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Die Schwärme unmöglicher Vögel

Der Mond war längst gefallen, aber in Wahrheit hatte er sich in die Nacht zurückgezogen. Niemand sah sein tröstendes Licht je wieder.

Die letzten Schwärme unmöglicher Vögel waren über einem Steinbruch gesehen worden, der vor Ratten wimmelte und genauso gemieden wurde wie alles, was außerhalb des Areals lag. Es gab keine konkreten Hinweise darauf, dass das Land tatsächlich Seelen fraß, und die morbiden Geräusche, die aus den sterbenden Wäldern drangen, lieferten nur ein weiteres Indiz für einen unheimlichen Vorgang, den wir uns nicht erklären konnten. Von einer wirklichen Gefahr zu sprechen wäre jedoch verfrüht gewesen. Welche altehrwürdige Stadt führt nicht mindestens einen Ort an, der aufgrund seiner ehemaligen Funktion dem Nüchternen einen dunklen Glanz verleiht? Es mag sich meist um Galgenhügel und Richtstätten handeln, die im Grunde nicht imposanter sind als geplünderte Friedhöfe, um die sich seit Jahrhunderten niemand mehr kümmert. Ein Teil der Geschichte, der nicht erzählt wird, hält sich natürlich dennoch tief in der Erde fest, die diesen Ort ausmacht. Von dort aus errichtet sie eine Aura des Unbekannten und Ähnlichen, kaum sind die einzelnen Schicksale in all ihrer Dramatik erfasst; die Dorfchronik erwähnt nur sachlich deren Namen. Aber das Gehörte von Anderswo wird in die kollektive Vorstellung integriert, so dass sich eine kollektive Identität des Leidens eines vergangenen Zeitalters zeigt, von dem niemand genau sagen kann, wann es denn eigentlich stattgefunden hat.

Man konnte sich nicht einmal sicher sein, ob das völlige Verschwinden der Vögel nicht ebenfalls nur eine herbeizitierte Sphäre war, die zwar beobachtet – oder in diesem Fall nicht beobachtet – werden konnte. Darüber hinaus hatte sie möglicherweise ihre Ursache nur in einem Wetterphänomen, will man die Umpolung des Erdmagnetfeldes als solches bezeichnen. Zu phantastisch sind die Geschichten über Taschen in den Wolkenbänken, die ein Zauberer benutzen würde – die Annahme einer Illusion, ausgelöst von einer Geschwindigkeit, die das Auge täuscht und letztlich unseren visuellen Kortex.

An diesem still und einsam gelegenen Steinbruch führte eine karge Straße vorbei und hinaus in eine fast senfgelbe Landschaft, in der sich die Sinne verwirrten, sobald man sich ihr näherte. Schnell machte die Theorie die Runde, die besagte, dass der Zeuge der letzten Vogelschwärme, den vorher niemand gesehen hatte und den niemand kannte, versucht haben musste, die gemiedene Landschaft zu durchqueren. Andere behaupteten, dass er vielleicht sogar aus dieser jenseitigen Region gekommen war, um Zweifel in Bezug auf die Vögel und die Möglichkeit, dem Landfraß zu entkommen, zu säen. Denn was immer auch hinter einer gedachten Linie lauert, die wir noch nicht überschreiten konnten, lauert schlussendlich in uns.

Berge wurden emporgewuchtet und wieder eingeebnet; Wasser und Wind verfrachteten den Schutt ins Meer; aus den Ablagerungen der Meeresbecken wurden neue Gebirge geboren; Kräfte aus dem Erdinneren türmten in revolutionären Phasen der Erdgeschichte Teile der Erdkruste empor; starre Schollen zerbarsten und versanken, bis sie nach Jahrmillionen wieder herausgehoben wurden. Das alles schien nun zu Ende zu sein, und geblieben war ein Monstrum aus Steinen, ein Wall gegen die immer näher drängende Verderbnis.

Als der Zeuge der letzten Vogelschwärme in die Stadt kam, brachte man ihn zunächst im Bürgerhaus unter und besah sich besorgt die Beulen unterschiedlicher Größe, die, sichtbar an seinem ganzen Leib verteilt, einige von uns an die Beulenpest erinnerten, die zwar niemand wirklich je gesehen hatte, von der wir allerdings stets annahmen, dass sie zurückkehren könnte, wenn die Umstände für diese verheerende Krankheit günstig waren. Und da der Zeuge behauptete, über den monumentalen Steinbruch an der Grenze gekommen zu sein, in dem seit Jahren die Ratten mutierten, konnten die meisten von uns eine leichte Hysterie nicht verbergen, die uns allerdings von Doktor Sand genommen wurde. Die Lymphknoten des Mannes waren nicht geschwollen und nicht von schwarzen Ödemen umgeben. Auch wies die Haut keine adhärenten und entzündlich geröteten Stellen auf.

Zu diesem Zeitpunkt war der Zeuge nur ein Fremder, den man befragen wollte. Schreiber standen bereit, die vor dem Ereignis, für das man noch keinen Namen gefunden hatte, schlichte Beamte gewesen waren. Unglücklicherweise löste sich Papier in diesem Zeitalter, das wir ersatzweise Segregatorum nannten, langsam aber beständig auf, und so wurden Betttücher herangezogen und in kleine, aktengroße Teile zerschnitten, um Dokumente anfertigen zu können, sollte das nötig sein. Dies geschah selten, und aufgrund der Knappheit einiger Ressourcen, die uns jahrhundertelang als gesichert gegolten hatten und die nun auf rätselhafte Weise verschwanden, indem sie sich unreproduzierbar auflösten, wurden sie nur eingesetzt, um uns das Leben zu erleichtern oder um dem, was hier vor sich ging, auf die Schliche zu kommen. Dennoch bestand weiterhin keine unmittelbare Gefahr, auch wenn der Fremde, der sich bald als Zeuge entpuppen sollte, für einiges Unwohlsein unter uns, die wir wussten, dass es ihn gab, sorgte.

