer Phase der Antriebsschwäche und versah seine Planlosigkeit mit ihren Skizzen. Dabei hatte sie jedoch übersehen, oder es vielleicht nicht für möglich gehalten, dass er nichts anderes tat, als sich zu überlegen, wie er ohne einen Finger zu krümmen zu einer Menge Geld kommen könnte. Als Gigolo hätte er sich durchaus verdungen, auch wenn das Wort nicht zu seinem Gesicht passte, aber bei Katharina war er nicht Pimp sondern Lutschdrops.
“Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems.”
“Was?”
“Hier ist es reichlich düster – und was sind das für ekelhafte schwarze Rosen?”

*

Vor dem Laden mit dem im Grunde zerfetzten Schild, auf dem ‘Lydias Feinkost’ steht, winkt die kleine Katharina den durchfahrenden Panzermerikanern hinterher. Sie verteilen angeblich Kaugummi und irgendein anderes klebriges Zeug, mit dem man sich den Magen verderben kann. Michaela ist mit Minna noch im Laden und sie werden natürlich nicht bedient. Lydia ist auf eine bittere Weise fassungslos, denn erstens hat sie niemals in ihrem Leben bei einem Mädchen in diesem Alter so riesengroße Brüste gesehen und zweitens begreift sie nicht, warum sie so schamlos aus dem Kleid springen, zumindest können diese Mädchen sich ihr Angelzeug woanders besorgen, Handel ist ein Akt der Fairness. Wie eine Kuh angewalzt kommen in dieser schwierigen Zeit – wir erröten alle stellvertretend und nur Zigeuner erröten nicht, denn sie …
atmen mit der flachen Hand zwei Zentimeter unterhalb des Nabels tief ein und stellen sich vor, wie der Atem langsam bis hinunter zu Ihrer Hand fließt und schließlich Ihre Hand hochatmet, dann stellen Sie sich vor, wie der Atem wieder über den Brustraum zurück über die Nase nach außen entweicht, und konzentrieren sich darauf, wie die Hand wieder nach unten sinkt …
Aber wenn jetzt alles voller Zigeuner ist, sie hier jetzt ein Schatra bilden und das Gör hier die Bulibasha sein will –
“Ich kenne deine Mutter! Weiß sie, wie du hier herumläufst?” Die Augen geradeaus, in die Augen Minnas, festhalten die Iris oder was da glotzt, sie wird sich gleich empören, sie wird jetzt gleich trotzig werden, das Schmuddelkind, und sag einmal “schämst du dich nicht?” Aber Minna stemmt die Fäuste in die Leiste, wirft den Kopf leicht schief, spricht mit ganzem Ausdruck, aber was sie sagt, das ist doch Mitleid, das ist doch nicht zu fassen, das ist doch “Meine Mutter kennt Sie auch, aber sie kauft nicht bei Ihnen ein, sie ist anders wie ich, sammelt Trümmer ein und klebt sie wieder zusammen, von mir aus kann alles verrecken”, dann nickt sie mit schiefem Kopf, die Lider zucken eine Mikrosekunde lang in die Höhe, sagt noch einmal ‘verrecken’.
“Aber vielleicht gehen Sie nach hinten und rollen Ihren Krüppel herein, vielleicht hat der ja Lust, mich zu bedienen.” Minna steht da wie eine Räubertochter und tatsächlich, sehen Sie doch – zuckt Lydia zusammen, ihren kriegsversehrten Ehemann einen Krüppel zu nennen, ihre blanken Titten mitten im Laden hin und her wippen zu lassen wie eine Drohung (oh ja, Minna ist zur Drohung entschlossen) und keine Polizei, die diesen Unruheherd mit dem Gesicht in den Boden rammt, in den Keller eines Erziehungsheims verfrachtet, damit sie nachdenken kann, damit sie dort etwas über Zucht und Ordnung lernt und wo ihr angestammter Platz ist, was ist nur geworden, diese Krankheit muss doch schon wie eine Flagelle darauf gewartet haben, bis die Not am größten ist …
