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Seelen am Ufer des Acheron

Ich schreibe dies hier nieder, bevor ich endgültig Aufgabe übernehme, die Schatten über den Fluss zu geleiten, die den Fährmann nicht bezahlen können.

Vorher muss ich jedoch um Nachsicht bitten, denn im Schreiben bin ich nicht geübt, und so darf es nicht verwunderlich scheinen, dass ich dies als Bericht begriffen haben will, der keine literarischen Ambitionen hegt, auch wenn meine Worte noch so phantastisch anmuten mögen. Eine Moral habe ich euch nicht zu geben, denn die Dunkelheit in meinem Herzen macht mich für diese charakterliche Eignung blind. Ich kann nur sagen, dass ich außer diesem Schriftstück – ein Fragment meines Erblühens – nichts hinterlassen werde, doch die Möglichkeit besteht, dass wir uns eines Tages kennen lernen. Nämlich dann, wenn das Silberstück vergessen wurde. Diese Vertraulichkeit nehme ich mir heraus. Ich schlummere in den Schatten einer alten Mythologie.

Oh wie lange war ich von der Totenbarke besessen, dem Gedanken an den Fährmann, der uns hinüberbringt, was immer dieses Hinüber sein mochte, von all den Erzählungen über die Silbermünze, die man den Toten unter die Zunge legt. Die Vorstellung, den Mundraum als Portemonnaie zu betrachten, gefiel mir. Meine Urgroßmutter hatte mir erzählt, wie sie das Milchgeld immer in ihrem Mund transportierte, weil ihr Kleidchen keine Taschen hatte und sie es vor lauter Aufregung, allein auf den Markt zu gehen, nicht verlieren wollte.

Innerhalb unserer Familie sind der Wahnsinn und die Seefahrt das stabile und wiederkehrende Bindeglied unserer Geschichte, beides scheint nie weit vom anderen entfernt zu sein und wenn der Wahnsinn eine Reise des Geistes ist, ist die Seefahrt eine durchaus wahnsinnige Reise des Körpers, die oft dorthin führt, wo man nie beabsichtigt hat zu sein. Zumindest begreife ich sie so. Ob ich dem ersteren entkommen bin, wird diese Aufzeichnung klären, für das letzte empfand ich merkwürdigerweise jedoch niemals Begeisterung. Zu viele eigentümliche Wesen verbergen sich in dieser wundersamen Unendlichkeit, die auf den Tod und das Leben gleichermaßen reagiert. Fast alle Flüsse fließen ins Meer, aber manche steigen in Kaskaden mit den Seelen gemeinsam in die Unterwelt hinab, die nicht etwa wirklich ein Unten, sondern ein Nebenan meint.

Mein Interesse für den Acheron betrachtete ich freilich als ein philosophisches Phänomen und ich stellte mir oft vor, dass der Fluch unserer Familie ganz allgemein daraus bestand, die Überfahrt niemals bezahlen zu können und hundert Jahre als Schatten am Ufer des Flusses, in dem alles Leid und aller Schmerz in flüssiger Form davoneilt, verweilen zu müssen. Geht man nach alten Aufzeichnungen, endet jede Familiengeschichte mit dem Lösen des Fluchs durch eine Form der Sühne, ohne deren Erfüllung die folgenden Generationen weiterhin den Zorn der Götter zu spüren bekommen, ausgelöst von der Penetration eines Organs, das vor langer Zeit das ganze Universum gebar. Aber jede neue Linie birgt ein anderes, unbekanntes Missgeschick, weshalb ich nie ein Interesse daran zeigte, am Fortbestand einer fragwürdigen Spezies mitzuarbeiten. Doch schaut mich an: einen hinkenden Gesellen mit triefenden Augen seht ihr vor euch, mit einer Körpergröße, die im Mittelalter kein Aufsehen erregt hätte, heute aber ein Erscheinungsbild liefert, das klar erkennen lässt, dass ich das Perzentil der Wachstumskurve für das entsprechende Alter nie erreichte.