Doktor Sand untersuchte den Mann, der bis dahin noch kein einziges Wort gesagt hatte, noch einige Male. Außer dass sich kleine schwarze Scheiben unter der milchigen Oberfläche der Beulen – oder genauer bewegten, konnte er uns nur versichern, dass diese Symptome keiner ihm bekannten Krankheit entsprachen. Daraus allein folgerte er die medizinische Sicherheit für uns alle und baute seine Argumentation sozusagen auf jenem Material, das seinen Namen bezeichnete.

Da es einen solchen Fall noch nicht gegeben hatte, bestand unsere Aufgabe hauptsächlich darin, den Zeugen, der zu diesem Zeitpunkt noch keiner war, zu beobachten. Uns beschäftigte die Frage, warum er nicht sprach, obwohl er den Eindruck machte, dass er uns durchaus verstehen konnte. Er folgte den Anweisungen ohne zu zögern und war bis auf die erwähnten Entstellungen völlig unauffällig in seinem Benehmen. Er forderte uns nicht auf, ihn ziehen zu lassen, noch beschwerte er sich über die ständige Bewachung. Doktor Sand versuchte des öfteren, seinen Namen in Erfahrung zu bringen, aber außer einem nebulösen Lächeln brachte der Zeuge nichts zustande, das uns weiterhalf. Es war ein Zufall, dass ich das leise Geräusch vernahm, das nach mehreren Tagen aus dem Mund des Fremden drang, so leise, dass man es unter normalen Bedingungen leicht hätte überhören können. Es hörte sich an wie „Die letzten Schwärme unmöglicher Vögel“, obwohl er das nicht gesagt haben konnte. Mir war klar, dass diese Worte nur in meinem Kopf vorhanden waren, und das begleitende Geräusch nur vom entweichenden Dampf der Zentralheizung herrührte. Und dennoch drang es aus dem Mund des Fremden, der den Mund nicht geöffnet hatte, als ob die Heizungsgeräusche, die als polternd und klopfend beschrieben werden konnten, umgeleitet worden wären. In den ersten Minuten stand ich wie erstarrt und blickte den Zeugen an, der zu diesem Zeitpunkt noch kein Zeuge war. Ich lauerte förmlich auf eine Fortsetzung oder eine Wiederholung, einen Beweis, dass ich mich weder geirrt hatte noch einer Fehldeutung aufgesessen war, die aufgrund überreizter Nerven auftrat.

„Haben Sie etwas gesagt?“

Der Fremde saß auf seiner Pritsche und lächelte versonnen. Seine Beulen hatten sich weiter verändert, ihr milchiges Weiß schien jetzt klarer hervorzutreten. Obwohl er mich gehört haben musste, reagiert er nicht auf meine Frage. Ich konzentrierte mein Gehör auf die Geräusche der Zentralheizung, die klackerte und pochte, aber kein weiteres Mal dafür sorgte, mir eine Stimme einzugeben.

Doktor Sand und all die anderen kamen darin überein, jemand müsse in den Keller hinabsteigen, um die alten Rohre des Heizungssystems zu überprüfen. Sie alle vertrauten mir, als ich versicherte, mich nicht getäuscht und diesen einen Satz vernommen zu haben. Zwar verschwieg ich meinen eigenen Zweifel, weil eine Wiederholung ausgeblieben war, wollte aber derjenige sein, der sich in das untere Gewölbe begab, auch wenn ich nicht genau wusste, was wir alle uns davon versprachen. Wohl hatte uns die Nervosität bereits derart im Griff, dass wir auf die Idee verfielen, es könnte immerhin möglich sein, dass jemand die geheimnisvolle Botschaft durch die Rohrleitungen geflüstert hatte.

„Ist es nicht denkbar“, sagte Doktor Sand, „dass unser erschreckend aussehender Gast nicht alleine gekommen ist? Was, wenn man uns in die Nähe des Steinbruchs oder gar in das senfgelbe Land hinauslocken will?“ Er klang nicht besonders überzeugt. Man merkte ihm an, etwas für uns alle tun zu wollen, der Hippokratische Eid schien in ihm gleichermaßen verankert zu sein wie der Wille, uns alle zu führen. Bedachte man die Tatsache, dass der Rest der Stadt vermutlich nicht einmal von seiner Existenz wusste, bekam man ein verstörendes Bild unserer Aktionen hier im ehemaligen Bürgerhaus. Nicht nur das Land und die Wälder starben, sondern auch diese Stadt, deren mittlerer Kern vermutlich nicht weniger gefährlich geworden war als das Gebiet um den Steinbruch herum. Aber wenn es nach all diesen Jahren noch Vögel gab, die eigentlich unmöglich da sein konnten, musste das als Omen gewertet werden. Selbst wenn es die letzten Schwärme gewesen waren, die der Zeuge, den wir bald als solchen identifizieren konnten, gesehen hatte, konnte das entweder der Hinweis darauf sein, es ihnen gleich zu tun und die senfgelbe Passage in ein jenseitiges Gebiet zu überqueren, das in unserer Vorstellung die Seelen fraß, oder zu bleiben und früher oder später zu sterben, sobald die Erde selbst uns attackieren sollte. Die Vögel waren zu einem Symbol der Rettung geworden, denn vielleicht flogen sie gar nicht über das senfgelbe Land hinweg, sondern hatten aufgrund der Umpolung des Magnetfeldes einen anderen Weg gefunden. Die Gültigkeit einer jeglichen Landkarte war aufgehoben, es spielte einfach keine Rolle mehr, dass wir von der Elipsenförmigkeit der Erde wussten, nahezu rund und daher begrenzt. Es gab Hinweise darauf, dass sich unser Lebensraum verflacht haben musste. Ein Teig unter der Walze einer beängstigenden und anonymen Kraft. Das zumindest war eine der Theorien, die in den Dachkammern der verendenden Stadt diskutiert wurden, inklusive jener, dass es überhaupt erst diese Theorien waren, die uns dem Segregatorium auslieferten.

