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Der Tod des Sardanapal

Last updated on 28. Juli 2024

Das verabscheuungswürdige Gemälde über den Tod des Sardanapal, das heute im Louvre zu sehen ist, hat Eugéne Delacroix für eine Ausstellung im Jahre 1827 gemalt. Er hatte dabei nicht bedacht, dass jedes Gemälde auch die Gefahr des Einfrierens eines gewissen Augenblicks birgt, eines rätselhaften Momentes, der die gewesenen Dinge verstärkt und die zukünftigen erfindet.

Sardanapal liegt gleichmütig auf einem breiten Bett und betrachtet teilnahmslos, wie in seinem Gemach sämtliche Frauen von Dienern abgeschlachtet werden. Auch sein Araberpferd ist wie eine Frau mit Geschmeide und Perlen geschmückt und findet den Tod. Ein Diener hat das Messer tief in die Brust des Tieres gestoßen. Alles in allem werden hier die Vorbereitungen für den Freitod getroffen, denn der Feind (der soldatische Arbaces, dem sich alle Verräter der Stadt bereits angeschlossen haben) dringt schon in die Stadt.

Ich erwähne das, weil die allgemeine Kunstkritik wie selbstverständlich davon ausgeht, es handle sich bei diesem Gemälde um eine Szene aus Byrons ‹Sardanapal›. Das ist jedoch nicht einzusehen, da sich in Byrons Tragödie der assyrische Herrscher mitsamt seinen Schätzen und mit Myrrha, einer ionischen Sklavin, an der sein Herz hängt, verbrennt. Von der Abschlachtung seiner Haremsfrauen ist darin nichts zu lesen.

Lange Jahre fand Delacroix für sein schockierendes Gemälde keinen Abnehmer, bis eines Tages im Jahre 1846 ein geheimnisvoller Käufer aus dem Nichts auftauchte. Dieser Herr bestand darauf, das Bildnis um jeden Preis zu erstehen, er selbst aber müsse vollständig anonym bleiben dürfen. Auf dem Blatt Papier, das ein Diener überbrachte, stand, dass der Überbringer sämtliche Befugnisse habe, die das Bildnis betreffe. Delacroix, der nicht umhin konnte, sein verschmähtes Werk nun endlich doch zu verkaufen, war allerdings nicht ganz einverstanden mit der Tatsache, rein gar nichts über den zukünftigen Besitzer in Erfahrung zu bringen und dachte bei sich, dass ein Mensch, der bereit ist, jeden Preis zu bezahlen, ebenso bereit sein müsse, andere Forderungen zu erfüllen.

Er gab dem Diener zu verstehen, dass er, Delacroix, ein derartiges Werk nicht in völlig unbekannte Hände geben könne. Der Grund sei dieser: Eingedenk der hohen gesellschaftlichen Welle und Kritik wäre es nicht undenkbar, dass man das Bild zu vernichten trachtete, und er, Delacroix, müsse sich in jedem Fall davon überzeugen können, dass er sich mit diesen Befürchtungen irre. Der Diener überbrachte die Nachricht, aber eine Antwort blieb aus. Delacroix war zur Hälfte amüsiert und zur Hälfte enttäuscht, denn er vermutete nun, dass er den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.

An einem der folgenden Abende besuchten den Maler der Klaviervirtuose Chopin und die Schriftstellerin George Sand. Die beiden fanden Delacroix derart verstört vor, dass sie zunächst nicht wussten, was sie unternehmen sollten. Chopin gab seine Sonate g-moll, die für Klavier und Violoncello gedacht war (wobei den Cellopart Franchomme niedergeschrieben hatte). Seine Finger lagen zu Beginn auf e, fis, gis, h und c, sein Gesicht war hager und blass wie immer. Der Maler indes, der die Musik Chopins sehr schätze, begann sich sichtlich zu entspannen, was nicht zuletzt daran lag, dass Frédéric ein Opus zum Besten gab, das ihn selbst sehr verunsicherte und das er in einem Moment rühmte, um es im nächsten doch wieder zu verwerfen.

George Sand, die später ein Buch herausgeben sollte, das die Gespräche zwischen den beiden unterschiedlichen Künstlern zum Inhalt hatte, verlor darin kein einziges Wort über jenen Abend. Sie erwähnte hingegen in ihren Tagebüchern, dass sie lange mit sich gerungen, dann aber entschieden habe, die Aufzeichnungen über die Konversation jenes Abends zu vernichten.