Doch ich bin zufrieden mit der Mythologie, die mich umgibt und die ich hauptsächlich aus der Erinnerung an alte Geschichten speise, und nicht zuletzt mit einem kläglichen Erbe, das mir mein Vater hinterließ, wahrscheinlich ohne sein Wissen, denn er selbst, wo immer er sein mochte, galt bereits als tot, da befand ich mich noch nicht unter den Lebenden, tauchte wieder auf, galt dann als verschollen und zum zweiten Mal tot, weil man nach dem Sinken der MS Jupiter in der Nähe der Aucklandinseln sechs Monate nichts von ihm gehört hatte. Diese Inseln sind Teil des neuseeländischen Territoriums und liegen etwa 320 Kilometer südlich von Neuseeland, in Richtung Antarktis zwischen 50,30′ und 50,50′ südlicher Breite und 166′ und 166,20′ östlicher Länge. Diese trostlose und unwirtliche Inselgruppe ist Schauplatz von bis zu zehn Havarien großer Schiffe. Die See ist dort so gewalttätig, dass von diesen Wracks nur sehr wenig übrig geblieben ist. Was überlebt, ist in der Regel unter Tonnen von Felsen begraben, die während der südlichen Stürme herumgeschleudert werden. Doch dann tauchte er erneut auf, um mir einige finstere Ratschläge zu geben und war fortan schon wieder verschollen, was sich bis heute nicht geändert hat.

Ich spürte seine neuerliche bärbeißige Ankunft bereits mehr in meinem Blut als damals das Ableben meiner Mutter, obwohl ich immer ein gutes Gespür für das schrittweise Erlöschen unserer Familie besaß. Von den ersten seltsamen Formen geistiger Umnachtung bis zur Grabesliebe, die meine Mutter umfing und die kurz darauf ihr Ende besiegelte, blieb mir nicht viel Zeit zum Erkunden ihres abweichenden Gebarens, das eine neue Dimension des Familienwahnsinns darstellte. Zum Beispiel badete sie ihr Hinterteil gerne in der Milch und brüskierte auf diese Weise nicht nur die zahlreichen Katzen, die sich dann in meiner Stube lautstark beschwerten, so dass ich nicht schlafen konnte und nach dem Rechten sehen musste. Zugegeben, ich erwischte sie nie auf frischer Tat, aber als sie summend neben dem Tisch stand und mit einem stumpfen Messer die Hühner nicht mehr rupfte, sondern schabte, triefte ihre Schürze an verdächtiger Stelle, während in der Keramikschüssel neben der Kanne nur noch eine schwache Pfütze erkennbar war.

„Fährmann“, sagte ich oft in die dunklen Schatten meiner Stube hinein“, du brichst am besten meinen und ich darauf den deinen Fluch“. Jahrelang reagierte er nicht, aber als ich das zum letzten Mal gesagt hatte, stand am nächsten Tag mein Vater vor der Tür. Ein Rückgriff in der Zeit, so mag es mir heute erscheinen, ein ewiger Kreislauf, der sich nur selbst aus seinen Angeln heben kann, doch nur, um wieder zu beginnen.