Die Flure des Bürgerhauses waren feucht und klamm, ein Vorbote der senfgelben Gefräßigkeit, die sich vorerst nur in Gebäuden und Pflanzen zeigte. Die Vermutung ging dahin, dass unsere Wälder daran erkrankt waren. Die erbärmlichen Geräusche, die man darin hören konnte, wurden dadurch allerdings nicht erklärt. Wir glaubten auch nicht so recht an verendende Tiere, oder zumindest nur in Teilen. Natürlich hatte es Expeditionen gegeben, die alle gescheitert waren. Aus einem unbekannten Grund war das Waldgebiet nur bis zu einem bestimmten Punkt zu betreten, bevor die Teilnehmer in Ohnmacht fielen oder sich wie irre auf dem Boden wälzten. Ein ähnliches Phänomen beobachtete man in der Nähe des Steinbruchs, und auch dort nützten Atemschutzmasken wenig. Daran musste ich denken, als ich mich auf den Weg nach unten machte: an die Verbindung der von mir wahrgenommenen Stimme, die eine eindeutige Aussage traf und die sich in meinem Kopf herauskristallisiert hatte, an ein psychotropes Phänomen, das vielleicht in Verbindung mit den gemiedenen Arealen stand.

Die Tropfgeräusche wurden mit jeder Stufe, die ich nach unten schritt, lauter. Ich wusste nicht, was ich zu erwarten hatte oder zu erwarten hoffte. In den Gebäuden der ganzen Stadt sprach man von Veränderungen in den Stockwerken über oder Fundamenten in der Erde. Veränderungen, die möglicherweise ebenfalls mit den zu beobachtenden psychotropen Phänomenen der gemiedenen Areale korrespondierten. Wie konnten könnten meine Beobachtungen also einen gültigen Wert besitzen?

Das Licht rührte von alten Gasglühlichtern, die in Sockeln entlang der Wände steckten. Außerdem besaß ich eine Taschenlampe, die Spukbilder an die Wand warf und mich die Stufen besser erkennen ließ. Die Feuchtigkeit war bereits in das Untergeschoss vorgedrungen, infolgedessen waren viele Holzbauteile vom Pilz befallen. Die Gewände waren bereits in einem sehr schlechten Zustand und wurden durch Stützpfeiler verstärkt. Aus dem hinteren Teil des Kellers drangen die Geräusche, die durch die Leitungen nach oben zischten. Wie ein altes totes Tier kauerte der monströse Heizkessel im Rostkleid unter einem Gewölbe aus Mörtel und Putz, ein Gott, zu dem zu beten sinnlos ist. Aus seinem Bauch wuchsen Rohre wie gleichförmige Ranken und verschwanden in tropfenden Wandlöchern. Erst als mich ein Schwindel erfasste, hörte ich etwas anderes als das Glucksen und Pochen, das dem Alter der Einrichtung geschuldet war. Dahinter formten sich Frequenzen zu einem leisen Wispern, das nicht zu lokalisieren war. Ich leuchtete mit der Taschenlampe im offenen Raum umher und ließ das Licht die öden Wände betasten. Ich probierte verschiedene Standorte aus, aber das Murmeln war nirgendwo klar zu vernehmen. Dennoch ahnte ich, dass ich die Quelle gefunden hatte und dass der Fremde, der oben im Fabriksaal des Bürgerhauses saß, von den von mir wahrgenommenen Worten nichts wusste. Aber erst als ich mein Ohr an den ausladenden Rostkörper legte, erkannte ich die Wahrheit und deren Tragweite.

Da waren deutlich mehrere unterschiedliche Stimmen herauszuhören, die nicht miteinander sprachen sondern kreuzüber flüsterten und krächzten, wie ein Chor, der sich im Stile eines Orchesters einstimmt, um eine dämonische Elegie vorzutragen. Ich bedauerte, kein Stück Papier bei mir zu haben, um mir einige Notizen machen zu können und so blieb mir nichts anderes übrig, als mir so viel wie möglich einzuprägen. „Das Stürzen von Luna …“, und „das Ensemble von Nys“ konnte ich mir aufgrund seiner Begrifflichkeit leicht merken, auch wenn mir die Bedeutung dieser Worte im Zuge des vokalen Rauschens fehlte. Plötzlich verstummte der endlos scheinende Fluss der vielen Stimmen, bevor eine einzelne sagte: „Es wird gelauscht!“

Obwohl ein erster Impuls dafür sorgte, dass ich mich kurz zurückzog, wandelte ich die Kraft meiner Furcht in etwas anderes um. Ich beschloss, mich zu erkennen zu geben, um nicht als heimlicher Eindringling zu gelten und eine mögliche Gefahr abzuwenden, wissend, dass mir keine andere Handlungsweise etwas genützt hätte. Ich legte also mein Ohr wieder an den Kessel, klopfte mit dem Fingerknöchel leicht dagegen und fragte, mit wem ich es zu tun hätte.

„Lauscher?“, war die Antwort.

