The Four Aliberts spielen ein Tschingerassa, das Requiem für ihren Bassisten und für Ella (Requiem für Bigband und Chor, zum Schluss das Gedicht ›Herbst‹ von Rilke), zumindest wäre das zu wünschen gewesen). Der gehörnte Lebensgefährte, der die ganze Zeit darüber Bescheid gewusst hatte, was die Gourdasse seiner Wahl während seiner Nachtschichten so trieb, verabschiedete sich eines Abends wie immer, ging hinüber ins Maxim und ließ sich zunächst einmal volllaufen, erst dort erwirtschaftete er sich die Tatwaffe, ein japanisches Küchenmesser, schmiedeverschweißt, und trat eine ganz besondere Nachtschicht an. Rail, der Tieftonzupfer (spielte einen Fender Jazz Bass von 1962, der mit einem extrem engen Hals versehen war) wurde ganz ordinär mit drei Messerstichen in den Rücken getötet, da war kein Groll dahinter, eher beiläufig und zufällig gehörte er an diesem Abend zur Szenerie. Ella jedoch wurde regelrecht filetiert, ihre Füße fand man ganz woanders als die Stümpfe, an denen sie einst befestigt waren. Die Chateustücke lagen neben einer Pfanne, sollten sie etwa mit Kräuterbutter …?
Als Willi den Artikel zu Ende gelesen hatte, wurde ihm aus dem verlängerten Rückenmark heraus schlecht, und so sollte es auch den ganzen Tag bleiben (und sie hatte sich beschwert, dass sie ein bisschen keine Luft mehr bekommen hatte).
Was blieb, war die Vision, das Damastmesser war nicht für ihn bestimmt gewesen. Willi wertete das als Zeichen. Ein paar Tage später ließ er sich auf seine Sandkastenliebe Ilene ein.
Doch jetzt eine kleine Live-Schaltung:
Leise ist es da drin, man müsste doch eigentlich eine Unterhaltung durch die Tür schwappen hören, gedämpfte Stimmen, unbestimmbares Lachen, ein Ausdruck von Unbeschwertheit über einer sicheren Wiege.
»Ich gehe den Sekt holen, oder willst du?« Das ist im anderen Raum, im zweiten Schlafzimmer (sie fickt also nicht dort, wo er seine Nase ins Kopfkissen drückt). Er hört nichts, aber er weiß es.
»Haben wir denn noch Zeit?«
Er hatte es von Anfang an gewusst. Spätestens seit Ella ihm seine Unzulänglichkeit durch Filmzitate vor Augen hielt, seine provinziale Vorstellungswelt mit recht undamenhaft geführten Argumenten einkesselte (sie betonte dabei, dass sie ein Recht darauf habe, eine Sau zu sein und dass sich aufrechte Sexualität auch mit dem Überwinden von Ekel befassen müsse, während er recht gezielt an instinktiven Begattungsvorgängen festhielt), ahnte er zumindest, dass sie ihren Spieltrieb nicht gänzlich allein entwickelt haben konnte. Es war vielmehr die Art, wie sich die Dinge veränderten. In dieser Wohnung roch es förmlich nach Etablissement, auch wenn er nie einen direkten Hinweis gefunden hatte. Da sie seine Missgunst und Angst einschätzen konnte, fühlte er sich etwas unterlegen, sie hatte einfach keine Lust auf sein immer gleiches Gebaren. Dabei war Ellas Masochismus nur das notwendige Durchgangsstadium ihres sexuellen Genusses. Leicht dadurch zu erkennen (was Frank aber nicht tat), dass Ella stets ihrer Mutter ausgeliefert war, die den Vater wie einen Waschlappen aussehen ließ, und der wiederum erkannte Ella nicht als Frau an, er kam ja schon mit einer nicht zurecht. Betrachtet er jetzt das Fischmesser in seiner Hand, war das jetzt also der Schwanzersatz (denn seine Blutpumpe wollte sie ja zu nichts gebrauchen, was ihn zu einem ungeheuerlichen Ipsator werden ließ).
»Die ganze Nacht«, sagt Ella. Sie sagt es hauchend, ganz das vollständige Weibchen, das sich ergibt.
»Weißt du, dass so eine Nacht in Wahrheit die Ewigkeit ist? Ich habe einen Song darüber geschrieben …«
»Hol’ den Sekt und sing es mir vor!«
Rail tut, was sie verlangt, aber es ist nicht sicher, ob er nicht doch den Sekt bevorzugt. Das Konzert war anstrengend gewesen und obwohl es dazu gehörte, danach durch die Betten zu brettern, fühlt er sich diesmal nicht als der bewunderte Bassist der Four Aliberts, sondern als Individuum ganz ohne Instrument. Ella hat keine Ahnung von Musik, und ihr wäre es völlig schnuppe gewesen, wenn er als Klempner oder Taxifahrer daherkäme. Das widerspricht seinem Ego, löst es förmlich von der Wand, an der er selbst als Starschnitt hängt. Wow, der ist aber groß, sagte sie zu seinem Bass, schon lümmelte seine Wäsche in Teilen vor der Eingangstür, ein großer Stiefel, daneben aus irgendeinem Grund ein Kugelschreiber, mit dem bis zu diesem Zeitpunkt drei Stücke geschrieben worden sind – und verteilte sich dann wie märchenhafte Brotkrumen bis zum Bett (das T-Shirt verkündete ›Hopscotch‹). Jetzt singt er, weil er auch beim wiederholten Male im Bett bei dieser merkwürdigen Kuh das Gefühl verspürt, ihr seine Künstlerseele einzubläuen, damit sie endlich kapiert, was er für ein Kerl ist:
I’m gonna kill you
If you don’t start treatin’ me nice
I’m gonna kill you
If you don’t start treatin’ me nice
You gonna wake up one mornin’ baby
Find yourself cold as ice
Und als er da so steht, den Sektkübel in der Hand, geht die Haustür auf und Frank, den er gar nicht kennen will, steht mit einem Küchenmesser in der Hand vor ihm, wo man ihm doch versichert hat, er komme nie vor 5 am Morgen zurück.
