Geschrieben von Alison Littlewood
Ich war nicht auf ein bestimmtes Genre fixiert, als ich mit dem Schreiben begann, aber auf seltsame Weise hatte mich mein fünfjähriges Ich in der Hand. Ich war ein verträumtes Kind, das gerne las und in seiner Fantasie seine eigenen Bücher erfand. Vor allem aber liebte ich Märchen. Es mag seltsam klingen, aber ich glaube, das ist der Grund, warum ich Horror schreibe. Es gibt viele Gründe, Märchen als die ersten Horrorgeschichten zu betrachten. Sie sind voller Schrecken, wie der Tod eines Elternteils, lebendig gefressen oder verlassen zu werden.
In Hänsel und Gretel werden die Kinder ihrem Schicksal im Wald überlassen, weil es für die Familie nicht genug zu essen gibt. Die Eltern in Rapunzel und Rumpelstilzchen verkaufen ihre Kinder. Blaubart testet den Gehorsam seiner Frauen und tötet sie, wenn sie versagen. Es gibt genug Verrat, Eifersucht, Mord, Kannibalismus und Grausamkeit in diesen Geschichten, um jeden Horrorfan zu befriedigen.
Bevor jetzt besorgte Eltern ihren Kindern Märchen verbieten, möchte ich hinzufügen, dass ich das damals alles nicht so schrecklich fand. Als die Gebrüder Grimm ihre Märchensammlung herausgaben, erwähnten sie im Vorwort, dass diese nicht für Kinder geeignet seien, und doch erfreuten sich die Kinder an diesen schaurigen Geschichten, oder? Ich kann mich nicht erinnern, Angst gehabt zu haben, im Gegenteil, ich war von diesen Geschichten absolut begeistert. Die einzige Geschichte, die mich erschüttert hat, war Die kleine Seejungfrau von Hans Christian Andersen, in der die Heldin alles opfert, um die Liebe eines Prinzen zu gewinnen, der sie aber nicht liebt. Aber die Geschichte hat mich mehr zum Weinen gebracht als erschreckt, ich habe sie geliebt und sie hat mir gleichzeitig das Herz gebrochen. Das Grauen und das Blut in den Märchen waren kein Thema. Schließlich waren es nur Geschichten, sicher zwischen den Seiten eines Buches. Und vielleicht war das auch ihr ursprünglicher Zweck, als Märchen noch Teil einer mündlichen Tradition waren, um näher am Feuer zu sein, während die Leute ihre schrecklichen Geschichten über Wölfe, Hexerei und andere Gefahren erzählten, die damals noch präsenter waren als heute.
Märchen waren nie sicher
Damals waren Märchen keineswegs sicher. Sie wurden nicht von den Seiten eines Buches festgehalten. Damals glaubte man an Feen oder kleine Leute, die in ausgehöhlten Hügeln lebten und den Menschen manchmal halfen, manchmal aber auch schadeten und sie betrogen. Menschen, die ihre Grenzen nicht anerkannten, konnten von den Feen geschlagen werden, was uns zum Ursprung der Redewendung „vom Schlag getroffen“ führt. Junge Frauen oder Babys konnten geraubt und gegen Wechselbälger ausgetauscht werden, die sich nicht normal verhielten oder krank wurden und starben. Das Konzept ist faszinierend – so faszinierend, dass ich einen Roman darüber schreiben musste: The Hidden People. Was wäre, wenn die Menschen, die man liebt, nicht die sind, die man zu kennen glaubt? Das ist weit entfernt von den süßen und luftigen Versionen von Walt Disney.
