22. Dezember 2024

Die Gasse der sprechenden Häuser (Druckversion)

In meinem Zimmer gibt es keinen Tisch, an dem vier Stühle stehen könnten, in meinem Zimmer gibt es nichts. Das Zimmer ist nicht etwa leer, es ist vielmehr angefüllt mit allem, was nicht hier ist. Kein Tisch, kein Bett, kein Teller, kein Besteck. Es ist unmöglich, etwas hinein zu tun, etwa einen Stuhl, um darauf zu sitzen, solange ich hier bin. Um so mehr Dinge nämlich hereingebracht würden, desto mehr würde ich verschwinden, bis ich, wenn der Raum komplett ausgestattet wäre, mit allem, was man so braucht, mich völlig aufgelöst haben würde. Ich meine damit nicht etwa, dass man mich dann nicht mehr sehen könnte, dass ich unsichtbar wäre, nein, ich wäre ganz einfach nicht mehr da. Ausgelöscht. In diesem Zimmer hielt ich mich den ganzen Tag über auf und auch den überwiegenden Teil der Nacht. Ich verließ das Zimmer nur in den frühen Morgenstunden zwischen 2 und 3 Uhr, wenn mir die Existenz der Dinge am wenigsten Schaden zufügen konnte. Dann schlich ich düstere Wege entlang, verschwand mit den Schatten in Seitengassen oder durchwanderte die langgestreckte, unbeleuchtete Parkanlage. Der einzige andere Zeitvertreib war die Briefe zu lesen, die mir ein Unbekannter regelmäßig unter der Tür hindurch schob. Es war nie mein Bedürfnis, nachzusehen, wer mir die Briefe brachte. Ganz ruhig saß ich auf dem Boden und wartete auf die sich entfernenden Schritte. Erst dann ging ich hinüber, hob den Brief auf, der wie stets in einem strahlend weißen Kuvert, ohne Absender oder Adressat, geliefert wurde.

Und die Dächer krächzen. Und die Fenster schlagen.

In den Bergen sterben sie auf Steinaltären, das Blut beleuchtet die Gipfel, die Nacht in Dunkelrot. Die gierigen dürren Hochbäume, die von sehr wenig zehren, richten ihre Wurzeln nach dem Blutfluss aus, aber dieser rinnt unaufhörlich durch Felsspalten an ihnen vorbei.  

Aus den Knochen werden Symbole, von dem liegengelassenen Fleisch ernährt sich die doppelköpfige Wölfin, um genügend Milch für ihre verkommene Brut parat zu haben, die mit Symbolen und Knochen spielt. Ihre Absicht ist es, eine Stadt zu gründen – eine weitere Stadt zwischen Blutflüssen und dem reißenden Geräusch der Zähne. Im Fell der Wölfin glitzert der Sporenmantel des Hauses in der stummen Gasse. (Stumm, weil das Nichts so nahe liegt.)

Die Häuser in dieser Gasse, deren letztes Gehöft einst eine Milchwirtschaft beherbergte (der Wind nimmt dort nicht selten langgezogene Kuhlaute an) waren alt und längst mit ihren Flanken, Gärten und Erkern aneinander gewachsen. Windschief darbten sie in der Sonne oder ergaben sich der flink wechselnden Witterung, die längst selbst Bestandteil ihrer kühlen Außenmauern war. Ihre Zeit des Beobachtens und Speicherns war seit Jahren vorbei, jetzt sonderten sie all die Eigenheiten wieder ab, derer sie in Jahrhunderten Zeuge geworden waren. Kein Tun und keine Verwicklung war ihnen fremd geblieben, aber noch öfter war ihnen das Animalische begegnet. Was geschehen konnte, war in ihrer Obhut geschehen. Und so fanden die Häuser zu ihrer Sprache, die aus dem Knarren ächzender Dielenbretter, aus rumpelnden Balken, die sich in ihrem Dachbett dehnten, Windkanälen um die Giebel herum, Fugen, Luken, Brechungen, Zischen in alten Rohrleitungen, und dem Resonanzraum des ganzen Gebäudes mit seinen besonderen Eigenheiten bestand. Vorgesehen zum Abriss waren sie längst, entsprachen nicht mehr der Vorstellung einer von der Moderne degenerierten Gesellschaft, die sich körperlos und körperfremd von allem distanzierte, was sie an das Leben erinnerte, wie es wirklich war: schmutzig und echt, einst aus dem Ozean gespien, von dem keiner mehr etwas weiß und der sich selbst nur noch vage an uns erinnert, obwohl sein Gedächtnis zeitlos ist, denn das Gedächtnis des Ozeans ist ein Schmerzgedächtnis.

