Lou Reed

Ein perfekter Tag: Transformer von LOU REED

1972 befand sich Lou Reed an einem Scheideweg. Zwei Jahre zuvor hatte er mit The Velvet Underground eine der bahnbrechendsten Rock-Bands aller Zeiten verlassen und musste nun heftige öffentliche und kommerzielle Kritik einstecken, weil sein erstes Soloalbum ein Flop war – einer Sammlung von älteren Outtakes seiner ehemaligen Band, dem es an der thematischen Brillanz seiner besten Arbeiten mangelte.

In Großbritannien hatte jedoch ein neues Phänomen die Oberhand gewonnen: Glam Rock. Eine Bewegung, die Elemente des rebellischen Charakters des Punk aufnahm, aber mit Pailletten und Androgynität versah. Eine Bewegung, die sich außerdem stark auf den Einfluss von Velvet Underground stützte.

Neben Marc Bolan von T-Rex war David Bowie, der gerade The Rise And Fall of Ziggy Stardust veröffentlicht hatte, vielleicht derjenige, der seine Liebe zu Reed am deutlichsten zum Ausdruck brachte. Bowie hatte sogar den aus Reeds Feder stammenden VU-Song White Light/White Heat in die Ziggy-Stardust-Tour einbezogen. Als Reed sich an Bowie wandte, um ihm bei der Gestaltung seiner neuen Richtung zu helfen, übernahm Bowie – zusammen mit seinem Gitarristen Mick Ronson – die Produktion des vielleicht erfolgreichsten Albums von Reeds gesamter Karriere, Transformer. In vielerlei Hinsicht war dies ein mutiger Schritt von Reed, wenn man bedenkt, dass es noch einmal mehr als fünf Jahre dauern würde, bis Bowie die Produktion des kommerziell erfolgreichen Lust For Life-Projekts von Iggy Pop übernehmen konnte, und dass er zu diesem Zeitpunkt noch keine Produktionserfolge vorzuweisen hatte, die über die Co-Produktion seiner eigenen Platten hinausgingen.

Obwohl das Album in jeder Hinsicht mit New York verbunden ist, mit seiner unglaublichen Kultur und der Vielfalt an Menschen aus allen Gesellschaftsschichten, wurde es ironischerweise in den Trident Studios in London aufgenommen, und zwar auf Wunsch von Bowie, nachdem dort auch die Aufnahmen zu seinen eigenen Alben Hunky Dory und Ziggy Stardust stattgefunden hatten.

Noch bevor man sich das Album anhört, erkennt man, dass das Cover von Mick Rock zu den ikonischen Plattenhüllen überhaupt gehört – es zeigt Reed als Dämon oder, wie der Rolling Stone es formulierte, als “verweichlichtes Frankenstein-Monster” und deutet die wesentliche Musik des Albums an. Doch im Gegensatz zu dem Schwarz-Weiß-Bild von Reed, das die Hülle ziert, sind die Figuren, die Reed beschreibt, in lebhaften Farben gehalten. Das gilt insbesondere für den Opener des Albums namens Vicious, der mit einem kämpferischen Riff aus messerscharfen Gitarren eingeleitet wird, das die traditionell unscharfen Rückkopplungen durchbricht, die in vielen der größten Werke von Velvet Underground ihren eigentlichen  Reiz ausmachten. Der Song ist auch der erste einer ganzen Reihe  auf der Platte, die den spielerischen bisexuellen Lebensstil ansprechen, mit dem Reed zu dieser Zeit flirtete – “When I see you come, baby I just wanna run… You must think that I’m some kind of gay blade”. Reed erzählte dem Rolling Stone auch, dass der Song aus seiner Zeit bei Velvet Underground stammt und dass Reed durch sein Umfeld beeinflusst wurde – und er nannte Andy Warhol, eine der anderen kreativen Kräfte in New York zu dieser Zeit (und Produzent des Debüts von Velvet Underground mit Nico). Reed erklärte, Warhol habe ihn in seiner typischen Manier gefragt: “Warum schreibst du nicht einen Song mit dem Titel vicious, also darüber, wie ich dich bösartig mit einer Blume schlage!”

Es ist ein phantastisches Stück, das den Hörer von Anfang an mit seinen nebeneinander stehenden Bildern in den Bann zieht.

Andy’s Chest beginnt mit einer fast leisen Stimme: “Wenn ich irgendetwas auf der Welt sein könnte, das fliegt, wäre ich eine Fledermaus und würde dir hinterherfliegen”, und setzt damit den wunderbar gefühlvollen, aber dennoch verschlungenen Text von Vicious fort, der uns auf einen Acid-Trip mitnimmt. Wenn der Song sein Crescendo erreicht, ist Reeds Stimme vom Feinsten, mit einer Kraft, die sich mit der Musik zusammen mit dem immer wieder unergründlichen Text verflechtet. Wenn der Song seinen Höhepunkt erreicht, bricht er in einen absoluten Glam-Pop-Groove aus.

Das vielleicht berühmteste Stück von Transformer ist drei Minuten und 47 Sekunden lang Musik vom Allerfeinsten. Perfect Day ist ein schmerzhaft verletzliches Meisterwerk. Der Song fühlt sich für jeden, der ihn hört, äußerst persönlich an, trifft die rohesten, intensivsten menschlichen Emotionen und unterlegt sie mit musikalischer Perfektion.

“It’s such a perfect day – I’m glad I spent it with you”, trällert Reed im Refrain, doch es gibt eine ziemliche Debatte darüber, ob sich der Text auf seinen damaligen Kampf mit Heroin bezieht oder auf eine Beziehung und die Emotionen, die von jemandem hervorgerufen werden, den man liebt. Und ob die Besessenheit nun von Heroin oder einem Menschen ausgeht, die Figur des Songs erfährt unvergleichliche Freude durch ihre Liebe, bleibt aber ohne sie leer und verletzlich zurück, und die Zweideutigkeit trägt zur Großartigkeit und Erhabenheit des Songs und des Textes bei – “Du hast mich mich selbst vergessen lassen, du dachtest, ich wäre jemand anderes, jemand Gutes”.

Nach der eindringlichen Ballade Perfect Day erzählt das gitarrenlastige Hangin’ Round mit rauen, wilden Gitarren eine Geschichte über die Charaktere, die sich an Reeds neu gefundenen Ruhm klammern. “Du hängst weiter an mir, aber ich bin nicht ganz so froh, dass du mich gefunden hast. Du tust immer noch Dinge, die ich vor Jahren aufgegeben habe”, womit er anscheinend auf die Mischung aus Drogen und außerschulischen Aktivitäten anspielt, denen Reed und seine Kumpane seit den späten 60er Jahren ausgesetzt waren.

Und wenn Perfect Day der berühmteste Song des Albums ist, so ist Walk on the Wild Side der Song mit dem höchsten Wiedererkennungswert auf Transformer und mit Sicherheit einer der größten kommerziellen Hits in Reeds Karriere, denn er beginnt mit der wahrscheinlich kultigsten Basslinie der Rockgeschichte. Auch hier nimmt uns Reed mit in die Nacht, um den vielen einzigartig kuriosen Charakteren Tribut zu zollen, denen er in der New Yorker Sexszene begegnet war und mit denen er sich eingelassen hatte: “Holly kam aus Miami, trampte durch die USA, zupfte sich unterwegs die Augenbrauen, rasierte sich die Beine, und dann war er eine Sie. Sie sagte: “Hey Babe, take a walk on the Wild Side”. Es ist ganz klar eine Hommage an diejenigen, die auf der Schattenseite und im Schmelztiegel der New Yorker Gegenkultur der 1970er Jahre gediehen – die Junkies, Drag Queens und Stricher -, aber es unterstreicht auch Reeds Ideale, dass man so sein sollte, wie man sein möchte, egal, was andere darüber denken.