“Draußen kommen Leute”, sagt Michaela. Niemand kommt rein, alle spechten durch das Türfenster, die Handtaschen an den Leib gepresst. Das ist etwas Neues, ist nicht mehr einzudämmen, irgendwie unheimlich. Katharina fühlt sich an diesem Tag nicht besonders gut, scharrt mit den Füssen im Staub herum, würde verleugnet haben, dazuzugehören. Mythos und Traum, Phänomene an der Grenze von Erinnerung und Vergessen, Verdrängen und Wiederkehr des Verdrängten. Jetzt steigt sie endlich aus dem lauwarmen Wasser mit dem eingefallenen Schaum, der seinen Lavendelkörper auf Rosmarin-Apfel trotzdem nicht zurückhält.
Sie war natürlich zu Geld gekommen und heiratete Mention, der ihr am ungefährlichsten schien in einer sozialen Umgebung, die sie nicht einschätzen konnte. Alles läuft aus dem Ruder und wieder zurück. Was wurde aus Minna? Sie erinnert sich nicht, nicht jetzt, die Konturen verblassen, alles so weit fort, irgendjemand steht in ihrem Flur. Meine Güte, wie da die Bilder wechseln. Sie hatte in grün geheiratet, mit einer Pfauenfeder statt eines Blumenstraußes, Mention in Hellgrau, blass wie eine Wand, mit dem Gefühl, übertölpelt worden zu sein, hin- und hergerissen zwischen dem bequemen Leben, das ihnen die Käseecken-Firma versprach, die täglich mit den Abfällen der Molkerei gefüttert und zu einem Oleomargarinekäse emulgiert hoch im Kurs stand, vererbt von ihrem Vater unter der Voraussetzung, zu heiraten, was sie tat, denn sie wollte nicht länger die Durchzugsschachteln verpackungsbereit machen. Nichts bist du, was ich dir nicht gebe. Da hätte sie sich ein Stück Minna in ihrem Bregen gewünscht, gemeinsam in der Wurzelbrühe fest werden.
Das Marketing nannte die Triangeln Farmer-Käse, weil ihnen die Bezeichnung ‘Schmierkäse’ zu vulgär und schweißig rüberkam, Anklänge von Filzpantoffeln und Arbeitsstiefeln schwangen da im Wortklang, ihr Bruder war sogar der Meinung, Schmierkäse nenne man die Ablagerung unter der Vorhaut, und Nillenkäse schmiert sich nun keiner, auch nicht in extraordinären Zeiten, aufs Brot zu seiner Leberwurst. Farmer-Käse aber ist Farbenrauschen, vor allem Stimmung. Es erklingt die Erdgebundenheit, die Schwingung einer ehrlich verdienten Brotzeit. Der Erdwirtschafter im Saft der Erde, der Hahn gockelt, das Bett wird verlassen und die Pflicht im Angesicht des pulsierenden Helios, der die Proton-Proton-Kette schmiedet, zur Zufriedenheit der Feldfrüchte, Bastrüben, Triticale angegangen. Diese Lust am Pflug – und dann der Appetit, der aus dem limbischen System nach oben steigt (auch wenn es sich bei diesem Verlangen, das den Käse im Visier hat, um Pikazismus handeln muss), diese Lust am Vereinnahmen und Ausscheiden, am Säen und am Düngen, oh Natur, oh Leben.

