Im Pantheon der Comic-Helden gibt es nur wenige, die sich einer so anhaltenden Popularität und eines so großen Einflusses rühmen können wie Tim, der im belgischen Original Tintin heißt.
Aber es ist nicht nur seine kulturelle Bedeutung, die Tintin so langlebig macht. Es ist seine universelle Anziehungskraft. Tims Abenteuer führen ihn um die ganze Welt, von den Tiefen des Amazonas-Regenwaldes bis zu den eisigen Weiten der Arktis. Er ist ein Held, der nationale Grenzen überwindet, und seine Geschichten sind heute noch genauso aktuell wie bei ihrer Erstveröffentlichung vor fast einem Jahrhundert.
Vom Pfadfinder zu Tim und Struppi
Der Schöpfer von Tim und Struppi war natürlich Hergé. Sein richtiger Name war Georges Remi: Sein Pseudonym leitet sich von der französischen Aussprache seiner Initialen RG in umgekehrter Reihenfolge ab. Er wurde 1907 in Etterbeek geboren und war gerade 21 Jahre alt, als er Tim und Struppi erfand, der am 10. Januar 1929 in Le Petit Vingtième, der wöchentlichen Jugendbeilage der belgischen Tageszeitung Le Vingtième Siècle, debütierte.
Wie viele andere Autoren schien Hergé in seinem jugendlichen, kühnen und weltreisenden Protagonisten die Erfüllung eines Traums zu sehen. Und obwohl er Tim und Struppi in so jungen Jahren auf den Markt brachte, gab es bereits Vorläufer des furchtlosen Abenteurers.
Im Alter von 18 Jahren schuf Hergé den belgischen Pfadfinderführer Totor, der in Texas in verrückte Abenteuer verwickelt wird. Die Serie erschien drei Jahre lang in der Pfadfinderzeitschrift Le Boy Scout Belge.
Totor ist zwar grob gezeichnet, enthält aber Schlüsselelemente, die später für Tim und Struppi bestimmend sein werden. Da ist die Form von Totor, der klare Umriss und das einfache Gesicht. Es gibt einen Wechsel von Untertiteln unter den Panels zu Sprechblasen. Und dann ist da die Figur: Tim verdankt seine Handlungen und seine Einstellung tatsächlich den Pfadfindern. Hergé selbst trat im Alter von 12 Jahren den Pfadfindern bei und nahm an Sommerlagern in Italien, der Schweiz, Österreich und Spanien teil, wo er sogar Hunderte von Kilometern durch die Pyrenäen und Dolomiten wanderte.
Hergé ließ sich von zahlreichen Quellen inspirieren, darunter Abenteuerromane wie Die Schatzinsel von Robert Louis Stevenson und Huckleberry Finn von Mark Twain. Sein Vorstoß in die Welt der Comics wurde jedoch durch das aufkommende Medium Film beflügelt. Von den Zeichentrickfilmen, die Walt Disney zu Beginn der 1920er Jahre erfand, bis hin zum komödiantischen Genie von Pionieren wie Charlie Chaplin und Buster Keaton hinterließ Hollywood einen unauslöschlichen Eindruck auf den jungen belgischen Künstler.
Ligne claire
Hergé arbeitete zunächst als Angestellter, dann als Illustrator bei Le Vingtième Siècle. Diese Zeitung war nicht nur konservativ und katholisch, sondern oft auch faschistisch und antisemitisch. Ihr Herausgeber, der Abbé Norbert Wallez, bewahrte auf seinem Schreibtisch ein signiertes Foto von Benito Mussolini auf, dem Führer der italienischen Faschisten. Als Hergé Tintin auf den Markt bringen wollte, wollte er ihn für sein erstes Abenteuer nach Amerika schicken, wo er in die Fußstapfen von Totor treten sollte, aber Wallez bestand darauf, dass er in die Sowjetunion reisen sollte, wo er die Kommunisten als grausame Gangster entlarven sollte.
Der Comic, aus dem später das Album Tim und Struppi im Land der Sowjets wurde, war ein sofortiger Erfolg. Die Leser waren begeistert von den Abenteuern, die Hergé mit viel Humor und Charakteren ausstattete – nicht zuletzt mit Tims klugem und treuem Foxterrier.
Sie wurden in einem Stil illustriert, den Hergé als Pionier der „ligne claire“ bezeichnete: einfache, fast gleichmäßig dicke Linien ohne Schattierungen. Seine Technik, ein klares Bild mit robusten, universellen Elementen zu schaffen, verlieh seinen Werken einen unverwechselbaren visuellen Stil und beeinflusste spätere Zeichner wie den Asterix-Zeichner Uderzo und Peyo von den Schlümpfen.
Hergé war auch ein Meister des Tempos und der Erzählstruktur. Er verstand es, die Möglichkeiten des Mediums Comic voll auszuschöpfen, indem er Geschichten schuf, die nahtlos von Panel zu Panel und von Seite zu Seite übergingen. Seine Fähigkeit, komplexe Handlungen und vielschichtige Charaktere zu entwickeln, setzt bis heute Maßstäbe für das Medium.