Wie bereits erwähnt, ist der Beitrag von Bowie und Ronson als Produzentenduo nicht zu unterschätzen. Ihre Fingerabdrücke sind subtil und die Schlüsselelemente der Songs erhalten Raum zum Atmen, wobei die musikalischen Schnörkel perfekt nuanciert sind. Das zeigt sich vor allem beim Herzstück des Albums, Satellite of Love, wo Bowies harmonische Backing Vocals den Song zum Leben erwecken. In diesem Song bricht Reed auch mit dem gesprochenen oder oft rauen, aber großartigen Gesang und erinnert den Hörer an sein unglaubliches Talent für ergreifende Melodien. In seinem Kommentar zum Kommerz, der seine Stadt überrollt, scherzt Reed, dass es kein Entrinnen gibt: “Bald wird auch der Mars mit parkenden Autos gefüllt sein.”

Homosexualität wurde in den 1970er Jahren in den Medien immer noch negativ dargestellt (sie war erst fünf Jahre zuvor im Vereinigten Königreich legalisiert worden und war noch immer ein Tabuthema), war aber Teil des Lebensstils von Reed. Um die Darstellungen in der Presse zu bekämpfen, schrieb Reed das Buch Make Up, in dem er die Geschichte einer Drag Queen schildert, die sich in ein “glattes kleines Mädchen” verwandelt. Kunst hat die Macht, unser Denken zu verändern, und Reed war bereit, für seine Überzeugungen einzustehen, wie der Refrain des Liedes zeigt: “Wir kommen aus unseren Schränken!”  Ein weiteres Beispiel dafür, warum er ein so einzigartig mutiger, respektierter und kraftvoller Künstler ist.

Transformer läuft weiter mit dem glam-lastigen Wagon Wheel, bevor Reed in der Mitte des Songs in ein fast stummes Gebet verfällt, als er flüstert: “Oh himmlischer Vater, was kann ich tun? Was sie mir angetan hat, macht mich verrückt”. I’m so Free ist musikalisch am ehesten mit Bowies eigenem Schaffen vergleichbar, wobei die Gitarren an Hunky Dorys Queen Bitch erinnern, und das seltsam Big-Band-beeinflusste Goodnight Ladies ruft Bilder einer verrauchten Bar im New York der 1940er Jahre hervor. Während New York Telephone Conversation einmal mehr die Stadt, die Reed inspiriert hat, in den Mittelpunkt seiner Gedanken stellt, indem Bowie und Reed den müßigen Tratsch nachahmen, der die Einwohner der Stadt umgibt – vielleicht etwas, das sie beide seit dem Beginn ihrer Karrieren zu hören bekamen.

New York ist in Lou Reed tief verwurzelt, und es ist ein Thema, auf das er im Laufe seiner Karriere immer wieder zurückkam – nicht zuletzt auf seiner hervorragenden LP New York von 1989. Transformer ist das Lou Reed-Album schlechthin, und trotz anderer Highlights seiner Solokarriere, darunter das makabre Meisterwerk Berlin, ist es eine unverzichtbare Sammlung fantastischer lyrischer Bilder, die eine passende Ode an eine der unglaublichsten Städte der Welt sind.

Wie klang Buddy Bolden?

Die Wurzeln des amerikanischen Jazz reichen bis zur Jahrhundertwende zurück… nicht in dieses, sondern ins letzte Jahrhundert.

Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hörte man in New Orleans häufig ein Kornett (das einer Trompete ähnelt) laut von den Parkbänken und aus den Fenstern der Tanzsäle schmettern. Ohne formale Ausbildung entwickelte Charles “Buddy” Bolden einen einzigartigen Improvisationsstil auf seinem Horn. Im Wesentlichen ebnete er dem Jazz den Weg, indem er ländlichen Blues, Spirituals und Ragtime-Musik für Blechblasinstrumente arrangierte. Die Legende besagt, dass er traditionelle Lieder mit seinen eigenen Improvisationen neu arrangierte und so einen kraftvollen neuen Sound schuf.

Buddy Bolden begann seine Karriere mit Auftritten in der Jack Laines Reliance Brass Band. Jack Laines wird oft als der “Patriarch des Jazz” bezeichnet. Mitte der 1890er Jahre gründete Bolden eine Reihe eigener Bands auf der Suche nach einer perfekten Klangmischung. Gegen Ende des Jahrhunderts fand er sie. Die Buddy Bolden Band bestand aus Kornett, Gitarre, Posaune, Bass, zwei Klarinetten und Schlagzeug. Seine Band spielte in der Innenstadt von New Orleans in überfüllten Clubs im berüchtigten Rotlichtviertel von Storyville.

Von 1900 bis 1906 war die Buddy Bolden Band die größte Attraktion in New Orleans. Ähnlich wie heutige Rap-Sänger wertete Charles “Buddy” Bolden seinen Status und seine Identität auf, indem er sich zunächst “Kid” und später… “King” Bolden nannte. In dieser Zeit verfolgte er zwei Interessen wie ein Besessener: Alkohol und Frauen.

Angesichts von Ruhm, Verantwortung, neuen Bands, die mit ihm konkurrierten, und dem Kampf, seine Musik frisch, innovativ und lebendig zu halten, geriet Bolden 1906 in eine Sackgasse. Depressionen, Hoffnungslosigkeit und die dunkle Anziehungskraft des Alkohols führten zu starken Kopfschmerzen und Paranoia (eine unberechenbare Angst vor seinem Kornett war seiner Musik wahrscheinlich nicht zuträglich). Er wurde so “hirnkrank”, dass die Ärzte ihn ans Bett fesselten.

1907 hatte Bolden seinen letzten öffentlichen Auftritt mit der Eagle Band bei der Parade zum Tag der Arbeit in New Orleans. Während der Parade begann er offenbar, Damen in seiner Nähe anzuschreien und hatte Schaum vor dem Mund. Sein Zustand verschlimmerte sich und er wurde in die Irrenanstalt eingewiesen. Dort wurden seine Halluzinationen und Gewalttätigkeiten immer schlimmer, bis er am 5. Juni 1907 endgültig in das State Insane Asylum in Jackson, Lousiana, eingewiesen wurde. Die Anstalt blieb mehr als 25 Jahre lang sein Zuhause, bevor er in einem Zustand völliger Niedergeschlagenheit und Unzurechnungsfähigkeit verstarb. Sein Leichnam wurde auf dem Holte Cemetery, einem Armenfriedhof in New Orleans, beigesetzt.

Leider gibt es keine erhaltenen Aufnahmen von Buddy Bolden, auf denen er spielt, obwohl er einige Wachszylinderaufnahmen gemacht haben soll. Diese Aufnahmen wurden wahrscheinlich von Oskar Zahn, einem Lebensmittelhändler und Fan der Band, aufgenommen, der einen Edison-Phonographen mit aufsteckbarem Aufnahmekopf besaß. Leider wurden der oder die Zylinder nie gefunden, und mindestens zwei Exemplare sind vermutlich entweder durch schlechte Lagerung oder durch einen Scheunenbrand zerstört worden, so dass die einzige bekannte Aufnahme eines der prominentesten Gründerväter des Jazz als verloren gelten muss.

Aber viele Leute, die mit Bolden gespielt haben und vielleicht sogar auf diesen Walzen waren, haben später Platten aufgenommen. Darüber hinaus fanden zahlreiche New Orleans-Musiker der nächsten Generation den Weg ins Studio.