»Wie hast du das gemeint mit der Ewigkeit und der Nacht?«, ruft sie, vermutlich ist der Satz jetzt erst in ihr Köpfchen, das nachher im Mülleimer liegen wird, gedrungen.
»Hm«, macht Frank.
»Hey, Mann …«, sagt Rail, der Tieftonzupfer mit dem Gespür für dramatische Höhepunkte …
»Wenn du neben den eigentlichen Groove slapst, hört sich das wirklich groooßartig an, Rail …«, hatte Raunchy Kid vor kurzem zu ihm gesagt, jetzt müssen sie sich allerdings eine neue Keule suchen, das wissen sie natürlich noch nicht, und Rail will es noch nicht wahrhaben.
»Rail … was machst du so lange?« … aus dem zweiten Schlafzimmer (das gehört zu ihren Sicherheitsvorschriften, die wohl irgendwie nicht vernünftig funktionieren), der Sektübel schlägt auf, und – Gott, er kann nicht sprechen, da ist irgendein Wimmern in seiner Kehle, man muss nur in Franks Augen sehen, die gar nicht zu einem durchgedrehten Messerfreak passen, ganz gleichmütig und (das ist ja das Schlimme) – sachlich schließt er die Tür hinter sich, da wäre genug Zeit, um sein Leben zu retten, bitte lieber Gott, rette wenigstens meins, ich habe mit der Sache am wenigsten zu tun, das kann doch einfach nur ein dummer Zufall sein … »Es ist nicht so wie es aussieht…«, ist das nicht ein grandioser Satz für einen Abgang? Vielleicht ist es wirklich ein Fehler, dass sich Rail, als er bemerkt, dass er sich ja noch bewegen kann, umdreht und das Küchenfenster sucht. Nach Hinten verteidigt es sich schlecht, das kann man sich ja denken, aber denken ist heute nicht drin, ein blöder Tag irgendwie. Frank setzt zu den ersten drei Messerstichen des Abends an, man bräuchte da jetzt etwas musikalische Begleitung für das, was er mit Ella vorhat, aber der einzige Musiker liegt ziemlich schnell in seiner Suppe, das Messer ist ziemlich gut, das Damaszener Stahl bringt ihn jetzt richtig auf Touren. Da steht sie ja schon, sieht richtig fassungslos aus. Ob das nun an Rail, der sich in seiner ungewöhnlichen Position zeigt, liegt oder an ihm, der die Arbeit schwänzt, ist nicht ganz klar.
»Ich konnte euch wirklich zunächst nicht hören, diese Dichtleisten sind jeden Pfennig wert.«
Sir Austen Henry Layard entdeckte unter dem Hügel Kuyunjik am rechten Ufer des Tigris, gegenüber der heutigen Stadt Mosul das alte Ninive. Dort, in den Palastruinen des assyrischen Königs Assurbanipal, fand er eine große Bibliothek mit Tontafeln, worunter sich ebenfalls das Gilgamesh-Epos befand, das, wie wir heute wissen, eine präzise Sternkarte ist. Auf diesen Tafeln in Verbindung mit den Funden Professor Woolleys in der kleinen – nordwestlich von Ur gelegenen – Ruinenstätte Tell el’ Obeds, die Tempel, Wohnbezirke, Keramik und Skulpturen umfasste, die eine unbegreiflich hochentwickelte Kultur bezeugen, offenbaren sich Geheimnisse, die wir nicht verstehen können, obwohl die Cuneiform-Zeichen entziffert wurden. Wir lesen ihre Inhalte unter der Voraussetzung des Eindrucks, den wir heute von der Welt haben. Was nicht zu klären ist, oder unserer Vorstellung all zu eindeutig widerspricht, sparen wir aus, als spielte es im Gesamtkontext keine Rolle. Es ist nicht leicht zu akzeptieren, dass es unsere Technik in keinster Weise mit dem Wissen der Alten aufnehmen kann. Wir sehen zum Beispiel auf die rudimentären Versuche mit Elektrizität der Ägypter hinab und beklatschen, nachdem wir den ignoranten Unglauben über Jahrzehnte hinweg ein wenig abgelegt haben, die für unsere Verhältnisse erstaunlichen Versuche, und übersehen so leicht, dass die Ägypter es gar nicht nötig hatten, jeden Haushalt mit dieser aufwendigen Technik zu überschwemmen. Ihre illuminierten Städte bedienten sich einer anderen, unbekannten Quelle, die sie von den Chaldäern übernommen hatten, die ihrerseits die Glühlampe kaum benötigten, weil der Aufwand in keinem Verhältnis zur Leistung stand. Beide Völker – Chaldäer und Ägypter – lehnten nach längeren Experimenten jene primitive Form der Elektrizität, die wir heute für einen unermesslichen Fortschritt unserer Zivilisation halten, ab, und kehrten zu einem Rezept zurück, das sie eine chemische Flüssigkeit mischen ließ, die heute nicht unbekannt sein müsste, würden wir die Aufzeichnungen verstehen können, und: als Rezept begreifen.