Euter in Potentia

In diesem Augenblick hat sie keinen blassen Schimmer, was ihr mehr Furcht einflößt. Dass da einer ist, der da nicht hingehört oder dass sie in diesem Aufzug ihr selbst oft genug fremder Nacktheit gesehen werden könnte. Sie hat ihr Gefäß ertragen gelernt, wie man lernt, das Altern zu ertragen, dieses sinnlose Gespenst, das durch das Ineinanderschlingen von Zeit und Materie entsteht, die Prädatoren um sich. Sie hat nichts übrig für eine betonte Lässigkeit, mit der etwa ihre Freundin Abelina breitbeinig auf der Nudistenwiese herumliegt und Träumen nachhängt, die dann in ihrem Busch spiegelnd verkehren, Träume von unerlaubten Handlungen, Stieren, Pferden, Hunden, Schlangen, Früchten und Gemüsen. Katharina treibt es über der Unterhose, manchmal auch nur durch den Hosenschlitz. Sie fragt “Hilfe?”, obwohl das natürlich seltsam klingt, ans Kreischen denkt sie nicht einmal. Es gelingt ihr, das Handtuch so hinzuknoten, dass sie sich zwar immer noch albern, aber nicht mehr unansehnlich albern vorkommt. Gerade in dieser außergewöhnlichen Situation wünscht sie sich ein Abendkleid an den Leib, ohne Dekolleté, respektvoll, diese Macht, die man in Kleidern verspürt, die Mode, die der Natur eins auswischt.
Kleewald hört ihr Erstarren förmlich. Der Auftrag ist leicht, so eine Matrone wird in erster Linie verblüfft sein, wenn er mit dem Spiel beginnt, wenn er in dieser weinroten Robe mit Posamentenschließen vor sie tritt. Aber zunächst will er warten, was sie tut, ob sie es tatsächlich wagt, aus dem Badezimmer zu kommen. Die Wohnung ist geräumig, ein richtiger Buchtel-Bungalow, er könnte sich sogar verstecken, falls sie sich mit einer Schere oder einer Haarnadel dem Unbekannten zu stellen beabsichtigt. Auf den ersten Blick mag es unklug erscheinen, dass er die Aufmerksamkeit bereits auf sich gezogen hat, aber das gehört zum Spiel, zum Nektar seiner Schaffenskraft, Tau, der nicht vom Himmel fällt, sondern sich aus den Poren wirtschaftet. Die Hyperhidrose löst Hunger in ihm aus, ein merkwürdiges Besäufnis sind diese Aufträge, bei denen es ihm überhaupt nicht um Geld geht, auch wenn die Entlohnung nichts zu beklagen übrig lässt. Von Geld hat er kaum eine Vorstellung, damit konnte man sich die Dinge nur kaufen, das machte sie völlig bedeutungslos. Aber Schweiß, in einem Sunkist-Tetrapak-Dreieck, in den Geschmacksrichtungen angor und timor, dazu Amygdala-Nüsschen auf einem Tablett der Bienenkorbmarke … Kleewald liebte es, in die Welt der Erwachsenen einzubrechen, um sie mit ihrer Überraschung zu strangulieren. Nie fragte er nach dem Grund, denn ebensowenig wie Geld interessieren ihn die Beweggründe seiner Auftraggeber. Ihm kommt es darauf an, es auf seine Weise tun zu dürfen.
Vor 50 Jahren, sagt sie sich (wir sprechen hier immerhin von einem halben Jahrhundert), war sie unter den jüngsten Vögeln der jüngste. Vor 50 Jahren waren sie in den Dörfern in der Überzahl, hatten Amazonen-Banden gegründet, mit schauerlichen Mutproben, die man je nach Ansturm modifizierte. Minna Berger, die im Krieg gleich beide Familien verloren hatte, nannte sich Maroula und war die älteste von ihnen, ihre Brüste, unterschiedlich gross, ließ sie sich am Legerfeuer mit Asche tätowieren. Da wir alle da oben rum gar nichts hatten, entkamen wir dieser Enteignung unserer Euter in Potentia. Marlene musste ihr, nachdem sie alle vom Speierlingmost besoffen auf der kalten Trümmererde lagen, eine Blüte mit sechs Blättern gravieren, die sich leicht überlappen. Sie stöhnte bei jedem Stich, als ginge es um ihre Haut, Minna sass mit ihren ausgepackten Glocken und glasigen Augen einfach nur da und machte keinen Mucks. Nachdem sie dem ersten Spötter ihrer Barbusigkeit den Unterkiefer entzahnt und mehrmals gebrochen hatte (zugegeben, sie tat es mit einem Stein, aber trotzdem), wollte auch der ein oder andere der spärlich gestreuten Jungs aufgenommen werden, der Männlichkeitsanspruch der gedemütigten Männer, der Krüppel und Hungerleider auf Führung, schien fürs erste gedeckt gewesen zu sein. Zunächst wurden auch die noch verdroschen und nach Hause geschickt, oder zumindest dahin, wo einmal ein Haus stand, dann aber änderte sich die Strategie der Bande, man konnte sich die jungen Burschen ja durchaus zu Sklaven ziehen. Und sie taten wirklich alles, um dabei zu sein. Für eine kurze Spanne hatte die trinitäre Juno alles unter Kontrolle.