Diejenigen, die seine Musik kannten, sagten, er habe einen “lauten, bluesigen Ton gespielt und einen Großteil seiner Musik improvisiert”. Bolden gilt als der erste “König” des New Orleans Jazz und war die Inspiration für spätere Jazzgrößen wie King Oliver, Kid Ory und Louis Armstrong.

Auch wenn wir vielleicht nie erfahren werden, wie Bolden geklungen hat, so können wir doch eine Art Venn-Mengendiagramm erstellen, indem wir die Attribute von Boldens Stil anhand von Augenzeugenberichten, Aufnahmen von Boldens Bandkollegen und Zeitgenossen sowie Aufnahmen von Melodien, die mit seiner Band in Verbindung stehen, eingrenzen und so zumindest ein Verständnis für den Kontext schaffen, in dem Bolden existierte und einen solchen Einfluss ausübte.

Das erste, was man über Boldens Band wissen sollte, ist, dass sie keine Band war, die vom Blatt ablas und dass sie in vielen Fällen improvisierte. Während von Boldens Rivalen, dem kreolischen Bandleader Joe Robichaux aus New Orleans, fast die gesamte musikalische Bibliothek erhalten ist, benutzte die Bolden-Band keine Noten, die wir studieren können. Die fehlende Fähigkeit, Noten zu lesen, wurde jedoch durch den Elan und die frischen Ideen Boldens wettgemacht, die Teil der DNA des Jazz selbst wurden.

Bolden spielte mit viel Seele. Aus realen Berichten und dem, was wir über die sozialen Auswirkungen der damaligen Zeit wissen, können wir verstehen, dass er und seine Band einen weniger raffinierten, bodenständigeren und schmutzigeren Ansatz verfolgten.

Obwohl die Bolden-Band keine Gruppe war, die Noten las, spielte sie die Hits der Zeit und hielt sich an die populären Musiktrends, um den Tänzern in der Funky Butt Hall und im Lincoln Park zu gefallen.

Der prominenteste Kornettist, der einem in den Sinn kommt, wenn man über diesen Sound nachdenkt, ist Freddy ‘King’ Keppard (er wurde nach Boldens Einweisung in das Louisiana State Asylum nach ihm zum ‘King’ gekrönt), der mit einem gut definierten ‘in-your-face’-Sound spielte, wie seine vielen großartigen Aufnahmen mit Doc Cookes Band in Chicago zeigen.

Apropos Könige: Buddy Bolden war auch dafür bekannt, dass er Dämpfer benutzte. Wenn man also den Dämpferstil im frühen New Orleans Jazz bestimmen will, braucht man nicht weiter zu suchen als nach einigen der frühesten und besten Aufnahmen der New Orleans Dämpfertechnik, die der legendäre Joe ‘King’ Oliver mit seiner Creole Jazz Band spielte.

Wie Poe durch Dupin die literarische Welt für immer veränderte

Olivia Rutigliano ist die stellvertretende CrimeReads-Redakteurin bei Lit Hub. Ihre Arbeiten erscheinen darüber hinaus auf vielen anderen Plattformen. Sie ist Doktorandin und Marion E. Ponsford-Stipendiatin an der Columbia University, wo sie sich auf Literatur und Unterhaltung des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts spezialisiert hat. Wir danken für ihre Bereitschaft, bei uns mitzuwirken. —M.E.P.

Obwohl es in der Literatur seit Jahrhunderten nur so von cleveren Problemlösern wimmelt, von Trickbetrügern über geläuterte Diebe bis hin zu weisen Männern und Polizeipräfekten, versetzte Edgar Allan Poes Detektivgeschichte “Die Morde in der Rue Morgue”, als sie 1841 erschien, die literarische Welt in Erstaunen. In einem Haus in der Rue Morgue (einer fiktiven Straße in Paris) ist ein grausamer Doppelmord geschehen. Mehrere Zeugen bestätigen, dass sie mehrere Stimmen gehört haben, aber niemand kann sich darauf einigen, welche Sprache einer der Sprecher verwendet haben könnte. Es gibt mehrere Hinweise, von denen einer rätselhafter ist als der andere. Die Polizei ist ratlos. Doch C. Auguste Dupin, ein Liebhaber seltener Bücher, löst das Rätsel zu Hause, nachdem er die Details in der Zeitung gelesen hat, und wird so zur ersten echten Detektivfigur der Literatur und löst damit eine Revolution aus, in dem er ein Genres definiert. Er taucht in zwei weiteren Geschichten auf: “Das Geheimnis der Marie Rogêt”,  und “Der entwendete Brief” von 1844.

Wie der Literaturkritiker A. E. Murch schreibt, handelt es sich bei der Detektivgeschichte um eine Erzählung, bei der “das Hauptinteresse in der methodischen Entdeckung der genauen Umstände eines mysteriösen Ereignisses oder einer Reihe von Ereignissen mithilfe rationaler Mittel liegt“. Der Kritiker Peter Thoms führt dies weiter aus und definiert den Kriminalroman als “Chronik einer Suche nach Erklärung und Lösung” und fügt hinzu:

“Eine solche Fiktion gestaltet sich typischerweise als eine Art Rätsel oder Spiel, als ein Ort des Spiels und des Vergnügens sowohl für den Detektiv als auch für den Leser.”

Der wohlhabende Dupin ist ein Sesseldetektiv, der Rätsel löst, weil er es kann, indem er eine Methode  der “Folgerung” anwendet, bei der er im Grunde “über den Tellerrand hinausschaut” (und es ist gut, dass er das tut, sonst würde niemand diese Verbrechen lösen; der Mörder in “Die Morde in der Rue Morgue” entpuppt sich als entlaufener Orang-Utan. Man kann wohl mit Sicherheit sagen, dass niemand sonst darauf kommen würde). Er teilt seine Schlussfolgerungen seinem guten Freund, dem anonymen und oft verblüfften Ich-Erzähler mit.

Hätte Poe nicht die Konventionen festgelegt, die wir als Kennzeichen der modernen Detektivgeschichte kennen, hätten andere wahrscheinlich nicht lange danach das Gleiche getan. Die Literatur war auf dem Weg zu dieser Entdeckung; sicherlich gab es eine lange Reihe von Figuren, die ähnlich vorgingen, gestohlene Gegenstände aufspürten und unmögliche Rätsel knackten, und wie Dupin taten sie dies als Privatleute und nicht als Angestellte des Staates. Voltaire schrieb 1747 die philosophische Novelle Zadig oder das Schicksal zum Thema Problemlösung, in der es um einen weisen jungen Mann in Babylonien geht, dessen Wissen ihn zwar in Schwierigkeiten bringt, ihn aber letztlich oft rettet. In William Godwins 1794 erschienenem Roman Die Abenteuer des Caleb Williams oder: Die Dinge wie sie sind, einer vernichtenden Anklage gegen die Fähigkeit des so genannten Justizsystems, Leben zu ruinieren, werden staatlich sanktionierte Ermittler zugunsten von nicht-traditionellen Problemlösern desavouiert. 1819 schrieb der deutsche Schriftsteller E. T. A. Hoffmann Das Fräulein von Scuderi, wo eine neugierige Frau namens Madeleine von Scuderi (die man als Vorläuferin von Miss Marple betrachten könnte) eine gestohlene Perlenkette findet.