»Ich habe das Bild so gemalt, wie ich es beschrieben habe«, beteuerte Delacroix, »aber anders, als es jetzt ist. An Sardanapals oberer rechter Seite fehlt Myrrha, die ionische Sklavin. Und erzähle mir nicht, ich kenne meine Bilder nicht mehr.« George Sand schmauchte ihre Zigarre und notierte alles, was sie hörte. Und wenn nichts gesagt wurde, beschrieb sie das Schweigen.

»Warum hast du es auf diese Weise dargestellt? Das letzte Bild, dieses … Massaker von Chios zeigte schon eine ähnliche Szenerie.«

»Weil Myrrha es mir so beschrieb.«

George Sand hörte zu schreiben auf. »Du bist überspannt. Wie lange warst du nun nicht mehr im Salon?«

Eugéne erhob sich und ging im Zimmer auf und ab. »Das hat damit nichts zu tun. Glaubt ja nicht, dass ich derartiges erfinde. Ich bin kein Dichter!« Er warf George einen gequälten Seitenblick zu und streifte damit ihr amüsiertes Lächeln.

»Frédéric, spiel mir eine Phantasie, damit ich mich sammeln kann. Ich will versuchen, euch alles zu erklären.«

»Was wollen Sie von mir?« meinte Delacroix, hätte er die Dame gefragt. »Ich möchte nichts geringeres, als dass Sie mich retten« sei ihre Antwort gewesen.

Sie erzählte von Sardanapal und dass das Feuer eine Lüge sei. Feige wie ein Hund habe er sich mit Gift das Leben genommen, während er den ganzen Harem niedermetzeln ließ. Sie aber sei entkommen. Ihr Name sei Myrrha.

Delacroix hielt die Frau für vollkommen delir, bat sie aber dennoch herein. Er dachte zunächst, dass es sich um eine Fanatikerin handeln müsse, die sich in die Orientalistik verstiegen hatte, die er ja durchaus selbst zu schätzen wusste. Als sie sich schließlich in seinem Atelier gegenüber saßen, fragte er sie: »Wie könnte ich Ihnen behilflich sein? Was glauben Sie?«

Ohne lange zu warten, so als sei es eine bereits ausgedachte Antwort auf eine erwartete Frage, sagte sie: »Malen Sie den Tod des Sardanapal! Malen Sie ihn ohne Feuer und zeigen Sie, was wirklich geschah.«

»Und was geschah wirklich?«

»Nicht, dass wir uns missverstehen: Sardanapal fürchtete den Tod keineswegs. Er war für ihn nur ein endloser Schlaf. Die Sieger standen vor den Toren, jeder in der Stadt war bereits zum Verräter geworden. Niemand konnte und niemand wollte Widerstand leisten. Es schien, als wären ihm nur noch seine Frauen geblieben und einige seiner Diener, die ihm treuergeben waren. Auch wir hätten davonlaufen können, aber wir taten es nicht.«

»Und warum nicht?«

»Es wird wohl Gewohnheit gewesen sein. Und die meisten von uns hätten sowieso den Tod gefunden. Damals waren Frauen nicht so viel wert, wie es heute in eurer seltsamen Welt der Fall ist.«

Delacroix musste schallend lachen, und Myrrha zuckte zusammen. »Lassen Sie das nicht in der Öffentlichkeit verlauten. Ich fürchte, man wird mit Ihnen nicht einer Meinung sein« erwiderte der Maler vergnügt.

»Angenommen, ich würde das Bild malen. Was versprechen Sie sich davon? Soll ich nicht lieber Sie zeichnen?«

»Nein. Sie verstehen nicht. In dieser Nacht starben wir alle. Ich möchte noch einmal zurück in diese Zeit, in diesen Raum. Ich will, dass Sie mir meinen Körper in dieser Konstellation wiedererschaffen.«

»Mademoiselle, verzeihen Sie … aber ich glaube ganz und gar, Sie haben den Verstand verloren.« Er starrte sie an.