Ich glaube, dass sogar heute noch gilt, dass Märchen auf Erwachsene, für die sie ursprünglich geschrieben wurden, wesentlich verstörender wirken als auf Kinder, und das nicht nur wegen der Morde und der Verstümmlungen, die oft darin enthalten sind. Ich war ein wenig schockiert, als ich vor kurzem Die roten Schuhe von Andersen wieder las, nicht wegen der Darstellung des armen Kindes, das gezwungen ist, zu tanzen, bis es einen Holzfäller darum bittet, ihr die Füße abzuhacken, sondern weil all dies als eine Strafe gedacht war für Kinder, die sich in der Kirche nicht konzentrierten. Wir sind an solche moralischen Lehrstücke nicht gewöhnt. Ein anderes Beispiel ist Perraults Version von Rotkäppchen von 1697, die die Spannung widerspiegelt, die entsteht, wenn sich eine mündliche Geschichte für Erwachsene in eine geschriebene Geschichte für Kinder verwandelt. Das erfindungsreiche Rotkäppchen entweicht nicht länger durch ihre Schläue, sondern wird vom Wolf gefressen. Perrault macht keinen Hehl aus seinen Beweggründen. Er fügt seine eigene „Moral“ in die Geschichte ein, die daraus besteht, junge Mädchen davor zu warnen, mit Fremden zu sprechen.
Natürlich hat Rotkäppchen einen weitaus unheimlicheren Unterton, denn der Wolf repräsentiert einen Sexualstraftäter, aber als Geschichte für Kinder scheint das noch immer eine harte Strafe zu sein, die einen ereilt, wenn man den Pfad zu Großmutters Haus verlässt. Welcher Horror im Vergleich zu einer kleinen Unaufmerksamkeit oder eines kleinen Ungehorsams! Und doch wurde Perraults Version als lehrreiche Geschichten für junge Damen und Herren herangezogen. Auch die Gebrüder Grimm reicherten ihre gesammelten Märchen mit christlichen und moralischen Elementen an und schrieben so die ursprünglichen Fassungen um.
Märchen und Horrorliteratur
Es gibt eine Parallele zur Horrorliteratur, die oft beschuldigt wird, in Hinblick auf das Gute, das gegen das Böse triumphiert, das konservativste Genre überhaupt zu sein. Tatsächlich ist es schwierig, sich den Fragen der Moral zu entziehen, wenn es sich bei ihrem Thema um so fundamentale Fragen wie Verlust, Tod, und was danach kommt, handelt. Ich habe Geschichten gelesen (und tatsächlich auch geschrieben), in denen das Gute nicht über das Böse siegt, aber ich hatte immer das Gefühl, dass die Sympathie der Leser richtig liegt. Und vergessen wir nicht die Slasher-Streifen, in denen Sex zu haben der sicherste Weg ist, unter dem Messer des Killers zu landen.
Als Märchen Teil der literarischen Tradition wurden, waren es nicht nur die moralischen Aspekte, die in den Vordergrund rückten. Sie wurden adaptiert und bearbeitet, um die garstigen Szenen zu entfernen – oder wie einige sagen würden – sie wurden zensiert und gesäubert. Einige der Originale waren für die Rädelsführer dieser Zensur zu nahe an der Horrorliteratur gelagert. Die Geschichten, die für Kinder umgeschrieben wurden, wurden emotional sicherer gemacht. In den früheren Versionen von Hänsel und Gretel oder Schneewittchen sind es die eigenen Eltern, die versuchen, ihre Kinder zu töten. Später erfand man die Figur der bösen Stiefmutter, um die Grausamkeit ein wenig zu filtern.
In einer frühen Version von Aschenputtel schneiden die Stiefschwestern ihre Zehen und Versen ab, damit ihnen der Glaspantoffel besser passt. Aber sie bekommen die Quittung als ihnen Vögel die Augen aushacken. In unterschiedlichen Versionen von Schneewittchen hat der Jäger den Auftrag, die Heldin zu töten und unterschiedliche Körperteile mitzubringen, um den Tod des Mädchens zu beweisen: manchmal ist es eine Flasche voll Blut, ihr Herz, ihre Eingeweide, oder ein blutgetränktes Hemd, oder ihre Lungen, die Leber, die dann von der Königin gekocht und gegessen wird. Die Gewalt ist dabei nicht nur auf die Bösewichte beschränkt. In einer der ersten Versionen von Hänsel und Gretel nehmen der Teufel und seine Frau die Stelle der Hexe ein, und die Kinder entkommen, indem sie ihr die Kehle aufschlitzen.
Natürlich gab es auch eine sexuelle Zensur. In der Version von Dornröschen von 1634 des Italienischen Dichters Basile, hält sich der König, der sie findet, nicht mit Küssen auf, sondern vergewaltigt sie, während sie schläft. Sie erwacht erst, als sie bereits Zwillinge zur Welt gebracht hat und einer von ihnen ihr einen verhexten Splitter aus ihrem Finger saugt.
