22. Dezember 2024

Die seltsamen Geschichten des Robert Aickman

Robert Aickman ist selbst in seiner englischen Heimat ein vergessener Autor. Der 1914 geborene und 1981 an Krebs gestorbene Schriftsteller ist für Peter Straub der “tiefgründigste Autor” von Horrorgeschichten des 20. Eine Leserschaft, die ihn über den Kultstatus hinausbrachte, fand er zu Lebzeiten nicht. Das hat der renommierte britische Verlag Faber & Faber zu seinem 100. Geburtstag im Jahr 2014 geändert und eine Sammlung seiner Erzählungen herausgebracht, die lange nicht mehr gedruckt wurden.

Bei uns brachte der DuMont-Verlag zu Beginn der 1990er Jahre zwei schmale Büchlein mit willkürlich zusammengestellten Geschichten heraus und bis zum heutigen Tag galt es als ziemlich unwahrscheinlich, dass wir mehr von diesem brillanten Autor bekommen. Doch manchmal geschehen tatsächlich Wunder, und so hat sich der Festa-Verlag der Sache angenommen und bringt in 6 Bänden die Werke des englischen Genies heraus.

48 strange stories, wie er seine Geschichten selbst nannte, sind von Robert Aickman bekannt. Für seine “Pages from a Young Girl’s Journal” erhielt er 1975 den World Fantasy Award.

Um Aickman zu verstehen, muss man viel Aickman lesen. Laird Barron sagt, das sei Arbeit. Man kehrt zu seinen Geschichten zurück, sucht nach einem Zugang, einer Nahtstelle, dem versteckten Haken. Und wenn man glaubt, ihn gefunden zu haben, wird man später, wenn man wieder zu diesen Geschichten zurückkehrt, feststellen, dass sich alles verändert und verschoben hat. Aickman ist einer jener seltenen Autoren, die einen Virus im Gehirn hinterlassen. Mit ihm zu interagieren bedeutet, eine Art Quantenverschränkung zu erleben. Seine Geschichten nehmen das Unbewusste und mutieren es auf eine Weise, wie es die Aufgabe transgressiver Literatur ist.

Aickman assistierte seinem Vater im Architekturbüro, bevor er 1944 sein eigenes Büro gründete. 1951 veröffentlichte er zusammen mit seiner Sekretärin Elizabeth Howard eine Sammlung von Kurzgeschichten.

Dark Entries

Im Jahr 1964 erschien seine erste eigene Sammlung mit dem Titel “Dark Entries”. Zu seinen Lebzeiten erschienen fünf weitere Bände, ein Roman und eine Autobiographie. Zwischen 1964 und 1972 war er Herausgeber der ersten acht Bände der Reihe “Fontana Book of Great Ghost Stories”. Eine letzte Sammlung, ein Roman und der zweite Teil seiner Autobiographie wurden posthum veröffentlicht. Seine besten Geistergeschichten wurden in den Bänden “The Wine Dark Sea” (1988) und “The Unsettled Dust” (1990) veröffentlicht.

Robert Aickman
Robert Aickman; (c) R. B. Russel

Aickmans Großvater war der viktorianische Schriftsteller Richard Marsh, der 1897 mit “The Beetle” (dt. “Der Skarabäus”) einen Bestseller landete, der sogar Bram Stokers Dracula in den Schatten stellte.

In deutscher Übersetzung ist es natürlich noch schwieriger, etwas von Aickman zu finden, aber nicht aussichtslos. Suchen Sie zum Beispiel nach “Glockengeläut” und “Schlaflos” aus DuMonts Bibliothek der Phantastik.

Aickman war ein kultivierter Ästhet, der Ängste thematisierte, die auch die von Kafka gewesen sein könnten, in einem präzisen, etwas erhabenen Stil, als stünde er hinter einem Schleier der Gelehrsamkeit, von dem aus er den Leser anspricht. Aber Aickman gehörte einer späteren Generation an, war freier und konnte die wirbelnden Ströme der Sexualität tiefer in seine eindringlichen Erzählungen eindringen lassen. So behält auch der Titel seines Buches, “Dark Entries”, etwas von der dunklen Doppeldeutigkeit des Nächtlichen und Obszönen.

In Aickmans Erzählungen wird das Unheimliche, das seinen Figuren auflauert, nie entlarvt. Diese sind halb an ihrem eigenen Untergang beteiligt, wenn sie mit schlafwandlerischer Sicherheit wie in einem Traum ins Unbekannte gezogen werden.

Aickmans ‘seltsame Geschichten’ sind Rätsel ohne Lösung, jede endet mit einer melancholischen Note über unser zweifelhaftes, unzulängliches Wissen, über die Mehrdeutigkeit der Wirklichkeit.