„Es geschah ohne Absicht“, beteuerte ich. Eine weitere Stille trat ein, die meine Nerven so sehr strapazierte, dass ich bereits daran dachte, nach oben zu eilen, um den anderen mitzuteilen, dass wir das Gebäude sofort verlassen mussten. Dann öffnete sich zu meinen Füßen ein Ventil, aus dem schrill pfeifend heißer Wasserdampf strömte und innerhalb einiger Sekunden eine dunstige und tosende Hölle zurückließ. Ich versuchte nicht, das Ventil zu schließen, sondern floh in die nächste Ecke. Dort kauernd beobachtete ich das Spektakel aus Figuren und durchscheinenden Farben, die sich unter der Gewölbedecke mit blitzender Geschwindigkeit um sich selbst drehten, ineinander stauchten und voneinander lösten. Dennoch galt meine Sorge dem Kessel, von dem ich dachte, er würde jeden Augenblick explodieren. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich nicht, dass sich über mir im Fabriksaal etwas ganz Ähnliches ereignete, nur dass dort kein Heizkessel dafür verantwortlich war. Aus den Blasen und Beulen des Zeugen, der bis dahin noch nicht als Zeuge erkannt worden war, platzte eine unbekannte Flüssigkeit mit ebensolchem Druck hervor wie im Untergeschoss. Doktor Sand sprach später von einem Inferno aus Farben und anthropomorphen Formen , sie sich unter der Decke wälzten, und die alle aus dem fremden Mann strömten, der noch einige endlose Minuten aufrecht stand, bevor er dampfend und durchnässt zu Boden sackte. Bereits zu diesem Zeitpunkt war zu erkennen, dass die prallen weißen Beulen allesamt geplatzt und wie überschüssige Haut in sich zusammengefallen waren. Statt des von uns vermuteten Todes zeigte der Fremde jedoch mehr Leben in sich als je zuvor, seit wir ihn kannten. In der allgemeinen Aufregung, die mein Bericht von den Geschehnissen im Untergeschoss noch einmal anfachte, lag es nahe, das Gebäude tatsächlich bis auf Weiteres zu verlassen. Nicht nur, weil es zu einem Unsicherheitsfaktor geworden war, sondern weil es aufgrund des intensiven Wasserschadens weitere Unwägbarkeiten gab. Zwar hätten wir den Fabriksaal, der sehr geräumig war, verlassen und in ein anderes Stockwerk umsiedeln können, hätten aber keine Ruhe gefunden, solange wir das Ereignis nicht analysiert hatten. Tatsächlich waren wir nur aus Gewohnheit im Bürgerhaus geblieben, weil wir davon ausgehen konnten, dass es jeder in der Stadt kannte; im Falle eines Informationsaustausches wäre dies eine praktische Möglichkeit der Kontaktaufnahme für all jene gewesen, die das Bürgerhaus als Stützpunkt betrachteten.

Die meiste Zeit über herrschte jedoch Totenstille im näheren Umfeld. In der Stadt bewegte sich kaum jemand durch die Straßen. Im Laufe der Jahre hatten sich viele Hinterhöfe, Garagen und Wohnhäuser durch spezielle Ein- und Ausgänge miteinander verbunden. Ein Labyrinth aus Verschlägen und erdebenen Tunneln wurde angelegt, durch die man über die verschiedenen Treppenhäuser zu seinem Ziel kam. Nicht überall wurden die Keller und Dachkammern gemieden, auch wenn sie – das war zumindest der Konsens – zu den unsicheren Habitaten zählten. Wir hatten nur die Möglichkeit, ein Unterkommen bei den Gelehrten in den Dachkammern zu suchen. Dort hätte man uns vielleicht keine Zuflucht gewährt, wenn wir nicht dringliche Neuigkeiten mit ihnen zu teilen gehabt hätten. Da wir uns weigerten, einen Fußgängertunnel bis zum nächsten Wohnhaus zu bauen, war jeglicher Kontakt spärlich geworden, auch wenn man in Gelehrtenkreisen akzeptierte, dass wir eine Art Vorposten bildeten, der zwar im Mittelpunkt stand, darüber hinaus aber entbehrlich blieb, solange wir nicht mehr wussten als die Allgemeinheit.

Doktor Sand machte den Vorschlag, den Zieglermeister Orient Rogg aufzusuchen, der in einem Feldbrandofen hauste, der letzten Häufung an Ziegeln, die nicht mehr gebrannt worden waren, um zu klären, welche Dachkammern gegenwärtig in der Verfassung waren, uns zu empfangen. Rogg war seit dem Segregatorum zu einer Art Stadtplaner aufgestiegen, der die meisten Gelehrten regelmäßig besuchte und uns deshalb eine Empfehlung aussprechen konnte.

In diesem Augenblick erhob sich der Zeuge aus einer Pfütze und sprach seine ersten Worte: „Die letzten Schwärme unmöglicher Vögel … ich habe sie gesehen.“ Die Stimme drang voll tönend durch die Halle und unterbrach unsere Unterhaltung wie der Wink eines Königs seine Gefolgsleute zum Verstummen bringen konnte. Und ich hatte sie noch nie vernommen. Es war nicht dieselbe, die noch vor Kurzem in meinem Kopf erklungen war, denn dort fehlte ihr der Klangkörper, die rohe und raue Form des Schalls, der sich wie eine unsichtbare Raupe durch die Luft bewegt. „Ich habe sie gesehen“, sagte der Fremde der damit etwas bezeugte, das niemand für möglich gehalten hätte oder überhaupt für möglich halten konnte. Doktor Sand machte einen Schritt auf den Zeugen zu, der zurückwich. Mit seinen erschlafften Hautblasen sah er noch entstellter aus als jemals zuvor.

„Ich muss Sie bitten, mir zuzuhören, ohne in meine Nähe zu kommen. Ich reagiere unkontrolliert auf die Wärme Ihrer aller Körper.“

„Das könnte schwierig werden, wenn Sie mit uns kommen“, sagte Doktor Sand und blieb stehen. Der Zeuge hob eine seiner entstellten Handflächen nach oben. „Wir haben keine Zeit für diese Dinge“, sagte er. „Sie müssen verstehen, ich war in dieser senfgelben Landschaft unterwegs und bin nun nicht mehr derselbe. Dass ich noch lebe, verdanke ich den Vögeln, die es gar nicht geben dürfte. Sie allein führten mich durch ein neutrales Gebiet, das Sie alle als den Steinbruch bezeichnen, der aber keiner ist.“

„Warum sind Sie dort gewesen, insofern Sie nicht aus dem jenseitigen Gebiet gekommen sind?“

„Ich bin ein Bewohner dieser Stadt wie Sie. Bevor Sie jedoch fragen, was mit mir geschehen ist, kann ich Ihnen nur sagen, dass das gemiedene Areal seine Stacheln in mich bohrte. Das Ergebnis ist Ihnen bekannt. Doch nicht der Körper ist für das, was immer sich dort befindet, interessant, sondern das, was wir äußerst unzureichend als die Seele bezeichnen würden. Nun, so etwas habe ich nicht mehr. Aber ich weiß jetzt, dass ich es einst besaß. Und Sie werden mir vielleicht nicht glauben, wenn ich Ihnen sage, dass die Seele nichts anderes als eine Art … Aura ist, die sich um unsere Säfte bildet, um den Schleim, den unser Gehirn umschließt, um genau zu sein.“

Als Mediziner hielt Doktor Sand demonstrativ die Luft an, während wir anderen den Zeugen etwas unsicher anblickten.