Diese Aufzählung wäre unvollständig ohne Eugène-François Vidocq, einen Kriminellen, der sich zum Kriminologen wandelte und von 1775 bis 1857 lebte. Er gründete und leitete die erste nationale Polizei Frankreichs, die Sûreté nationale, sowie die erste private Detektei Frankreichs. Sein Leben inspirierte zahllose (verwegene) Adaptionen, darunter auch eine amerikanische, die 1828 in Burton’s Gentleman’s Magazine unter dem Titel “Unpublished passages in the Life of Vidocq, the French Minister of Police” veröffentlicht wurde und die Poe sehr wohl gelesen haben könnte. Interessanterweise gibt es in dieser Geschichte eine Figur namens “Dupin”.

Der berühmte Drehbuchautor Brander Matthews schrieb:

“Die wahre Detektivgeschichte, wie Poe sie sich vorstellte, hat nicht das Rätsel selbst zum Ziel, sondern die aufeinanderfolgenden Schritte, die den analytischen Beobachter in die Lage versetzen, das Problem zu lösen, das als jenseits menschlicher Möglichkeit abgetan werden könnte.”

In der Tat könnte Dupins größter Einfluss außerhalb des Kriminalromans und innerhalb des breiteren, späteren Feldes der Literaturkritik liegen. Dupins Fähigkeit, Hinweisen eine außergewöhnliche Bedeutung zu entlocken, macht ihn zum ersten Semiotiker, der mehr als ein Jahrhundert vor Ferdinand de Saussure, der 1966 sein Werk zu diesem Thema veröffentlichte, die Beziehung zwischen Zeichen, Signifikanten und Signifikaten aufklärte – vor allem, weil Dupin seine Hinweise eher über die Linguistik als über physische Objekte findet. In “Die Morde in der Rue Morgue” zum Beispiel leitet er die gesamte Lösung aus zwei Worten ab, die angeblich während des Verbrechens gesprochen wurden. (“Auf diese beiden Worte [‘mon Dieu!’]… habe ich hauptsächlich meine Hoffnungen auf eine vollständige Lösung des Rätsels gebaut.”)

Dupins Einfluss auf die Geschichte des Kriminalromans kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Er schuf unter anderem den Archetyp des Gentleman-Detektivs, der im Goldenen Zeitalter des Kriminalromans in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts so allgegenwärtig werden sollte. Jahre später schrieb Arthur Conan Doyle:

“Jede [von Poes Detektivgeschichten] ist eine Quelle, aus der sich eine ganze Literatur entwickelt hat… Wo war die Detektivgeschichte, bevor Poe ihr Leben einhauchte?”

In der Tat konstruierte Doyle seinen Detektiv Sherlock Holmes als einen intellektuellen Nachfahren von Dupin, indem er Watson (der ebenfalls direkt von den Dupin-Geschichten als Freund/Erzähler/Chronist abgeleitet werden kann, Dupin zitieren ließ, als er zum ersten Mal Zeuge von Holmes’ deduktivem Genie wurde.

»Klingt kinderleicht, wie Sie es erklären«, sagt Watson1887 zu Sherlock Holmes in der ersten gemeinsamen Novelle “Eine Studie in Scharlachrot”. »Sie erinnern mich an Edgar Allan Poes Dupin. Und ich habe immer geglaubt, dass solche Menschen nur in Geschichten vorkommen.«

Holmes äußert sich abfällig über dieses Lob: »Ihr Vergleich mit Dupin ist bestimmt als Kompliment gemeint«, erwiderte er. »Aber in meinen Augen war der Mann eine Flasche. Angeblich hat er nach fünfzehnminütigem Schweigen durch eine spontane Bemerkung herausgefunden, was in den Köpfen seiner Freunde vorging – ein angeberischer und billiger Trick. Er besaß zweifellos ein gewisses analytisches Genie, war aber keineswegs so phänomenal, wie Poe glaubte.«

Nun… bis auf die Tatsache, dass er es doch war. Holmes weiß es nicht, aber ohne Dupin hätte es ihn nicht gegeben.

Wer war das Vorbild für Dracula?

Tika lebt in einer Wohnung in Oakland, Kalifornien, die von zwei grauen Katzen beherrscht wird. Außerdem hat sie sich mit genug Gin, Büchern, Pflanzen und Garn umgeben, um ein Leben lang zu überleben; ihr Geschmack ist in allen vier Bereichen sehr bunt. Wenn sie nicht gerade liest oder strickt, kann man sie beim Boxen oder Laufen (widerwillig) antreffen. Sie schreibt für Book Riot.

Wollen wir doch mal damit beginnen, einige Punkte der Verschwörung und des Skandals zu setzen. Von Anfang an entbinde ich mich von der journalistischen Integrität und der üblichen Notwendigkeit, Beweise für meine Behauptungen vorzulegen, oder – was in vielen Fällen noch wichtiger ist – Beweise, die meine Behauptungen widerlegen. Jeder, der in diesen Skandal verwickelt war, ist schon lange tot, und echte Wissenschaftler haben über dieses Thema geschrieben und es untersucht. Im Sinne einer Person, die sich der Wahrheitsfindung verschrieben hat, bin ich in diesem Moment weder eine Journalistin noch eine Wissenschaftlerin, sondern biete lediglich ein wenig literarischen Klatsch und Tratsch, und ich liebe einen guten Skandal.

Um eines gleich vorweg zu nehmen: Vampire – die blutsaugenden, unsterblichen, sich in Fledermäuse verwandelnden, im Sonnenlicht funkelnden, “Ich-will-dein-Blut-saugen”-Vampire – sind nicht real. Zumindest nicht auf unserer Ebene der Realität. Soweit ich weiß. Und um ehrlich zu sein, möchte ich lieber nicht wissen, ob sie vielleicht doch real sind. Aber wenn ihr zufällig einem begegnet, fragt ihn (es ist immer ein “er”), warum seine Art sich zu jungen, beeinflussbaren Frauen hingezogen fühlt, die noch keinen Sinn für ein autonomes Selbst entwickelt haben. Wenn ich es mir recht überlege, streich das wieder. Ich glaube, ich habe gerade meine eigene Frage beantwortet.

WIE DEM AUCH SEI. Wir sind hier, Liebhaber der Rebe, um über die berüchtigtste aller literarischen Figuren zu sprechen: Dracula.

Eine schnelle Internetrecherche wird euch zeigen, dass Bram Stokers Figur Dracula auf Vlad Dracula, Vlad III. von Rumänien, Vlad dem Pfähler, basiert. Allerdings ist Stokers Darstellung von Vlad Dracula völlig phantastisch und basiert kaum auf den Grundzügen seines Lebens. Jedem Internet-Historiker – wie mir – ist klar, dass jemand anderes als viel unmittelbarerer und persönlicherer Bezugspunkt für einen so ikonischen Bösewicht gedient haben muss.

Ich präsentiere euch, liebe Freunde, den einzigartigen Oscar Fingal O’Flahertie Wills Wilde, den berühmten Schriftsteller, Dramatiker und Ästheten.

“Was?”, werdet ihr vielleicht denken. “Was in aller Welt hat ein Vampir mit Oscar Wilde, dem Autor von Das Bildnis des Dorian Gray und Bunbury, oder Die Bedeutung des Ernstseins, zu tun?” So langsam komme ich dahinter. Es stellt sich heraus, dass ein Abraham Stoker, ein Ire, und ein Oscar Wilde, ebenfalls ein Ire, in ihrer Jugend zum selben Kreis gehörten. Ihre Eltern waren befreundet, und sie waren zur gleichen Zeit am Trinity College, wo sie befreundet waren. Sehr enge Freunde.