Marvin Keye schrieb in seinem Vorwort zu der von ihm herausgegebenen Anthologie „Masterpieces of Terror and the Supernatural“, er habe zunächst gezögert, die Geschichte „The Hospice“( Das Hospiz) in die Sammlung aufzunehmen, weil er nicht wusste, was sie sagen wollte.

Die exemplarische Geschichte

Mit dieser beispielhaften Geschichte beginnt auch “Glockengeläut”. Die beiden Bände der Bibliothek des Phantastischen, die einst bei DuMont erschienen, verdanken wir Frank Rainer Scheck, und auch wenn es Anfang der 90er Jahre üblich war, eine Mischung aus mehreren Originalveröffentlichungen zu präsentieren – aus heutiger Sicht ein Ärgernis -, können wir uns glücklich schätzen, überhaupt zwei schmale Bände in Übersetzung vorliegen zu haben, zumindest bis jetzt.

“Das Hospiz” ist wohl eine der wichtigsten Erzählungen Aickmans. Auf relativ wenigen Seiten wirft er Fragen des Übergangs, der Identität und des Handelns auf. Die Veränderlichkeit der Wahrnehmung, die dünne Schicht von Loyalität und Sicherheit. Aickmans Werk stellt oft eine wichtige These der gesamten unheimlichen Literatur vor: Das Leben ist viel seltsamer, als wir denken. Oft fragt er: Was wissen wir eigentlich? Die Antwort kann nur immer dieselbe sein: Nichts, und vielleicht noch weniger. Man liest diese Geschichte sechs oder sieben Mal (vielleicht auch öfter) und kommt immer noch nicht dahinter. Aber genau das ist ihre Absicht. Die besten Geschichten sind die, die ins Unterbewusstsein kriechen und flüstern und rätselhaft bleiben. Sie führen uns ins Dunkel und lassen uns dort allein. Vielleicht finden wir den Weg zurück, vielleicht auch nicht. Viele Geschichten von Kafka funktionieren so, viele von Cortàzar auch – und natürlich die meisten von Aickman.

Aber Aickman ist kein Avantgardist, der seinen Lesern krude Rätsel aufgibt. Das Hospiz ist in einer einfachen, fast flachen Sprache geschrieben, mit einem Minimum an Erschütterung und Bewegung: Ein Reisender verirrt sich auf einer Straße irgendwo in den West Midlands, kommt durch eine Siedlung, die aussieht wie im 19. Jahrhundert, mit hohen Bäumen und einsamen Häusern, sieht das Schild, das gutes Essen und andere Annehmlichkeiten verspricht, und hat fast kein Benzin mehr. Zu allem Überfluss wird er, als er kurz aussteigt, um sich grob zu orientieren, von etwas, das eine Katze gewesen sein könnte, ins Bein gebissen. Dieser Biss, der sich vielleicht entzünden könnte, spielt im weiteren Verlauf nur noch die Rolle, dass er da ist und schmerzt. Das ist die erste Täuschung der Erwartungshaltung.

Im Hospiz wird er freundlich empfangen und kommt gerade rechtzeitig, um am Abendessen teilzunehmen. Die Erzählungen und Geschehnisse sind immer nah an einer gewohnten und erwarteten Reaktion, einer bekannten und verständlichen Szene, aber sie treffen nie das Bekannte, das jemals Erlebte. So wird ihm das Essen in mehreren Gängen serviert, exorbitant, gewaltig und unüberwindbar – und damit beginnt ein seltsamer Reigen, der zwar nie ins Groteske abdriftet, aber einiges aus der Atmosphäre des Theaters des Absurden schöpft.

Sexualisierte Metafiktion

Ein weiteres Beispiel für eine Erzählung, die erst beim erneuten Lesen ihre ganze Kraft entfaltet, ist “Ravissante” (dt. bezaubernd, hinreißend). Zugleich ist diese faszinierende Erzählung eine von Aickmans ungewöhnlichsten, die durchaus ins Perverse abdriftet. Der für Aickman typische introvertierte Erzähler lernt auf einer Cocktailparty einen Maler kennen. Ein spröder, unnahbarer Mann, enttäuschend in seinem Auftreten, aber ein Maler mit einer gewissen Ausdruckskraft. Seine Frau ist noch kühler und uninteressanter, nur die Karikatur einer Frau, die fast nie etwas sagt. Der Maler stirbt und hinterlässt dem Erzähler sein gesamtes künstlerisches Werk, von dem er nur ein Bild und einen Stapel Briefe und Schriften behält. Was er nicht mitnimmt, verbrennt die Witwe. Die eigentliche Erzählung beginnt, als der Erzähler eines dieser Papiere liest, das den Aufenthalt des Malers in Belgien dokumentiert. Der Inhalt zeugt von einem Besuch bei der steinalten Witwe eines symbolistischen Malers.