Als ich meinen Roman Mädchenmorde (Path of Needles) schrieb, beschäftigte mich weitgehend die Frage, was wäre, wenn solche Dinge nicht von den Seiten eines Buches festgehalten würden, sondern in unserer Welt geschähen? Es geht nicht nur um Märchen, aber um ihren Hintergrund; der Protagonist hat die unterschiedlichen Varianten der Erzählungen zu entwirren, um die Handlung freizulegen. Ich entdeckte während meiner Recherche Blut noch und nöcher, und das in Geschichten, die mir einigermaßen vertraut sind. Dabei begann ich nicht einmal bei jenen, die sich der Bearbeitung über all die Zeit hinweg widersetzt hatten, aber irgendwie ins Undeutliche abgedrängt wurden; wie zum Beispiel Wie Kinder Schlachtens miteinander gespielt haben, das in Jack Zipes Übersetzung The Original Folk and Fairy Tales of the Brothers Grimm enthalten ist. Hier spielen zwei Brüder Metzger und Schwein. Der Metzger sticht das Messer in des Bruders Hals. Die zornige Mutter kommt angerannt, schnappt sich das Messer und sticht es dem mörderischen Bruder ins Herz. Als sie ins Bad zurückging, wo sie ein anderes Kind allein gelassen hatte, musste sie erkennen, dass dieses mittlerweile in der Wanne ertrunken war – aus Traurigkeit darüber, erhängte sie sich selbst. Was sollte sie auch sonst tun?
Ob sie nun mit dieser Blutrünstigkeit übereinstimmten oder nicht, es gibt viele Autoren, die diese wilden, bösen, gefährlichen Feen zurück brachten und sie gegen Erwachsene richteten, wie etwa Angela Carter in Blaubarts Zimmer, oder A. S. Byatt in Der verliebte Dschinn. Außerdem haben wir Anthologien von Ellen Datlow und Terri Windling, und das Werk von Neil Gaiman, Sarah Pinborough, Angela Slatter, S. P. Miskowski, Tanith Lee, und dem schmerzlich vermissten Graham Joyce. Feen weigern sich, zu verschwinden, und sie widerstehen dem Versuch, sie sicherer zu machen, vielleicht weil sie das Wilde, Sinnliche, Gefährliche, Unbezähmbare, Geheimnisvolle, den mysteriösen kreativen Teil von uns selbst repräsentieren.
Zweimal Carrie im Film
Merkwürdig, es war erst neulich, dass mir auffiel, dass mein Lieblingsroman von Stephen King, Das Mädchen, im Grunde nichts anderes ist, als eine Version von Rotkäppchen. King kehrt darin zu einer ursprünglichen Heldin zurück; eine kleine Protagonistin, die sich im Wald verirrt, hat keinen Holzfäller, der kommt und sie rettet, aber sie muss einen Weg finden, zu überleben. Und Carrie kann man getrost als Version von Aschenputtel betrachten. Sie ist ein unterdrücktes und einsames Mädchen, die glaubt, sie habe eine Chance, eine Prinzessin zu werden, zumindest in ihrer kleinen Highschool-Welt, auf diesem unseligen Ball. In einem Buch von Tony Magistrale über Stephen King, sagt dieser:
„Wenn ich es genau betrachte, sind die Geschichten, die ich schreibe, nichts weiter als Märchen für Erwachsene.“
Ich kann dem nur beipflichten, aber ich würde auf das „nichts weiter“ verzichten. Ich liebe Märchen noch genauso wie als begeistertes fünfjähriges Mädchen. Sie enthalten so viel von dem, was ich an der Literatur liebe: Schönheit, Dunkelheit, die wildesten Räume der Fantasie, Geheimnisse, das Unbekannte, und natürlich das Potential für ein bisschen Magie, das in der Welt existiert. Und es ist wirklich nur ein kleiner Schritt von den magischen Märchen bis zur dunklen, übersinnlichen Fremdartigkeit meiner bevorzugten Horrorgeschichten; denn Märchen waren zu allen Zeiten verdammt düster.