„Sie meinen sicher die Drüsensekrete“, korrigierte er.

„Ja, wohl war. So genau lässt sich das nicht sagen. Nur, dass ich nichts mehr davon mein Eigen nennen kann.“

Doktor Sand schnaubte. „Dann wären Sie jetzt nicht hier.“

Nach einer kurzen Pause sagte der Zeuge: „Ich bin nur hier, weil es eine … Passage gibt, eine Interaktion zwischen Ihnen“ – er deutete auf mich – „und mir. Was immer mich aus den Klauen des senfgelben Areals befreit hat, es hat mit den unmöglichen Vögeln und Ihnen zu tun. Ich weiß natürlich, dass Sie das Ensemble belauscht haben.“

„Das Ensemble von Nys?“, hakte ich nach.

„Richtig. Nun, ich weiß nicht viel mehr darüber, außer dass durch das Gift, das in mich gelangte, als ich dem senfgelben Land zu nahe kam, auch ein bestimmtes Wissen in mich drang. Sie werden mir zustimmen, dass für jemanden, der von sich behauptet, keinerlei Hirnfunktion zu haben, ein ganz ordentliches Gespräch zustande kommt.“

Dass der Zeuge das Ensemble, das ich für einen unordentlichen Chor hielt, in sich hatte, machte mich skeptisch. Dies war ein entscheidender Punkt in unserem Bestreben, eine Lebensweise zu finden, die überhaupt möglich war. Wir wussten nichts über die Aktionen der gemiedenen Areale, wir kannten weder ihre Ausmaße, noch ihre Herkunft; und bis jetzt hatten wir nicht ein einziges Mal daran gedacht, dass sie über eine geistige Dimension verfügen könnten, die psychoaktiv oder beseelt wirkte. Ich äußerte meine Bedenken.

„Sie unterstellen eine Verbindung zwischen mir und Ihnen, eine … Passage, wie Sie es nannten.“

Der Zeuge nickte.

„Und gleichzeitig erwecken Sie den Eindruck, als hätte das Ensemble Sie freigegeben. Verzeihen Sie, aber das erscheint mir weder schlüssig noch glaubhaft. Vor allem, weil Sie uns – ich wette, darauf läuft es hinaus – den Steinbruch schmackhaft machen wollen.“

Überraschenderweise bestätigte der Zeuge meine Folgerung.

„Sie sehen, dass Ihnen nichts anderes übrig bleibt, als den Steinbruch aufzusuchen. Das senfgelbe Land wird sich nicht aufhalten lassen, und das Ensemble will es Ihnen so einfach wie möglich machen. Es verlangt lediglich die Hälfte von Ihnen. Menschen, die Ihnen nichts bedeuten sollten.“

„Die Hälfte von uns? Was meinen Sie damit?“, fragte Doktor Sand.

„Das Ensemble verfügt über eine eigene infrastrukturelle Vorstellung“, sagte der Zeuge.

Ich zerbrach mir den Kopf über die Bedeutung dieser angeblichen Verbindung und machte Doktor Sand ein Zeichen, dass ich mit ihm ungestört sprechen wollte.

„Der Zeuge ist bisher das einzige Beispiel einer Kommunikation mit dem senfgelben Land, dessen Drahtzieher das Ensemble zu sein scheint“, flüsterte ich ihm zu und zog ihn etwas zur Seite. Als er nichts erwiderte, fuhr ich fort: „Und das alles nur, weil ich mein Ohr an einen Heizkessel legte und zufällig einige geflüsterte Worte hörte?“

„Aber was wollen Sie damit sagen?“

„Es gibt keine sogenannte Passage. Und es gibt auch keinen Zeugen. Vielleicht war er das einmal, vielleicht hat er die Schwärme unmöglicher Vögel tatsächlich gesehen, aber das war, bevor ihn das senfgelbe Land – oder das Ensemble – erwischte. Diese Kontaktaufnahme … so unglaublich es sich auch anhört … hat etwas mit meinem Ohr an diesem Heizkessel zu tun. Was gäbe es sonst für einen Grund, uns ein Angebot zu unterbreiten? Denken Sie nur daran, dass zwei Dinge gleichzeitig geschehen sind: Dampf trat aus dem Heizkessel und etwas Ähnliches geschah hier mit dem Zeugen, der vorher kein Wort von sich gegeben hatte .“

„Sie meinen, wir besitzen ein Druckmittel ohne zu wissen, was es ist?“

„Genau das meine ich.“

„Und was schlagen Sie nun vor?“

„Wir sollten ihn mit zu Orient Ragg nehmen. Wir haben nicht das Recht, den Gelehrten diese verblüffende Neuigkeit vorzuenthalten, die natürlich trotzdem unser aller Tod bedeutet. Es sei denn, wir können herausfinden, was der Auslöser dieser Scharade ist.“