Es ist offensichtlich, dass dieses Haus, in dem Madame A. lebt, auf einer anderen Realitätsebene existiert. Die Witwe selbst ist herrisch, das Haus ist schwach beleuchtet und die Realität scheint einen unangenehmen, fließenden oder verschwommenen Aspekt anzunehmen. Madames Bemerkungen sind seltsam und beunruhigend, und als ein geisterhafter Pudel mit Spinnenbeinen durch den Raum streift, zieht Aickman die Schrauben des Unheimlichen an. Der Aufenthalt des Malers wird von Mal zu Mal bizarrer und erreicht seinen seltsamen Höhepunkt, als Madame ihn auffordert, die Kleider ihrer abwesenden Stieftochter Crysothème zu berühren und zu untersuchen, indem sie ihm befiehlt, sich darauf zu knien, darauf zu treten und die Wäsche zu küssen.

Der Maler gehorcht jedem dieser unmöglichen Schritte. Diese psychosexuelle, fetischistische Auseinandersetzung mit den Kleidern Chrysothèmes gipfelt in der Aufforderung, eine Truhe voller Unterwäsche zu öffnen. Auch hier gehorcht er, getrieben sowohl von Madames Befehl als auch von seinem eigenen Verlangen, und erklärt, dass der Duft berauschend sei. Er verliert sich in seinen Träumereien und vergisst die Zeit, bis er merkt, dass er friert und seinen Geruchssinn verloren hat. Als er auch noch ein selbstgemaltes Bild an der Wand entdeckt, hat er genug und flieht aus dem Haus. Auf dem Weg nach draußen folgt ihm die Frau mit der Schere und bittet ihn um eine Haarlocke als Andenken.

Die Geschichte endet mit der Erosion des Glaubens an eine materielle Realität. Aickman führt Symbole und diffuse Erscheinungen auf, die er auch in der Erzählung verwendet. Der Maler zweifelt an allem, was er mit Madame erlebt hat, und weckt damit auch die Zweifel des Lesers. Die mögliche Erklärung für all dies ist die klassische Freudsche Trinität von Ich, Über-Ich und Es; der Maler dringt mehr oder weniger in die Substanz seines eigenen Bewusstseins ein, buchstäblich und bildlich. Dies entspricht Aickmans Vorstellung von einer gelungenen Gespenstergeschichte, nämlich dass der Autor das Unbewusste für poetische Zwecke nutzen sollte. Wie bei vielen Geschichten Aickmans ist diese Erklärung jedoch nicht befriedigend, oder genauer gesagt, Aickmans Geschichten gehen über dieses vereinfachte System hinaus.

Der umgekehrte Succubus

Das Thema von “Ravissante” ist der Künstler, der sich seinem eigenen Schaffensprozess entfremdet fühlt. Der Maler glaubt, dass sein Werk von “jemand anderem” stammt. Dies wäre ein Beispiel für Inspiration als Besitz. Betrachtet man die Geschichte aus diesem Blickwinkel, wird sie metafiktional. Unser Maler gelangt durch einen schattigen und fleischigen ontologischen Tunnel zu einem Haus, das seinen eigenen Geist repräsentiert. Dort wird er zur Quelle seiner eigenen Inspiration geführt. Der Muse selbst kann er jedoch nicht persönlich begegnen. An diesem Punkt ist er von dieser Quelle auf eine ziemlich unheimliche, onanistische Weise besessen. Obwohl es sich um eine Besessenheit handelt, die durch gebrauchte Gegenstände vermittelt wird, nämlich durch Kleidung, die auf seltsame Weise als Ersatz dient, bleibt es eine fruchtbare Besessenheit. Chrysothème ist nicht so sehr ein Sukkubus, der Energie entzieht, sondern paradoxerweise ein weiblicher Inkubus, der Energie gibt. Sie ist ein abwesender Inkubus, aber dennoch ein Inkubus.

Diese beiden Beispiele sind unvollständig in ihrer kurzen Analyse, die im Grunde nur dazu dienlich ist, sich der Faszination von Aickmans strange stories auszuliefern, die so rar auf uns gekommen sind und die mehr Aufmerksamkeit verdienen, weil sie zur Basis jeden Verständnisses über die moderne Weird Fiction gehören, ohne deren Kenntnis ein schrecklich großer Teil für immer fehlen würde.

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