Das heißt, bis sie beide Florence Balcombe, eine gefeierte Schönheit, kennenlernten. Wilde machte ihr zuerst den Hof, und sie nahm seinen Antrag an, obwohl das Paar schließlich auseinanderging und Florence den Namen Mrs. Bram Stoker annahm. Stokers Heiratsantrag war an und für sich schon ein Skandal, wenn man bedenkt, dass Wilde immer noch ihr wichtigster Verehrer war. Und man munkelt, dass Stoker zwar schließlich das Herz der jungen Miss Balcombe eroberte, sich aber nie ganz von der Diskrepanz zwischen Florence’ Liebe zu Wildes extravagantem, übergroßem Dandy-Charakter erholte. Seine Figur dagegen war solider und entschlossener, mit einem festen Job als Theatermanager für Henry Irving.

1897 wurde Oscar Wilde wegen “grober Unanständigkeit” in Bezug auf Sodomie zu zwei Jahren Zwangsarbeit verurteilt, und Bram Stoker begann mit dem, was sein Meisterwerk werden sollte. Darin beschreibt er den titelgebenden Bösewicht mit denselben Worten, mit denen die zeitgenössische Presse Wilde beschrieb: als “überfütterten Blutsauger” und als lebende Verkörperung all dessen, was an der spätviktorianischen Gesellschaft dilettantisch und falsch ist.

Stokers Rache war ein reines Pyrrhusspiel. Auf seinem Dachboden entdeckte Tagebücher (wie kann es sein, dass solche Entdeckungen immer noch gemacht werden??), die 2012 als The Lost Journal of Bram Stoker gedruckt wurden, sprechen in verschlüsselter Sprache über Stokers eigene sexuelle Vorlieben und Neigungen. Weniger verschlüsselt ist der Text seines Briefes an Walt Whitman:

Ich möchte Dich Genosse nennen und mit Dir reden, wie Männer, die keine Dichter sind, nicht oft reden. Ich glaube, ein Mann würde sich zuerst schämen, denn ein Mann kann nicht in einem Augenblick die Gewohnheit der relativen Zurückhaltung brechen, die ihm zur zweiten Natur geworden ist; aber ich weiß, dass ich mich nicht lange schämen würde, vor Ihnen natürlich zu erscheinen. Sie sind ein wahrer Mann, und ich möchte selbst einer sein, und so würde ich mich Ihnen gegenüber wie ein Bruder und wie ein Schüler zu seinem Meister verhalten.

Bram Stoker an Walt Whitman.

Dieser Brief ist zum ersten Mal vollständig in Something in the Blood von David J. Skal abgedruckt. Im viktorianischen Zeitalter kam die Bewunderung für Whitman einem Bekenntnis zur Homosexualität gleich, fast so verwerflich wie eine Beziehung zu Oscar Wilde selbst.

Stoker war bekannt dafür, dass er sich zurückhielt und sein öffentliches Image rücksichtslos bearbeitete. Im Gegensatz zu Wilde und vielleicht als Reaktion auf die von ihm als rücksichtslos empfundene sexuelle Freizügigkeit von Wilde zog er sich immer weiter zurück und ging 1912 sogar so weit zu sagen, dass alle Homosexuellen eingesperrt werden sollten – eine Gruppe, zu der er im Nachhinein sicherlich auch gehörte.

Am Ende ist dieser literarische Skandal weniger lasziv als vielmehr eine Geschichte, die das Herz berührt. Zwei Freunde, Rivalen, Liebhaber und Autoren: Stoker lässt sie in Dracula gegeneinander antreten, wobei er Mina die Hauptrolle der Liebe zuweist, aber letztendlich ist es die Spannung zwischen dem

Timeline

Das Hören neu lernen

Es ist die Beschäftigung mit dem Jazz, die mich am ehesten meinen eigenen Rhythmus verstehen lässt. Aber nichts bringt mich im Augenblick zu einer weiteren Improvisation, ich muss das Hören neu lernen. Zum ersten Mal inspiriert wurde ich von Ted Gioia, aber ich habe mir erst jetzt ein Buch von ihm bestellt. Den eigentlichen Anstoß aber gab mir Andy Edwards, dessen YT-Kanal ich mit äußerstem Gewinn studiere. In jungen Jahren war er der Live-Schlagzeuger von Robert Plant, spielte bei der Neo-Prog-Band IQ und ebenso bei Frost. Jetzt, so scheint es, bringt er mich ohne sein Wissen in wichtige und für mich wertvolle Gefilde.

Brunswick II – Der Weinkeller

Dieser Artikel ist Teil 51 von 54 der Reihe Gespenstersuite

So viele Räume, die er sich noch nicht angesehen hatte, weil er keine Zeit dafür erübrigen konnte, in fremnde Vergangenheiten einzudringen, die er nicht selbst zu wählen imstande war. Manchmal war er neugierig auf das, was ihm dort begegnen könnte, meistens kannte er die dunklen und schlammbespritzten Seelenhaine jedoch schon längst und er wollte nicht entdeckt werden. Je länger die Geister nichts von seinem Aufenthalt in diesem gebäude wussten, desto weniger bestand die Gefahr, sich ein neues Versteck suchen zu müssen.

Mit seinen Fingern zeichnete er etwas in den wallenden Zigarettenrauch. Die Worte würden einige Tage dort stehen bleiben, dann langsam verblassen und schließlich im Mauerwerk verschwinden. Da sie nur als Gedächtnisstütze dienten, reichte die Zeit aus. natürlich wusste Egon, dass es fahrlässig war, auch nur Teile seiner Gedanken in den Ziegeln archiviert zu wissen, aber so weit er das durchschauen konnte, legten sich seine Worte anonym zu den anderen, die schon seit Jahrhunderten dort verweilten, und niemand fragte je nach ihrer Herkunft.

Er schrieb: “Es gibt noch einen zweiten Keller. Sieh’ doch bitte mal nach, wohin der führt.”
Vor ihm tanzten die Schwaden, die nicht gebraucht wurden, einen langsamen Walzer, der sich bei genauerem Hinsehen als Ländler entpuppte, er könnte also noch viel mehr schreiben, aber an den Rest konnte er sich auch so erinnern. Den zweiten Keller vergaß er nur deshalb ein jedes Mal, weil er im ersten stets vor dem Weinregal einschlief. Er gestattete sich, die Etiketten auf den unzähligen Flaschen so lange zu studieren, bis ihm die Augen zufielen, denn natürlich wollte er wissen, was er da trank. Was ihn wirklich ermüdete war nicht etwa der Suff, sondern der Werdegang einer jeden Traube, die ihm davon erzählte, was sie aufregendes in den Weinbergen erlebt hatte. das war meist nicht viel, aber einmal hatte ihm gleich eine ganze Flasche von einem heimtückischen Mord an einem geheimnisvollen Mädchen erzählt. Den Wein selbst konnte man nicht mehr trinken, aber er hörte bis zum Morgengrauen zu. Und als er einschlief, blieben seine Albträume aus. Das war der Grund, warum er den Fall, der 25 Jahre zurück lag, nicht lösen konnte.

Am nächsten Tag nahm er die Flasche mit nach oben, rief mit seinem blauen Telefon im Präsidium an und sagte: “Ich habe hier eine Zeugin zu Gast, die vor 25 Jahren einen Mord an einer Iva Kaminski beobachtet hat.”
“Ich notiere mir gerade den Namen. Die Zeugin solltest du allerdings so schnell wie möglich mitbringen; mich wundert, dass du vorher anrufst.”
“Das hat einen Grund”, sagte Brunswick, zögerte aber nicht, Frank, der Forelle auch sogleich besagtes Manko zu schildern: “Das Problem ist, dass es sich bei dieser Zeugin um eine Weinflasche handelt.”