Der Zeuge stand wie ein gesprungener Marmorstein vor uns und hörte sich an, was wir mit ihm vorhatten. Uns allen war klar, dass wir es hier mit einem Vertreter der Vernichtung zu tun hatten, einem, der die Schwärme unmöglicher Vögel gesehen hatte, der aber auch von einer dämonischen Macht infiziert war, die wir nicht verstanden. Seit meinen jungen Jahren hatte ich Visionen von einer dunklen Arroganz, die sich wie das Leben selbst unaufhaltsam ausbreitete, von einer Wahrscheinlichkeit der Nichtexistenz, die höher rangierte als ihr Gegenpart, von einer Stimme wie einer Trompete, die allein durch ihre Vorstellungskraft das Grauen und die Angst unter das Gefolge schillernder Blumenwiesen mischen konnte. Zusammenschlüsse einer Potenz, die uns zu begreifen für immer verwehrt blieb, die uns aber ermunterte, dieses Spiel zu spielen: was existiert, muss vernichtet werden; was nicht existiert, muss sich aus der Leere erheben. Eine naive Vision von einer Waagschale, die inmitten des Universums schwebt, Funken empfängt und abstößt, ein Zeitenkelch, der alle Möglichkeiten durchwirkt und durch Symbole spricht, die jedes Individuum und jedes Kollektiv für sich selbst erfindet. Die Angst vor dem Tod begleitete mich nicht allein aufgrund seiner höchsten Wahrscheinlichkeit, sondern aufgrund seiner Sinnlosigkeit. Zerfetzt und neu zusammengesetzt gab es keinen Ausweg, diesem Spiel zu entkommen. Was existierte, musste vernichtet werden, und alle, die wir lebten, trugen eine große Zielscheibe auf unserem Herzen. Die Hoffnung selbst war nur eine Illusion des Entkommens, ein biologisches Programm, das uns zu Kämpfern in einer kosmischen Arena machte. Der Trotz der Natur gegenüber eines schwarzen und kranken Schlundes, der auch dann noch zubeißt, wenn keine Notwendigkeit mehr besteht, getrieben von einem bösartigen Willen zur Vernichtung, zur bloßen Verneinung.

Waren wir nun die letzten in einer Oase dunkler Wunder? War dies die letzte Viertelstunde einer grauenhaften Belustigung? Ein Schein, dem wir uns nicht verweigern konnten? Meine eigenen Taten waren mir niemals bewusst gewesen, ich wusste nicht, was ich tat, aber ich wollte die Vögel sehen. Und das äußerte ich.

„Ich gehe mit euch“, sagte der Zeuge. „Ich werde mir ansehen, wie ihr lebt und was ihr zu sagen habt. Ich habe die Schwärme unmöglicher Vögel gesehen und deshalb bin ich hier.“

Wir durften keine Gelegenheit haben, dem gleichen Magnetfeld zu folgen. Und nur deshalb fiel die Wahl des Ensembles von Nys auf den Zeugen, mit uns in Kontakt zu treten. Ich belauschte jene, die immer ihren Namen nennen, die ihre Sätze immer so beginnen: „Wir, das Ensemble von Nys …, wir, die wir das Stürzen von Luna eingeleitet haben.“

Aber es lag viel Trauer in diesen Worten, kein Hochempfinden des Siegers, der zerstört, um Trophäen zu sammeln. Sie hatten mich den „Lauscher“ genannt, die Angst einer Entdeckung lag darin; Stimmen, die im Dunklen wie Kinder unter der Bettdecke die Geheimnisse des Tages an sich vorüber ziehen ließen. War der Zeuge nur eine Schöpfung aus gegenseitiger Furcht? Die Stimmen aus den Kratern des Mondes, der einst im Mutterleib der tiefen Erde auf seine Geburt wartete, um dann nichts weiter zu sein als ein fahler Sprössling, der in der dauernden Nacht die Schönheit seiner Mutter in ein geborgtes Licht hüllt. War das die Passage, die Verbindung: meine Hässlichkeit, meine blasse, kränkliche Haut, meine tief liegenden Augen, die tränentriefend unter einer Gaslaterne auf die Emanation starrt, die ihn bei den Händen hält?

Als wir den Feldbrandofen erreichten, mit Regenschirmen bestückt, weil wir durch die Straßen gegangen waren und die ebenerdigen Tunnel und Treppen nicht nutzen wollten, bevor wir nicht mit Orient Ragg gesprochen hatten, standen wir knöcheltief im Lehm und riefen seinen Namen. Die Stille wurde unterbrochen von einer launischen Stimme, die uns abwies. Der Zeuge schien durch den Marsch auf den heißen Straßen am Ende seiner Kräfte zu sein. Mittlerweile trat aus seinen zahlreichen Wunden eine milchige Flüssigkeit aus, während die Hautfetzen wie kleine Kraterwände wirkten. Am Leben gehalten nur durch ein unbekanntes Gift, das längst ausgeströmt war und uns eine Leiche hinterlassen hatte, die wir als Zeugen anerkannten, ohne zu wissen, warum. Die Gelehrten in den Dachstuben erzählten sich von Vögelschwärmen, die das außer Kontrolle geratene Magnetfeld sehen konnten. Sie implizierten damit, dass wir den Vögeln folgen sollten, als gäbe es durch sie eine Möglichkeit, dem senfgelben Kriechen zu entkommen. Aber jeder wusste, dass es keine Vögel wie auch keinen Mond mehr gab, keinen Fluchtpunkt, der diesem verstauchten Ding, auf dem wir verzweifelt herumirrten, auch nur einen einzigen Ort abrang, der eine Zukunft versprach. Das Gebrüll der Geister in den Wäldern (ich nannte sie für mich so) setzte wieder ein, aber im selben Augenblick flog die hölzerne Tür des Kegelbaus auf und Orient erschien, von oben bis unten mit Kalk oder Mehl bedeckt. In den ersten Sekunden erschien es mir, als hätten wir zum ersten Mal jene Ursache der morbiden Geräusche um uns herum entdeckt. Er starrte uns an, die wir mit unserer Regenschirmen im Lehm versanken, und wir starrten ihn an, wie er da stand wie ein keltischer Kriegsgott.

„Orient Ragg, nehme ich an“, sagte Doktor Sand, und als er keine Antwort erhielt, fuhr er damit fort, unser Anliegen, die Gelehrten in den Dachkammern zu besuchen, zu erläutern.

„Aus diesem Grunde haben wir einen Zeugen mitgebracht.“ Er deutete auf den Mann, der die Schwärme unmöglicher Vögel gesehen hatte, und der mittlerweile gestützt werden musste, damit er nicht umfiel. Langsam kam wieder Leben in den erstarrten Leib des Zieglers. „Es gibt keine Vögel“, antwortete er.