Schon bald wurde Tintin an andere Brennpunkte der Zeit geschickt, von Al Capones Chicago bis zum japanisch besetzten China. Die frühen Alben – Tim und Struppi im Kongo, Tim und Struppi in Amerika und Die Zigarren des Pharao – zeigen Hergés Talent, lebendige, fantasievolle Welten zu erschaffen.
Tim und seine Freunde reisen weit und treffen unterwegs auf verschiedene Kulturen, Sprachen und Sitten. Hergé war bekannt für seine akribischen Recherchen. Wie Jules Verne verließ Hergé nur selten seinen Schreibtisch, aber er machte aus seinem Protagonisten einen Weltenbummler, der Kulturen kennenlernte, die sein Schöpfer nur aus Büchern und Zeitschriften kannte.
Unzählige Stunden verbrachte er mit dem Studium von Geschichte, Geographie und Naturwissenschaften, um seine Geschichten so realistisch wie möglich zu gestalten. Seine Liebe zum Detail erstreckte sich auf jeden Aspekt seiner Arbeit, von der Kleidung seiner Figuren bis hin zur Architektur der Gebäude, die sie besuchen. So ist zum Beispiel die Rakete, mit der Tim zum Mond fliegt, minutiös gezeichnet. Die vielen Fahrzeuge, die Tintin benutzt – Autos, Flugzeuge, Schiffe, Züge und Panzer – sind exakte Abbilder der damaligen Zeit. Und selbst Szenen wie die Inkas in Gefangene der Sonne stammen aus zuverlässigen Quellen wie der Zeitschrift National Geographic.
Tim verkörpert das Ideal eines jungen Helden: mutig, einfallsreich, mit tadellosen Manieren und immer bereit, für das Richtige einzustehen. Ob er gegen Bösewichte kämpft, Schmuggler überlistet oder einfach nur exotische Länder erkundet, er ist eine Figur, zu der die Leser aufschauen und die sie bewundern können.
Ewig und heilig
Die Comic-Strips und Alben von Tim und Struppi erschienen über ein halbes Jahrhundert lang, aber Hergé behauptete, dass sein Held immer gerade 18 Jahre alt war. Eigentlich war er Reporter, aber es scheint, als hätte er nie Termine oder Redakteure gehabt. Im ganzen Werk gibt es nur eine einzige Szene, in der er einen Bericht abgibt. Trotzdem wird Tim wegen seiner scheinbar unbegrenzten Reisemöglichkeiten manchmal als Schutzpatron der Journalisten angesehen.
Im Laufe der Alben sammelte Tim Freunde an. Zu seinem Gefolge gehörten der griesgrämige Seemann Kapitän Haddock, der exzentrische Professor Balduin Bienlein , die tollpatschigen Detektiv-Doppelgänger Schulz und Schultze mit ihren Bowlerhüten und die eingebildete Operndiva Bianca Castafiore. Seine Abenteuer wurden immer komplexer, vom Drogenschmuggel über Spionage im Kalten Krieg bis hin zur Raumfahrt. Tim erreichte den Mond 15 Jahre vor Neil Armstrong.
Die Kritiker
Trotz ihrer Popularität sind die Geschichten von Tim und Struppi nicht unumstritten. Einige Kritiker warfen Hergé Rassismus und kulturelle Unsensibilität vor und verwiesen auf Elemente der frühen Geschichten wie die karikierende Darstellung afrikanischer Stammesangehöriger in Tim im Kongo (obwohl dieses Album in Afrika besonders populär ist).
Später wurde Hergé als Kriegskollaborateur verhaftet, weil er weiterhin Karikaturen für die Zeitung Le Soir zeichnete, die während des Zweiten Weltkriegs von den Nazi-Besatzern kontrolliert wurde. Er verbrachte eine Nacht im Gefängnis, aber seine Akte wurde schließlich ohne Anklage geschlossen. Dennoch verfolgten ihn Gerüchte und Anschuldigungen sein Leben lang.
Nachwirkung
Hergé starb 1983, kurz nachdem er mit einem neuen Buch begonnen hatte – Tim und die Alpha-Kunst -, in dem es um eine Verschwörung zwischen moderner Kunst und einem religiösen Kult geht. Es ist unklar, wohin die Handlung geführt hätte, da Hergé nur einige wenige Seiten skizzieren konnte – und er sagte ausdrücklich, dass die Tim und Struppi-Serie mit seinem Tod enden würde.
Heute wehrt sich die Hergé-Stiftung dagegen, Tintin als Comic zu bezeichnen, da es sich ihrer Meinung nach um etwas Kunstvolleres und Originelleres handelt.
Doch auch hundert Jahre später ist die Popularität dieser Comics ungebrochen. Von den 23 abgeschlossenen Bänden, die zwischen 1929 und 1976 erschienen, sollen weltweit mehr als 250 Millionen Exemplare verkauft worden sein (die Hergé-Stiftung weigert sich, genaue Zahlen zu nennen). Auch die Tintin-Industrie ruht sich nicht auf ihren Lorbeeren aus, sondern bereitet sich darauf vor, ihr Angebot für die nächste Generation zu aktualisieren.