Eric Basso: Der Pestarzt, Kapitel 1

Anmerkung des Übersetzung: Diese bahnbrechende und legendäre Geschichte  begann ich zu übersetzen, bevor Eric Basso überraschend am 10. Juni 2019 verstarb. Bisher konnte das Lizenzrecht nicht geklärt werden, so dass ich mein Vorhaben aufgeben musste. Tatsächlich gehe ich auch nicht davon aus, dass dafür in Deutschland einen Markt gegeben hätte, aber eine kleine Auflage für Kenner der Weird Fiction hätte mir eine gewisse Genugtuung verschafft. Ich erlaube mir dennoch, das erste Kapitel hier zu präsentieren. Ich verstehe das als einen Kulturauftrag. Wer die Novelle im Original lesen will, kann diese in Jeff & Ann VanderMeers The Weird finden.

Jetzt werde ich versuchen, wach zu bleiben. Der Nebel. Sie müssen mich bereits vor dem Morgengrauen gesucht haben. Leere Straßen. Durch einen schwach beleuchteten Raum.

Sie lag im Schatten. Die Stufen. Eine nach der anderen. Nicht, dass ich alt wäre. Es war die Maske. Der Gips bröckelte von den Wänden. Sie lag schlafend auf einer Couch. Ein Netzwerk von Rissen und verzweigten Adern wie die Oberfläche eines antiken Gemäldes. Chiaroscuro. Figuren halb geformt. Und sie war nackt. Kleine Wasserflecken in der Farbe von Rost. Von den Geländern ging ein Geruch nach Desinfektionsmittel aus. Mottenkugeln. Mit dem Geruch an meinen Händen kehrte ich dorthin zurück. Am unteren Ende der wackeligen Treppe konnte ich das fieberhafte Leuchten einer Glühbirne erkennen, die in die zerfressene Decke auf dem Treppenabsatz geschraubt war. Trittschatten schwangen sich über die Schuhspitzen, als ich mich dem oberen Ende näherte.

Keine Ecken. Ich musste meinen Kopf von einer Seite zur anderen drehen, um zu sehen, was um mich herum lag. Die Augenhöhlen waren eine Spur zu schmal geraten. Meine eigene Schuld. Beim Schneiden hatte ich mich nicht genau an das Muster gehalten. Sie bilden eine dunkle Vignette. Die Schutzbrille beschlägt. Dunkelheit um eine Dunkelheit herum, als ich in den Raum kam. Ich war am Ersticken.

Die Frau wich zurück. Zuerst schienen sie ein wenig erschrocken zu sein und murmelten vor sich hin.

Etwas zu leise, um es verstehen zu können. Ich sagte ihnen, sie müssten lauter sprechen. Eine Lampe brannte an der Kaminsimsuhr. Ein ovaler Streuteppich in der Mitte des Fußbodens, gerade außerhalb der Reichweite eines verblassten Lichtfeldes. Jetzt erinnere ich mich. In der Stille konnte man ein Ticken hören. Ich bildete mir nur ein, dass die Frau gesprochen hatte. Es könnte ein Rumpeln auf dem Boden darüber gewesen sein, verbunden mit den zufälligen Bewegungen ihrer Lippen. Der Vater nahm mich bei der Hand. Er war alt. Die Haut seiner Handflächen war trocken, seine Finger weich und leblos. Er wollte nicht sprechen. Hinter mir schloss sich eine Tür. Wir beide blieben mit der Unbekannten allein.

Ich musste ihm vermutlich helfen, durch den Raum zu kommen, er war so schwach. Seine Augen waren schlecht. Unterwegs blieb er einige Male stehen, um sich zu orientieren, und kratzte sich an den Augenbrauen, als versuche er sich zu erinnern, dass selbst in diesem gedämpften Licht ihre Flanke sichtbar war, und sich blass gegen den schwarzen Rumpf der Couch abhob. Ihr Gesicht war abgewandt oder unter einer Masse von langen dunklen Haaren oder in einem Schatten verborgen. Niemand hatte daran gedacht, sie mit einer Decke zu verhüllen. Wir lauschten ihrem Atmen zwischen den Ticks der kleinen Porzellanuhr; ein Miniaturpendel schwang in seinem länglichen Fenster, ein tiefes Klicken ließ von innen das Surren eines Mahlwerks ertönen – die Stunde erklang langsam am unteren Ende des Spiegels.

Ihr Zwerchfell hob und senkte sich. Ihre Rippen wölbten sich schwach, wobei sie abwechselnd die weißliche Haut über der breiten Bauchdecke streckten und entspannten. Ich schätzte sie im Alter zwischen dreißig und fünfundvierzig Jahren, aber das Licht war zu schwach. Und ihr Vater plapperte unzusammenhängend, bevor ich etwas darüber herausbekam, dass er sie auf dem Heimweg von einem Spaziergang gefunden hatte.

– Sie lag auf der Seite… zusammengerollt wie ein Ball am Bordstein.
Er kratzte sich wieder an seinen buschigen Augenbrauen. Die Frau hatte sie die Treppe hinaufgetragen und auf das Sofa gelegt. Im Tiefschlaf zeigte sie keine Anzeichen des Erwachens.

Der alte Mann hielt ihre Beine für mich fest und blickte durch die rot-weißen Spuren, die meine Leuchte in die Dunkelheit geätzt hatte nach unten. Die leichten Bewegungen meiner Hand hinterließen ein Nachbild von verflochtenen Linien auf seiner Netzhaut. Er schien immer noch zu versuchen, sich zu erinnern, beugte sich nach vorne, warf den Ballast, den die Füße seiner Tochter für ihn waren, gekreuzt hinter seinen Kopf, was seine weißen Haare auffächelte; die Messingglieder seiner Uhrkette glitzerten in einer doppelten Schleife, die über die Spitze ihrer Brüste schaukelte. Seine Brille rutschte ihm bis zur Nasenspitze herunter.

Es war kurz nach fünf. Kratzer. Quetschungen. Einige tiefe Einkerbungen hinterließen violette Streifen entlang der Rückseite ihrer Strumpfhose, wie Kratzer, die von einem wilden Tier verursacht wurden. Oder ähnliches. Ich brauchte keine Brille. Die Genitalien bildeten bereits in der Dunkelheit eine geschwollene Masse. Die geschwärzten Schamlippen blähten sich im Bereich der Entzündung auf. Die Schleimhaut war so rau, dass sie sich blau färbte. Eine Spur von getrocknetem Blut ließ sich bei der Berührung mit dem Finger von der Haut abschuppen. Ich fühlte eine Kruste unter meinem Handrücken, als ich nach inneren Läsionen suchte. Ein brauner Ausfluss hatte genug Zeit gehabt, sich auf dem Kissen auszubreiten und dort zu erstarren.

Wie lange lag sie schon so da?

– Ich… nein, ich habe nur…

Der alte Mann sah aus, als würde er gleich ohnmächtig werden. Er ließ eines der Beine los und legte seine Hand auf den Arm der Couch. Etwas Hartes schlug gegen die Oberseite meiner Maske. Ich fiel auf die Knie. Die Lampe flog mir aus der Hand und ich hörte, wie sie unter das Sofa rollte. Ein weiteres Gewicht fiel schwer auf die Mitte meines Rückens. Ich sah, wie ein grauer Mond auf die Couch und dann in die Finsternis stürzte. Mein Keuchen ließ heiße Luft durch das Innere der Maske nach oben strömen. Ich hörte den Wind brüllen. Er quetschte mir den Atem aus dem Leib.