„Es geht um mehr“, sagte der Doktor. „Das Bürgerhaus ist gefallen.“

„Ihr seit über die Straßen gekommen.“

Ich zuckte mit den Schultern. „Der kürzeste Weg. Wir wollten niemandem begegnen.“

„Ihr könntet halluzinieren. Euer angeblicher Zeuge sieht aus, als wäre er nicht mehr bei Sinnen.“

Ich blickte den Zeugen an, der die Augen geschlossen hielt. „Das ist er auch nicht. Er wurde vergiftet. Er war in der Nähe des senfgelben Landes. Aber das ist noch nicht alles … haben Sie jemals etwas von einem Ensemble von Nys gehört?“

„Nicht dass ich wüsste. Was soll das sein?“

„Ich vermute, es handelt sich dabei um Mondstimmen, und es könnte sein, dass sie auch in den Dachkammern und Kellern gehört wurden. Ich selbst belauschte sie in einem Heizkessel. Der Zeuge gehört weder zu den Lebenden noch zu den Toten. Und er gehört weder zum senfgelben Land noch zu uns. Die Hälfte, die nicht zu uns gehört, hat uns ein Angebot gemacht, das nicht gerade Begeisterung auslösen wird. Aber der andere Teil … derjenige, der die Schwärme unmöglicher Vögel gesehen hat, dem sollten wir zuhören.“

Ich verschwieg meine angebliche Rolle als Lauscher und die angesprochene Verbindung, die ich selbst nicht verstand. Ein Mondkind war ich nie gewesen, mir lag die pure Schwärze der Nacht am Herzen. Im Segregatorum fühlte ich mich frei. Die Tage waren kürzer und verwirrten dadurch alle Sinne, einen Unterschied zwischen Traum und dem, was früher als Realität bekannt gewesen war, gab es nicht mehr. Der Beweis einer Surrealität war erbracht. Gesetze, die man nicht kannte, konnte man nicht brechen; die Grenzenlosigkeit war der Preis, und wären wir nicht zum Untergang verdammt gewesen, hätte ich es genossen. Wir standen am Stadtrand, der in ein trockengelegtes Moor überging. Die Häuser lagen pastellfarben im grellen Dunst des Sonnenlichts, einige Schornsteine rauchten. In den Hochhäusern waren die oberen Etagen längst geräumt, aber in den Altbauten, die dazwischen ihren Platz behaupteten, diskutierten die Gelehrten über neue physikalische Gesetze und über neue Versorgungswege. Es gab ein Tunnelsystem, das trotz der Gefahren unter dem gemiedenen Wald verlief, und eine Überdachung, die über das Moor in eine andere Stadt führte. Die Gelehrten sagten, dass dort das senfgelbe Land noch nicht gesichtet worden war, aber ein Wahnsinn herrschte, der es Fremden unmöglich machte, sich einzufügen. Tatsächlich hatte jede Stadt, die es noch gab, ihren eigenen Stempel auf ihre Bürger gedrückt , ein Stigma, das man nicht loswurde. Während wir hier eine Straßenphobie etabliert hatten, schien in unserer Nachbarstadt eine bestimmte Art von Paranoia vorzuherrschen, eine Angst vor geschlossenen Räumen, weshalb aus den Häusern die Trennwände herausgeschlagen wurden. Während wir hier den temporären und grässlichen Schreien, die aus den Wäldern drangen, ausgeliefert waren, schienen die Menschen dort Angst vor dem Ticken der Uhren zu empfinden. Die Gelehrten in den Dachkammern sprachen davon, dass sie sich von den zerfließenden Sekunden verfolgt fühlten, von den Erinnerungen in ihrem Kopf, die sich selbständig machten, und derlei mehr. Die unterschiedlichen Phänomene und Stadien der Geisteskrankheit in den noch existierenden Städten waren jedoch noch nicht zufriedenstellend kartographiert. Orient Ragg erwähnte, dass manche Dachkammern bereits verweist waren, weil einige Gelehrte diese Karten unbedingt erstellen wollten und sich gegenwärtig dort aufhielten, wo sie nicht hingehörten und auch nicht willkommen waren. Es war sogar denkbar – so ging das Gerücht – dass nur wir hier keinen Mond mehr hatten und die Erde als unförmigen Klumpen vermuteten, dass nur wir vom senfgelben Land bedroht wurden, und dass nur in unseren Dachkammern und Kellern eine halluzinogene Atmosphäre herrschte.

Wir kletterten über eine Barriere aus leeren Tonnen und Industrieschutt, bis wir einen Kieshaufen erreichten, der direkt hinauf in die von der Ziegelei aus nächste Dachkammer führte. Der Zeuge musste getragen werden, und wir wussten nicht, ob er überhaupt noch unter uns weilte, weil er weder eine Atmung noch einen Herzschlag erkennen ließ. An die austretende weiße Flüssigkeit allein hielten wir uns, wenn es darum ging, seinen Status zu beurteilen. Kämen wir ohne den Zeugen an, würde man uns wieder wegschicken; eine Leiche mitzuführen – ob sie nun sprach oder nicht – war also allemal besser als mit leeren Händen aufzutauchen. Orient Ragg erklärte uns die folgende Prozedur. Er würde allein durch das Dachfenster eintreten und verkünden, dass wir aus dem Bürgerhaus mit dringlichen Neuigkeiten kämen, die vielleicht etwas zur Klärung unserer Situation beitragen konnten. Die Gelehrten interessierten sich nur für ihr Projekt der Kartographie und der Bestimmung einzelner Phänomene, und würden es allein schon aus diesem Grund nicht ablehnen, uns anzuhören.