(Ich selbst übrigens bekam Kenntnis von dieser Unterhaltung durch eine handschriftliche Aufzeichnung, die ich in Paris bei einem Spaziergang zwischen Quai de la Tournelle und Quai Voltaire bei einem Bukinisten am Seineufer fand, als ich nach einem gänzlich anderen Manuskript Ausschau hielt. Es handelte sich um eine abgegriffene Broschur, und der Inhalt begann willkürlich und ungewohnt fahrig. Nirgendwo war ein Name verzeichnet. Dennoch war ich erstaunt, denn es schien das fehlende Puzzle der Gespräche zwischen Chopin und Delacroix zu sein, jenem Buch, das bei Michel Levy Fréres, Paris, in Erstauflage erschienen war. Ich gestattete mir diese Anschaffung zum sensationellen Preis von nicht mal einem Croissant. Und so erfuhr ich von dieser unglaublichen Geschichte.)

»Ein Getöse, als brächen alle Gewitter der Welt herein, war zu vernehmen. Die Mauern barsten an vielen Stellen gleichzeitig. Die Dienerschaft hatte bereits einen Scheiterhaufen errichtet. Denn von den Reichtümern im Palast, von den Leichen und den Ausschweifungen sollte nichts mehr übrigbleiben. Alle kostbaren Stoffe wurden aufgetürmt, mit Edelsteinen und goldenen Kelchen wurde die letzte Orgie gefeiert, trunkener Gesang mischte sich mit tausend Instrumenten. Die abgerichteten Löwen und Tiger, mit denen der Garten voll gewesen war, brüllten. Sie streiften nun durch den Palast und leisteten dem verbliebenen Hofstaat Gesellschaft, den Frauen und Günstlingen, den entehrten Priestern und Dienern.«

Mit weit aufgerissenen Augen erzählte Myrrha ihre Geschichte. (Laut Delacroix faszinierte ihn das visionierende Gesicht so sehr, dass er eine Studie begann, noch während sie da saß und so tat, als hätte sie das alles wirklich erlebt. Aus den Aufzeichnungen der George Sand ging hervor, dass Frédéric und auch sie selbst am ganzen Leib zu zittern begannen, so seltsam wirkte die Geschichte.)

»Warum wollte sie nun wirklich, dass du dieses Gemälde malst?« wollte George von Delacroix wissen.

»Ich fürchte, genau aus jenem Grund, aus dem sie jetzt nicht mehr im Gemälde zu finden ist. Sie wollte, dass ich ihr ihren Körper zurückgab und zwar genau in der Form ihrer Erinnerung.«

»Ihr Zauberer! Macht, dass der Winter Rosen hervorbringt! Verdoppelt den Wein! Nehmt eure Herrschaft über die Elemente, um die Schönheit der Frauen göttergleich zu machen!« So sprach Sardanapal, König der Assyrer, der es als sein ureigenstes Privileg verstand, dass Wunderwerke einzig seinem Vergnügen dienten. Und die Zauberer gehorchten. »Erscheint wie die Agave, denn sie entwickelt erst zum Lebensende hin Knospen!« rief er den Frauen zu und gab den Befehl, alle mit dem Dolch zu töten, während er sich von seinem Mundschenk bedienen ließ.

Myrrha, dieses nackte, sinnliche Geschöpf, blickte im Raum umher, als würde sie etwas Bestimmtes suchen, etwas, das nur sie erkannte. Das Licht flimmerte, und als einer der Diener ihr das Messer an die Kehle setzte, tauchte der Pinsel auf, schob das Messer beiseite und umrahmte ihr Gesicht. In jenem Moment spürte sie zwei Dinge gleichzeitig: einen rasenden Schmerz, der ihr das Leben nehmen wollte und eine erfrischende Berührung, die ihre Lebensgeister aufstachelte. Aber noch etwas Drittes mischte sich darein: Das war genau jene Sekunde, die sie benötigte, um ein Bild in Auftrag zu geben.