Die Häuser nähren sich von jedem Kadaver, von jedem Gedanken, der dem Trieb entspricht, der Neugier; von jeder Tat. Sie nähren sich vom Spiel und vom Blumenschmuck, vom Ramsch in den Kellern, den verzagten Utensilien und von der Geometrie der Einrichtungsgegenstände, von den Bildern an den Wänden, den Erinnerungsstücken, die wie eine Batterie aufgeladen werden.

Es gibt eine Theorie, nach der die Form der Pyramide am besten dazu geeignet ist, Energien zu konservieren, und das mag stimmen – aber in Pyramiden fand nie das Leben statt, das anderes Leben absorbiert, und so haben diese Bauwerke uns nichts zu sagen.

Die Substanz der historischen Architektur, die wir für uns ersonnen haben allerdings bringt die Genauigkeit unserer Interaktionen wie einen Rekorder zur Geltung und zieht uns nicht selten in den Schlund des Verderbens, dem wir zum Sinnbild geworden sind. Wir sind das Maskottchen der geistigen Nacht, wir sind die furchterregenden Konstellationen in den abgelegenen Winkeln, und sobald das Licht erloschen ist, sind wir die Opfer unseres persönlichen Wahnsinns.

In der Gasse, die in ein totes Ende mündet, stehen fünf leere Häuser zum Abriss bereit, und bevor sie von der schweren Birne getroffen und von Planierraupen zum Einsturz gebracht werden, erzählen sie sich gegenseitig, was sie von uns wissen, denn nur das Erzählen schafft Gewissheit.

Die wenigen Schattenreste in der Erde bei Sonnenlicht lassen den Pilz kurz zusammenfahren, unbedrängt aber in seiner gesamten Wucherung zehrt er von seinem kilometerweiten Dasein. Nur die Zunge hat sich in die nasskalte Wand gegraben, nur seine Sporen sind das sichtbare Zeichen seines unzweifelhaften Wachstums, das er mit Schaben und Wanzen gemeinsam hat. Nässe und Furcht, das schleimige Schimmern der Panzer, der Verwachsungen, das Projekt des Befalls, Lebenszweck der Wucherung, der Verzehr von Frische, Reinheit, Fleisch, Organ.

Die tropfenden Wasserhähne, die trotz ihrer beendeten Nutzung Schmerz absondern, klingen barock in den zersprungenen Auffangbecken.

Das Haus, in dem ich mich befinde, nutzt seine Gefäße und formuliert damit das Unbekannte, Überhörte, das nur die anderen Häuser verstehen. Und sie antworten durch das Heulen ihrer Schlüssellöcher, durch das Zischen im Kamin.

»Wer mag bei dir sein?« 

»Er sieht sich den Schimmel an, als ob es ein menschengemachtes Kunstwerk wäre. Und er bekommt Briefe, die ein fünfjähriges Kind täglich unter der Tür durchschiebt. Er spricht mit meinen Gespenstern.« 

»Ich würde ihn gerne sehen. Schickst du ihn zu mir?« 

»Ich glaube nicht, dass er beabsichtigt, von hier zu verschwinden. Der Pilz antwortet ihm.« 

Und die Dächer krächzen. Und die Fenster schlagen.