Mir fiel ein, dass der Zeuge behauptet hatte, auf die Wärme unserer Körper negativ zu reagieren, und dass dies vielleicht der Grund dafür sein könnte, dass wir nun einen geronnenen Fleischklumpen spazieren führten, der uns gar nichts mehr nützte. Äußern wollte ich mich nicht, denn ich fühlte mich nahezu euphorisch in Anbetracht des Leichnams, der – da war ich mir mittlerweile sicher – jetzt tatsächlich einer war. Kein Gift und kein anderer Geist hielt ihn mehr aufrecht. Der Zeuge war tot, es gab nur noch den Lauscher. Ich hatte die Mondstimmen gehört, und vielleicht hatte das bereits ausgereicht, mich für eine Aufgabe auszuwählen, die ich noch nicht kannte. Vielleicht war ich es, der den endgültigen Untergang heraufbeschwor, der die Sklaven des gelben Landes bestimmte und die anderen zu einem schnellen Tod verurteilte. Es würden die Ängstlichen die Sklaven sein, weil sie daran glaubten, überleben zu können, wenn sie nur dienten. Doch ich war nie ein Mondkind gewesen, die Nacht war mein Domizil, die unfassbare Schwärze, dicht wie Öl und fest wie ein Monument aus Osmium. Ich begrüßte den Fall von Luna und ich begann mich ebenfalls nach dem Ensemble von Nys zu verzehren, obwohl ich nur kurz ihrer Klangfarbe lauschte, als sie ihren Namen sagten. „Wir sind das Ensemble von Nys, wir haben es verursacht, das Stürzen von Luna.“

Und ich erinnerte mich noch an etwas anderes, an den Lauscher, der ich bereits früher gewesen war. In meinen Visionen erträumte ich mir ein Reich unter der Erde. Ich war blind und hatte nur mein Gehör als verlässliches Sinnesorgan. Die Abwesenheit visueller Reize ermöglichte es mir, die Dimensionen des Durchlässigen zu erforschen. Nichts hielt mich auf, weil ich keine Hindernisse sah. Ich hörte die Dinge um mich herum und lauschte den Steinen, dem Granat und dem Feldspat, den Wasserrinnsalen, den Würmern und anderem Getier. Aber ich hörte auch das Armarcolit sprechen, das Mineral des Mondes. Diese Gedanken beschäftigten mich noch, als ich durch die Dachluke stieg, verblassten aber bald darauf, als ich mich in einem geräumigen Geschoss wiederfand, in dem die anderen schon auf mich warteten, und das an ein Studiengebäude der Renaissance erinnerte. Der Gelehrte, der hier lebte, hieß Kantgraf; einen anderen Namen besaß er nicht. Tief eingesunken saß er in einem Sessel, überzogen mit tiefschwarzer Seide. An den Wänden hingen Wollbrokat- und Damaststoffe mit Falken, Fabelwesen, Basilisken und der Fleur de Lys royal, die sich wie in einem Spiegel vervielfältigte. Seine geschundene, adrige Hand hielt einen Pokal, aus dem er in kleinen Schlucken trank, während er uns musterte. Orient stand neben seinem Sessel und erwartete nicht weniger unseren vollständigen Bericht. Im Wechsel leisteten Doktor Sand und ich den Erwartungen genüge, während der Zeuge auf dem Boden zwischen uns lag.

„Seid ihr mit diesem Gift in Kontakt gelangt?“, fragte Kantgraf niemanden bestimmten. Große Sorgen schien er sich nicht zu machen, sonst hätte er uns nicht empfangen.

„Wie ich schon sagte, ist es gar nicht anders möglich“, antwortete ich. Sowohl im Untergeschoss des Bürgerhauses wie auch in der Fabrikhalle füllte der Dampf den ganzen Raum aus. Aber ich würde nicht behaupten, dass es sich dabei um ein Gift handelt.

„Sondern?“

„Um eine Art flüssigen Kokon“, behauptete ich. Dieser Gedanke kam mir, als ich darüber nachdachte, ob die Stimmen auch einen Körper besaßen, der sich messen ließe. Das Ensemble benötigte natürlicherweise eine Resonanz. Das konnte der Heizkessel sein, aber auch der Kehlkopf des Zeugen. Ihre eigene Form aber war das Aerosol.

„Und dieses Ensemble von Nys spricht für das senfgelbe Land und bietet einigen von uns einen schnellen Tod?“

„So sagte es der Zeuge.“

Eine Pause entstand, und wir alle blickten auf den Zeugen hinab.

„Bevor wir unser weiteres Vorgehen besprechen, werde ich ihn malen müssen. Dazu brauche ich einige Stunden, in denen sich niemand hier aufhalten darf. Werdet ihr ihn hierlassen?“

Doktor Sand wollte das ausdrücklich nicht. Er wusste nicht, dass der Zeuge bereits nutzlos geworden war. Dass er in den Karten Kantgrafs auftauchen würde, spielte keine Rolle mehr, denn niemand außer mir hatte ihn richtig verstanden. Ich selbst war das Druckmittel. Aber ich würde mich nicht offenbaren. Das Ensemble von Nys hatte sich zurückgezogen, als ich begann, mich daran zu erinnern, wie ich einst unter der Erde gelauscht hatte.

Es mochte andere Wesen geben, die den Anforderungen einer Surrealität gewachsen waren, doch die mussten erst geboren werden, mit nachtstarken Augen und psychischen Fähigkeiten, die wir aus millionenjahrelanger Gewohnheit verleugneten. Wie wäre es, mit Geistern zu tanzen, die wir selbst erschaffen hatten? Wie wäre es, die Moleküle unserer Körper explodieren zu lassen, um sie in eine andere Form zu zwingen? Selbst die Drogenwelt der Indianer hatte nichts Exquisiteres zu bieten. Ich würde sie zum Steinbruch führen, ich würde sie auffordern, ihre Wahl zu treffen. Sie könnten auf der Stelle sterben oder für das senfgelbe Land die Vegetation vernichten. Sie könnten Forschungen anstellen, welche pathologischen Fähigkeiten in anderen Städten vorherrschten und zurückkehren oder in dieser anderen Sphäre bleiben. Es war nahezu unmöglich, die eigene Wahrnehmung gegen eine andere auszutauschen, sich einen anderen Untergang vorzustellen als den eigenen. Ich hatte die Schwärme unmöglicher Vögel gehört, wie sie über dem Steinbruch kreisten, um dann hinabzustoßen unter die Erdoberfläche.

Die Mondstimmen hatten einst innerhalb der Erde gelebt, bevor der Mond geboren worden war. Jetzt kehrten sie wieder zurück und wollten ihre senfgelbe Landschaft wieder haben. Und das war nur hier in dieser Stadt möglich. Weil ich hier lebte.

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