Ich lag dort auf dem Boden und versuchte, die Augenlöcher neu auszurichten, meine Schutzbrille war dampfgetrübt. Er stand über mir, der Vater, durchkreuzt von der breiten, diagonalen Silhouette eines nackten Beines. Die Zimmerdecke erschien mir dunkelgrau ins Schwarze zu driften, an dessen Rändern es kobaltblau und golden glänzte.

Eine weitere Minute verging. Das Grau wäre bei Tageslicht weiß gewesen. Die Vorhänge waren zugezogen, die Jalousien geschlossen. An einigen verzweigten Spalten hingen zackige Formen wie Stalaktitenstücke. Der alte Mann fasste mich bei den Händen. Er wollte mich nach oben ziehen.

– Wie wär’s mit etwas zu trinken? Sie müssen da drin ja ersticken. Oder vielleicht möchten Sie ein in kaltes Wasser getränktes Tuch für Ihr Gesicht?

Warten Sie. Heben Sie ihr Bein wieder auf die Couch. Ich schaffe das nicht allein.

– Es ist nebliger geworden als je zuvor. Man kann nicht einmal mehr über die Straße sehen. Ich schalte einfach die Lampe aus.

Nein, ich muss ihr eine Spritze geben. Helfen Sie mir, Sie umzudrehen. Fassen Sie sie unter den Knien. So ist es gut. Vorsichtig.

Penicilin, 10 ml. Keine Reaktion auf den Stich der Nadel. Sie lag einfach auf dem Bauch, ihr offener Mund sabberte in das Kissen. Es war noch zu früh für eine Dehydrierung. Der Vater fischte eine Schachtel Zigaretten aus seiner Westentasche. Er klopfte eine heraus und hielt sie mir hin.

– Sind Sie sicher? Ich rauche nicht gern allein.

Ich war zum Fenster gegangen und wollte gerade die Jalousien nach oben ziehen, als die Lampe auf dem Kaminsims erlosch und uns beide in völlige Dunkelheit stürzte, mit nichts als ihrem Atemgeräusch und dem Ticken der Uhr. Ich hätte sie wieder auf den Rücken drehen sollen. Aber das machte keinen Unterschied. Sie schien sich wohl genug zu fühlen. Ich bildete mit zwei Fingern einen Spalt in der Jalousie und blickte in den Nebel hinaus. Der alte Mann hatte Recht.

– Das ist alles, was ich weiß. Fragen Sie mich nicht, warum ich so lange damit gewartet habe. Wenn es nach meiner Frau und meiner Schwester gegangen wäre, würde sie immer noch splitternackt da draußen liegen, und, na ja, sagen wir einfach, ich hielt es für das Beste zu warten, bis sich der Nebel gelichtet hat… und als er das nicht tat, nun, Sie kennen den Rest… sie lag am Bordstein unter einem Laternenpfahl, sonst hätte ich sie gar nicht gesehen, meine Augen sind nicht mehr das, was sie mal waren, wenn sie auf dem Bürgersteig gelegen hätte, wäre ich vielleicht über sie gestolpert und hätte mir das Genick gebrochen; um die Wahrheit zu sagen, war ich nicht einmal sicher, ob ich in der richtigen Straße war… der Nebel… konnte meine Hand nicht vor meinen Augen sehen… nein, an Ihrer Stelle würde ich ein wenig warten, bevor ich wieder hinausgehe… etwas zu trinken vielleicht? … sehen Sie, ich habe das Licht ausgemacht, also gibt es keinen Grund zur Sorge… Ich kann mich an fast alles gewöhnen, aber nich an diesen Nebel! Wenn ich daran denke, wie die Dinge früher waren und wie sie jetzt sind – überall Gerüchte, und die Straßen sind menschenleer – habe ich wirklich Angst, rauszugehen, sogar tagsüber… Früher bin ich mit dem Bus zum Einkaufen an den Olde Market gefahren, jetzt muss ich wie alle anderen alleine durch die Straßen laufen… aber warum setzen Sie sich nicht? Ich lasse uns von Duma – meiner Frau – etwas zu essen bringen… was sagen Sie zu ein paar Brezeln und einer schönen Flasche Bier? Es ist das letzte, was wir noch haben, die Brezeln meine ich, aber das ist ja schließlich ein besonderer Anlass… ich hatte seit Jahren niemanden mehr im Haus, seit mein Schwager gestorben ist… er war einundvierzig… haben Sie ihr Gesicht gesehen? … vielleicht sollten wir ihren Mund schließen, es sei denn, Sie sind der Meinung, das könnte ihre Atmung behindern… ich wusste zuerst nicht, was zum Teufel ich tun sollte. Ich dachte, ich hätte nicht richtig gesehen… ich musste fast ganz hinauf steigen, bevor ich erkannte, dass es eine Frau war und nicht ein Haufen Müll, den jemand unter dem Laternenpfahl gehäuft hatte… sie ist nicht von hier – zumindest denke ich das nicht – ich habe sie nie gesehen, nicht dass ich mich erinnern würde… sie lag da ganz zusammengeknüllt wie ein Ball… Ich dachte, sie wäre tot… was ist jetzt mit dem Bier? Ich werde auch die Lampe nicht einschalten.

Durch einen kleinen Spalt in der Jalousie – nichts. Ein dumpfes Grau stieg nach oben, das konturlos von der Straßenbeluchtung gestreut wurde.Verlorene Heiligenscheine in einem geräuschlosen Nebel. Nicht einmal ein gedämpftes Echo war zu hören. Etwas hatte sich im Haus bewegt. Alles wurde von dieser einen kurzen Bewegung absorbiert. Es könnte auf dem Dachboden unter oder in einem Außenkorridor oder auf einem der Treppenabsätze gewesen sein. Ein Fußball. Das Klicken einer sich schließenden Tür. Wer konnte schon sagen, was es war oder wo es herkam? Das brachte mich zu ihrer Atmung zurück. Der alte Mann hatte seinen Monolog beendet. Vielleicht hatte er einen Schritt nach vorne gemacht. Er könnte es gewesen sein. Ich konnte es nicht sicher sagen. Es war zu dunkel.

– Und jetzt?

Wie bitte?

– Ich meine, was sollen wir mit ihr machen?

Die Polizei wird sich um alles kümmern.

– Ist Ihnen heiß?

Was ist?

– Nichts, ich habe mich nur gefragt.

Ziehen Sie der Frau etwas an. Und wenn Sie einen Führerschein oder irgendeinen Ausweis finden, stechen Sie ein Loch hindurch und binden Sie ihn ihr mit einem Stück Schnur um den Hals. Verwenden Sie kein Gummiband oder etwas anderes, das ihre Atmung beeinträchtigen könnte.

– Das ist nicht gut… Sie sehen sie so, wie ich sie gefunden habe… so wie sie war.
Vielleicht ist etwas in Ihrem Zimmer. In einer der Schubladen. Sie könnten Ihre Frau fragen.

– ?

Oder hier. Nehmen Sie das und füllen Sie es später aus. Ich habe es schon unterschrieben. Wenn Sie wollen, können Sie das Licht wieder einschalten. Ich muss jetzt gehen.

– Was ist das? Ein Rezept?

Nein, es ist für die Polizei. Geben Sie es ihnen, wenn sie das Mädchen abholen. Und vergessen Sie nicht, es auszufüllen. Ich gehe voraus und treffe die nötigen Vorkehrungen. Versuchen Sie nicht, sie zu bewegen. Ziehen Sie sie so gut es geht an. Sie bringen sie in den Ringlokschuppen.