*

Den Einhebelmischer bedient sie mit den Füßen, oben liest sie nur. Dann verbrüht sie sich den linken Hallux Valgus am Metall der heißen Zuleitung, Dampf quallt durch das kleine Badezimmer, vernichtet die Spiegelung des Spiegels, der Fön … (sie stellt sich vor, wie der Fön im Wasser einschlägt und wie es sich dann anfühlen müsste, wenn ihr Herz auf 2000 Umdrehungen pro Minute beschleunigt und die Nieren bereits im Körper gar werden, aber wahrscheinlich gäbe es nur einen Knall und die Sicherung würde überschnappen). Aber sie schielt ihn an, fasziniert von der Vorstellung, dass alles so schnell gehen könnte. Dann wirft sie ihre Gedanken wieder in das Buch (das deswegen nicht gleich aufweicht), zumindest in die Geschichte und reguliert noch etwas am Wasser herum.
Sie hört etwas, was genau, das kann sie nicht sagen, es deckt sich auf wundersame Weise mit den Zeilen, die sie liest. Chandler hat sie längst durch, die Gossensprache mochte sie zu dieser Zeit, jede Zeile roch nach männlichem Schweiß. Sie wurde beim Lesen regelrecht geil – und auch später, wenn sie nur an Marlowe dachte. Da hatte sie ihre ersten Vergewaltigungsfantasien, drei Wochen bevor sie wirklich vergewaltigt wurde und außer einem Dammriss und einem Veilchen, den sie sich zugezogen, die Liebe zu den Hard Boilds verlor. Sam Spade hatte sie nie begonnen, im Augenblick war Wilkie Collins ihr Augenstern. Das Geräusch vernimmt sie erneut, und diesmal, obwohl die Zeile des Geräuschs längst in der Vergangenheit gelesener Seiten vegetiert.
“Hallo?”
Ja. Hallo. Immer die gleiche Leier. Nur: Ist da jemand? ist schlimmer. Man lässt diesem Jemand, der nicht da ist, keine Chance, diese Frage ordnungsgemäß zu beantworten. Jemand, der nicht da ist, wird nie Nein sagen und Jemand, der da ist und Nein sagt, lügt. Was aber ist, wenn jemand Ja sagt und zwar: Ja, aber Sie kennen mich noch nicht? Das wäre ausgesprochen dumm, wo sie gerade in der Wanne liegt. Sie könnte diesem Jemand kaum anbieten, sich in die Küche zu begeben und schonmal einen Kaffee zu machen, sie komme gleich, weil der die Küche ja noch gar nicht kennte. Die fände er – freilich – aber den Kaffee zwischen all diesen Dosen, randvoll mit Tees aus China?
“Ist da jemand?” fragt sie dann, irgendwie aus Trotz, doch.
“Nein!” sagt jemand und sie saust nach oben, das Buch plumpst ins Wasser und scheitert mit seinen Versuchen, sich über Wasser zu halten. Den Griff zum Handtuch verliert sie zum Ersten wegen der zitternden Finger, zum Zweiten wegen diesem komischen Winkel, denn sie sitzt noch, erhebt sich und steht schon – und das gleichzeitig, eiskaltes Blut in den Adern (um etwas Wilkie Collins beizumengen), der bisschen Körperflaum reckt sich tastend in den wabernden Nebel hinein. Sie hat einen Lügner im Haus.

*

Die Axt saust wie eine frische Sommerbrise von oben herab und spaltet Katharinas Kopf wie eine Wassermelone. Geräusche sind sonderbar, für manche lassen sich keine Worte finden – aber dieses lässt sich mit einem umgestoßenen Teller Suppe beschreiben. Rinderbrühe mit Brocken, die aus Einszwanzig auf den Boden platscht. Axtmorden ist anstrengend. Die Axtschneide muß leicht und tief in den Körper eindringen. Deshalb ist Kleewalds Axtkopf poliert. Der aus dem Hartholz Hickory bestehende Stiel ist ergonomisch geformt, damit die Schlagkraft in den Kopf geht – was er ja jetzt gerade vorgeführt hat. Die Schneide stoppt nicht vor dem Brustbein, drei Zähne poltern in die metaphernbeladene Suppe und eine Fontäne spritzt nach oben, so als ob ein Wal Blut prusten würde. Die Melone klappt links und rechts zur Seite, grauer Schleim verliert sich in der Szenerie … ja, Freunde, damit denken wir. Kein Wunder, dass nichts dabei rum kommt!