In den Bergen sterben sie auf Steinaltären, das Blut beleuchtet die Gipfel, die Nacht in Dunkelrot. Die gierigen dürren Hochbäume, die von sehr wenig zehren, richten ihre Wurzeln nach dem Blutfluss aus, aber dieser rinnt unaufhörlich durch Felsspalten an ihnen vorbei.

Aus den Knochen werden Symbole, von dem liegengelassenen Fleisch ernährt sich die doppelköpfige Wölfin, um genügend Milch für ihre verkommene Brut parat zu haben, die mit Symbolen und Knochen spielt. Ihre Absicht ist es, eine Stadt zu gründen – eine weitere Stadt zwischen Blutflüssen und dem reißenden Geräusch der Zähne. Im Fell der Wölfin glitzert der Sporenmantel des Hauses in der stummen Gasse. (Stumm, weil das Nichts so nahe liegt.)

Tatsache ist, dass man mich gestern aus diesem Haus geführt hat, in dem ich angeblich unbefugt seit Monaten den Wassertropfen lauschte, den feuchten Schimmelpilz an den Wänden streichelte, den ich für das Leuchtmoos hielt, dieser einzigartigen Pflanzengattung, die ausschließlich in meiner Heimat zu finden ist, die ich an Raum und Zeit verloren hatte, an die Vergänglichkeit, der sich alles Leben unterwirft.

Dieses Haus sah aus wie der Magen eines ausgeweideten Tieres, in den Rinnstein vor der Schlachterei geschmissen. Es barg dreizehn gallgrüne Zimmer mit jeweils zwei von einer Nikotinpatina zur Blindheit berufenen Fenstern. Ich sage Fenster, doch waren es Augen, geweitet von dem, was sich einst auf den jetzt leergefegten Straßen abgespielt hatte, nach innen gekehrt, ausgelaufen wie angestochener Eidotter. Es waren jene fürchterlichen Narben, wie sie auf jedem Asphalt zu finden sind. Sie bestanden aus Entbehrungen, aus der Abwesenheit von Sinn, die ihren milchigen Nebel ausmachte. Die Zeit ist ein großes, böses Ding. Es ist die Verwandtschaft mit dem Leib der Fassade aus Glas und Beton, aus Unrat und abgestorbenen Seelenkammern, stinkend wie altes, in Verwesung übergegangenes Blut, blasphemisch aufgebläht, ein Schwamm, transformierend von zuvorkommender Höflichkeit in die leibhaftige Qual des Erstickens.

Wie dieses Haus gab es viele Häuser, eingehüllt in die Abgase frevelhafter Gedanken, vom Wind aufgewirbelter, zu Staub gemarterter Leichenteile. Willkommen ist der taumelnde Tod! Die Fetzen seines Staubmantels rasierten die verkrüppelten, blattlosen Sträucher und Bäume, Ruinen einstigen Lebens. Die Sense schürfte rostig und stumpf über zerbröckelte Bordsteine in dieser Kloake einer menschlichen Siedlung, die Erlösung durch die Hand eines Mörders verdient hätte. Aber der Tod war in Wirklichkeit nur der Dreck, der von den Bergen geblasen durch die geschlagenen Schneisen pulverte.

Das alles erkannte ich, obwohl sie behaupten, es sei nur ein gewöhnliches Haus, das man aus Geldmangel noch nicht abgerissen hatte. Und die Stadt? Sei so fürchterlich nicht! Dabei lächelten sie. Würden sonst so viele Touristen hier erscheinen?

Ich sagte ihnen, dass ich mit dem Bus angereist sei, auch wenn ich mich aufgrund meines Kummers nicht eines Datums entsinnen konnte. Dass die Stadt leere Ödnis sei, ein Trug – und dass nur den Romantikern, den Süchtigen, den Todgeweihten und Außenseitern der falsche Tand nichts anhaben konnte, sagte ich ihnen. Und ich wiederholte es ohne Unterlass.

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