– Zum Ringlokschuppen? Sie meinen das alte Eisenbahnmuseum? Das war seit Jahren nicht mehr geöffnet.

Irgendwie hatte er es geschafft, an die Tür zu kommen, ohne an die Möbel zu stoßen. Ein gelbes Licht fiel aus dem Korridor und umrahmte seine gebogene Silhouette mit einem dumpfen Flimmern. Er nahm seine Brille ab.

– Ich würde sie gerne loswerden… kann damit nichts mehr sehen… sie anprobieren… sehen, wie sie Ihnen passt.

Ich muss jetzt gehen. Wenn Sie meine Lampe gefunden haben, schicken Sie sie mir zum Ringlokschuppen. Die Adresse steht oben auf dem Zertifikat. Oder Sie können mich jederzeit im Büro erreichen. Sie haben meine Nummer.

Der alte Mann kratzte sich an den Augenbrauen, zuckte mit den Schultern und zog ein Taschentuch aus der Hose. Er atmete die Linsen an und lächelte.

– Ich würde mir eine Menge Atem sparen, wenn ich sie einfach aus dem Fenster halten würde.

Er rief mir nach.

– Seien Sie vorsichtig. Auf einer der Stufen liegt eine lose Matte.

Ich kam langsam aus dem gelben Licht heraus, eine quietschende Stufe nach der anderen nach unten. Dieser Geruch. Ich konnte ihn später an meinen Händen riechen. Ich hörte, wie die Mieter vor mir die Tür schlossen. Bis ganz nach unten.

In den Nebel hinein.

Timeline

Rekonstruktion

Vielleicht ist das mein größtes Manko in Bezug auf die Gestaltung: der völlige Mangel an Konsequenz, Disziplin und (durchaus) Weitblick. Ich habe mir die Mühe gemacht in den Internet Archiven den Status der Veranda seit 2010 anzusehen. Ich glaube, dass kaum einmal zwei Monate vergingen, bevor ich nicht wieder etwas löschte, umbaute oder völlig herausnahm. Dazu kommen noch zahlreiche Umzüge. Andererseits sehe ich auch, wie viel Ballast dadurch verloren ging. Das kann man bedauern (wer sollte das bedauern?), am Ende aber bleiben die mir wichtigen Dinge, Fragmente, die längst in einen größeren Text eingezogen sind. Ich bin bemüht, zu rekonstruieren, was einst hier stand, und heute ist zumindest der Guckkasten wieder komplett vorhanden.

Brunswick: Die Villa (1)

Dieser Artikel ist Teil 39 von 54 der Reihe Gespenstersuite

Er stand auf der heruntergekommenen Plattform seiner Veranda und rauchte, während er in die Nacht hinaus blickte. Sein Blick fing keine noch so geringe Bewegung ein, es war windstill. Und es war spät. Hinter ihm tanzten die Rauchwolken durch die geöffnete Glastür und bauten sich hinter ihm auf, bevor sie sich mit der Nacht verbanden und den Anschein erweckten, als wären sie Teile des Nebels, der hinter den Brombeerbüschen den Fluss bedeckte. Egon rauchte gerade in den Nächten zu viel, wenn er gerade aufgeschreckt war, einem neuerlichen Albtraum entkommen und mit einem dünnen Schweißfilm überzogen, den er stets in der kühlen Nachtluft trocknen ließ.

Heute waren es die Mägen im Innern der Erde, die ihm den Schlaf geraubt hatten, grüngelbe Seen voller zersetzender Säure und darin eingetauchtes Fleisch, das sich zappelnd wehrte.

All das musste so bald wie möglich aufhören, auch wenn er mittlerweile einen Umgang mit den nächtlichen surrealen Landschaften seines Unterbewusstseins gefunden hatte. Er brachte ihnen Interesse entgegen. Er bot ihnen an, die Werkstatt ihrer ausufernden Kreativität zu sein, wenn sie ihn nur schlafen ließen, wohlwissend, dass es sich bei seinem Vorschlag um einen Interessenkonflikt handelte. Er durchpflügte die Dunkelheit mit seinen Augen und dachte daran, dass auch dort draußen das Ungewisse lauerte. Er konnte es zwar gerade nicht sehen, aber wenn er hinaus ginge, würde er in einen Mahlstromm stürzen und möglicherwese genau dort landen, wovon er geträumt hatte. Es konnte zu jeder Zeit alles geschehen und sich dann wieder zurückziehen. Träume hinterließen keine sichtbaren Spuren, aber die Welt um ihn herum tat dies um so mehr. Hier gab es so viele Spuren, die sich kreuzten, widersprachen, in ihrer Fülle unbegreiflich waren, dass es jenen, die diese Spuren nicht lesen konnten, so schien, als wären überhaupt keine Spuren vorhanden.

Doch Egon benötigte die Albträume auch. Sie waren seine Verbindung zur Vergangenheit; andere Spuren, die zwar flüchtiger waren als Fußabdrücke, Briefe, Scherben oder andere Hinterlassenschaften, dafür aber die Verbindungen zwischen den Dingen besser demonstrierten.

Und dennoch hatte sein Weg von einer Niederlage zur nächsten geführt. Er stand immer nur da und erfühlte die Atmosphäre, in der sich viele Jahrhunderte kulminierten, wo er doch den Ort untersuchen sollte, um durch Beweise einen Ablauf rekonstruieren zu können.

Die Villa hinter ihm ächzte. Dass es sich bei ihr um ein Spukhaus handelte, erleichterte die Sache in vielerlei Hinsicht. Niemand würde ihn freiwillig hier aufsuchen. Die meisten Nachbarn wussten gar nicht, dass sie existierte. Einmal wurde er gefragt, woher er käme und er sagte: “Aus der alten Villa”.

“Ich dachte, die hätte man schon längst abgerissen”, war die Antwort, die stellvertretend für andere stand. Und vielleicht hatten sie recht. Es gab keine Villa für sie. Er war der einzige, der sich hier aufhalten konnte, hier in der Vergangenheit, einer ruhigen Zone in den Falten der Zeit. Und die Albträume sagten ihm, wohin er als nächstes gehen musste.

Timeline

Pichen und Dichten

Interessanterweise ist das Leben ein Privatvergnügen. Das neue Jahr steckt noch in den Windeln, aber meine eigentliche Verwirrtheit, die genau genommen eine dynamische Stille ist, treibt ihre Blüten aus. Ich gestehe es mir schon ein: mit dem Schreiben hört man nicht ungestraft auf. Vielleicht ist die Verwirrtheit also ein Phantomschmerz, schließlich sind das Pichen und Dichten ebenfalls Extremitäten.

Möblierte Schatten

Dieser Artikel ist Teil 1 von 31 der Reihe GrammaTau

Unter dem finstren Sonnenstrahl gelegen
	Wogt das schwache Gold, ein Mensch wirds wägen
	Um schwarzen Tinnef zu erstehn. Die Regeln
	Kennen ihren Schöpfer, falten Fallen, stricken vor.
	Der Henker stirbt, der Tod kennt seinen Namen.

	Hinaus will das Licht nach getaner Arbeit,
	In das Vergnügen der großen Sehnsüchte flirren -
		Im Raum hinterlassen Spiegelfragmente
		Das Abbild möblierter Schatten,
		Umrisse schlafender Erinnerungen -
	Um sich zu versichern,
	Das Publikum des Nachthimmels
	Möge eingetroffen sein,
	Verlöschend, geboren, durch die Zeit sickernd.
	Der Henker stirbt, der Tod kennt seinen Namen.