»Am gestrigen Tage nun«, fuhr Delacroix fort, »kam der Bote erneut und verkündete, sein Gebieter möchte mich zu sich einladen. Er habe beschlossen, sein Geheimnis zu lüften. Meine Nervosität entging dem Diener nicht, wenn er sie auch falsch deutete, dachte er doch, ich sei in heller Aufregung wegen des mysteriösen Treffens. Das Problem lag aber nun auf der Hand: Ich konnte das Bild unmöglich verkaufen, denn sicher kannte der Interessent das Original. Niemand würde mir abnehmen, eine der Konkubinen sei über Nacht aus dem Gemälde verschwunden. Noch weniger würde man glauben, es handle sich darüber hinaus um jene Sklavin, die das ganze Gemälde bei mir in Auftrag gegeben hatte.«

»Das ist eine Geschichte wie aus einem Opiumtraum«, sagte George Sand, während Chopin kümmerlich und blasser denn je, regungslos an dem kleinen Flügel hockte. „Als nächstes wirst du uns erzählen, der unbekannte Kunstkenner sei ebenfalls aus dem Gemälde entstiegen.«

Delacroix blickte sie leidgeplagt an. »Nicht ganz.«

Eugéne goß sich einen Gin in sein Glas und sagte dann: »Diesen Herren hatte ich auf dem Gemälde nicht bedacht. Es handelte sich um den treuesten Diener des Assyrerkönigs, und sein Name ist Pania. Myrrha zufolge war er es, der ihr das Messer an die Kehle setzte, um sie zu töten.«

»Aber es gelang ihm nicht, weil du sie maltest?« George vergaß beinahe, weiter zu schreiben.

»Genau so ist es. Myrrha hatte mir erzählt, sie sähe die einzige Möglichkeit zu entkommen darin, sie von ihrem menschlichen Körper in das Gemälde zu versetzen. Ihr bliebe nur eine Sekunde, und ich müsste mich also sofort entscheiden. Selbstverständlich war ich davon überzeugt, es handle sich um den barsten Unsinn, den mir je ein Mensch erzählen könnte. Auf der anderen Seite fand ich ihre Erscheinung höchst anregend, und so stimmte ich dem Vorhaben zu. Ich dachte mir, ein solches Werk passe sogar zu mir. Ich erinnerte mich, dass auch Byron eine Verserzählung über den spektakulären Selbstmord des verweichlichten und weibischen Herrschers geschrieben hatte.

Ich lächelte Myrrha an in der Hoffnung, sie merke nicht, dass ich sie für eine Wahnsinnige hielt, und ich gab ihr zu verstehen, ich würde heute noch mit dem Skizzieren beginnen. Eine Sekunde aber würde sicher nicht ausreichen. Daraufhin gab sie ein merkwürdiges Gleichnis über die Zeit zum Besten, das ich nicht ganz verstand und das ich deshalb auch nicht wörtlich wiedergeben kann. Es besagte in etwa, dass die Zeit an unterschiedlichen Orten auch unterschiedlich flösse. Was sollte ich darauf geben?

Nun, das Bild wurde gemalt und wie ihr wisst, wurde es nicht gerade bejubelt. Ganz im Gegenteil versagt man mir die Anerkennung bis heute.«

»Aber warum ist sie erst nach all den Jahren aus dem Bild entflohen?«

»Ich glaube, weil sie wusste, dass man ihr wieder auf den Versen war.«

»Ich habe heute keine Lust mehr, zu präludieren.« Chopin erhob sich. »Ich finde, wir sollten uns in den Pariser Salon begeben und über etwas anderes reden.«

»Eines würde mich noch interessieren«, sagte George Sand, »hast du diesem Pania von der verschwundenen Konkubine erzählt?«

»Das musste ich nicht. Er wusste bereits, dass Myrrha wieder entkommen war. Nur diesmal hatte er keine Möglichkeit mehr, ihren Aufenthaltsort zu bestimmen. Er zog das Angebot zurück und riet mir, nicht weiter über Geschichte nachzudenken. Er sagte, unsere Vergangenheit sei eine einzige erfundene Tatsache. Manche Menschen fänden seltsame Wege, ihrem Schicksal zu entgehen, nur um ein neues anzunehmen, von dem sie ebenso wenig wüssten. Worte sind Worte, Gemälde sind Gemälde, Ereignisse sind Ereignisse. Nichts ist wahrer als etwas anderes, nichts wiegt schwerer.«

»Hat er gesagt, was er nun zu tun gedenkt?«

»Ja«, schloss Delacroix: »Er sagte, er werde sich eine Metapher suchen, in die er entschwinden könnte.«

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