*

Als es einmal nicht so gut lief mit dem Käseersatz, bastelte die Marketingabteilung an einem Farmer-Toast, der in der Mikrowelle das Popcorn als Kultblaupause ersetzen sollte. Die Käsemasse schmolz nicht in herkömmlichen Ofen, wurde dort nur braun, dann schwarz, und bröselte auf das Backblech. In einer Mikrowelle schmolz der Käse durch die Toast-Poren, übrig blieb ein Fluid ohne Kruste, das den Toast in einen Schwamm verwandelte. Dann aber brachte die Firma Whirlpool ein Gerät mit neuer Funktion auf den Markt. Mittels doppelter Mikrowellen-Einspeisung, spezieller Crisp-Platte und einem Quartz-Grill gelangen in der Mikrowelle knusprige Leckereien, und der Farmer-Toast gehörte fortan zu den Klassikern der modernen Küche. Mit all diesen Erfolgen hatte Mention jedoch wenig zu tun, er vervollkommnete nur das Unternehmer-Profil einer intakten Familie, spielte den Farmer in Gummistiefeln und Mütze, der neben einem Fendt Dieselross stand und seitwärts in ein Brötchen biss, auf dem der hauseigene Käse wie ein Ungeheuer schwärte. Traktor Nummer eins verunglückte während der Überführung. Er sollte einen Tag vor dem Fototermin ankommen und herausgeputzt werden, ‘Handsomes Farmer-Toast’ sollte auf die Schnauze gepinselt werden, aber der fünfzehnjährige Hannes Markwart polterte mit dem Vorkriegsmodell in einen Graben, aus dem er nicht mehr erwachte. Traktor Nummer zwei wurde erst gegen Abend aktiviert, als er dann dastand, stellte sich heraus, dass es sich um einen Farmer Fix handelte. Voller Entsetzen wurde es 20 Uhr.
“Den können wir doch nehmen”, sagte Mention. Wer kennt sich auch schon mit Traktoren aus? Die Crew wurde unruhig, die Anstreicher verloren die Konzentration und saßen gelangweilt im Schuppen, Chesna Briggs, Leiterin der Marketingabteilung, außerdem gelernte Kanadierin hatte, da stand sie Katharina in nichts nach, ‘aufgeben’ nicht in ihrem Repertoire. Es ging gar nicht um den armen Farmer Fix, als um die Idee, das Ideal eines Plans – und der sah nun einmal diesen Bauernschlepper vor … aber wer kennt die Teile, nennt ihre Namen, bis alles sich zum Schlepper fügt? Nach immer wieder überdachten und überarbeiteten Plänen wachsen die Organe deines Schleppers, lieber Freund, aus dem toten Stoff in sinnvoller Arbeit heran. Fendt Dieselross: Das beste Pferd in deinem Stall.
“Den können wir nicht nehmen! Bist du auf deine Rolle vorbereitet, Mention?” Chesna telefoniert, Katharina trainiert.
“Na … ich beiße in die Semmel -“
“Falsch. Schon falsch! Du beißt voller Wonne in das Brötchen, aber erst, nachdem du bereits zweimal abgebissen hast …”
“Und die ersten beiden Male …”
“Für die Katz! Die kannst du ausspucken. Es dreht sich alles um ein Brötchen, dass schon zur Hälfte gegessen ist. Wir überraschen dich mitten in deiner Pause, sehen dir zu, wie du Ambrosia zu dir nimmst, wie du dir Kraft zuführst, damit du deinem harten Tagewerk auch weiter begegnen kannst. Du stehst neben deinem Dieselross, es freut sich mit dir, wie du da …”
“Katharina!” Chesna aus dem Bürofenster.
“Was ist denn?” Sichtlich verärgert, während ihrer Regieanweisungen gestört zu werden.
“Der dritte Traktor …”
“Was ist mit dem dritten Traktor?”
“Der hat sich verfahren …”

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