Er stand da wie ein echter Seemann, der genügend Sachen gehortet hatte, die jedem, der diese Utensilien unbedacht schaute, die Haare zu Berge stehen ließe. Seine gesammelten Merkwürdigkeiten hatte er, weil sich nichts Besseres fand, in schwere Holzkisten gegeben, hatte vergessen, was er da versteckte und auch, wo er diese Kisten aufbewahrte. Meine Mutter, die ich nicht gerne als Schatten an irgendeinem Ufer wusste, nur weil überhaupt kein Geld im Hause war, um sie richtig auszurüsten, erzählte einst von seltenem Porzellan, von Tuch und Tüll, gar Kleidern aus Menschenhaut, die dort ihr modriges Dasein neben Falschmünzen, messignen Uhrgehäusen, Perücken, Trompeten und ausgestopften Mardern fristeten. Ob sie das alles selbst gesehen hatte, weiß ich nicht, denn all das zählte sie bereits auf, als sie längst nicht mehr ganz bei Sinnen war. Und ich spreche nicht von ihrem Hinterteil in der Milch, sondern von wirklich unheimlichen Dingen, die sich in ihrem Gesicht manifestierten, wenn sie sozusagen innerhalb kürzester Zeit durch aufsehenerregende Kontraktionen die Bewohner eines ganzen Dorfes mimte und mir zu verstehen gab, dass ich doch im Grunde eine Totgeburt gewesen sei, ein hässliches fremdes Ding, das bereits von der Anderswelt gekostet hatte, bevor mir die Hebamme den kleinen Brustkasten zertrümmerte, um mich unter die Lebenden zu streuen. In ihrem irren Gelächter, das mit Speichel vermengt auf den Fußboden spritzte, war kein Hass. Es ist eigentümlich, wenn ich das sage, aber darin erkannte ich allein den Keim des Besonderen. Und so malte ich mir aus, dass ich die Barke bereits besucht hatte, bevor ich auch nur eine einzige Sekunde irdischer Luft in meine Lungen saugen konnte, ein Umstand, der auch dem Fährmann bewusst gewesen sein musste.

Zunächst starrten wir uns an, mein verschollener Vater – der nun nicht mehr verschollen war – und ich, bevor er es mit einem Lächeln versuchte, das ich nur dadurch erkannte, weil sich sein Bart leicht hob. Er war blass und seine Augen eiterten in ihren roten Becken.

„Gerulphus“, hauchte er, als hätte er mich noch nie gesehen, und im Grunde stimmte das natürlich, denn es waren sehr viele Jahre vergangen. Tatsächlich sah er aus wie jemand, der schon zweimal gestorben war und den Rest seines Lebens in den Wirren von Zeit und Raum verbracht hatte. Vielleicht zögerte ich zu lange, denn ich wusste nicht, was in solchen Situationen vorgesehen war, was die Etikette von mir verlangte, so dass er hinzufügen musste: „Willst du deinen alten Vater nicht herein bitten?“

Das war einen grundsolide Frage, die ich in dieser Situation gerne mit Nein beantwortet hätte, aber da mir das Haus in diesem Augenblick nicht mehr gehörte, konnte ich ihm den Zugang kaum verwehren, auch wenn es mir zuwider war, einen wildfremden Menschen, der genauso gut aus einem Bilderbuch hätte stammen könnte, in den Teil meines Lebens zu lassen, an den ich mich gewöhnt hatte, und der dieses heruntergekommene Gebäude in genau diesem Zustand einschloss. Als ich meinen Vater so betrachtete, kam mir der Gedanke, dass ich die ganze Zeit in ihm selbst gelebt hatte, denn er und das Haus waren dem Augenschein nach sozusagen Zwillinge. Und wenn mich das Haus bisher dadurch begünstigt hatte, nicht über meinem Haupt zusammenzukrachen, würde ich doch wohl auch eine Weile mit diesem vermoderten Haufen zurechtkommen, der einen Seesack über seine rechte Schulter geworfen hatte und den Eindruck erweckte, als könne er ohnehin keinen Schritt in meine Richtung machen, um mir die Leviten zu lesen. Aus diesem Grunde wollte ich die ersten Worte an ihn richten, die da lauteten: „Wie bist du hergekommen?“

Das tat ich und er antwortete: „Ich wurde gebracht.“

Das war alles, was er sagte, bevor er an mir vorbei schlurfte, wobei er beinahe an den vier Stufen scheiterte, die zur Tür hinauf führten, so dass ich im Reflex seinen Arm ergriff und ihn sicherheitshalber führte. Er ließ es geschehen, entweder, weil er wirklich am Ende seiner Kräfte war oder aus Sympathie für das, was er auf dieser Welt hinterlassen hatte. Dass ich selbst gehandicapt war, musste er bemerkt haben, aber es schien ihm nicht erwähnenswert.

Wir ächzten die schmale Treppe hinauf und es schien uns nur deshalb zu gelingen, weil der Korridor nach oben so eng beschaffen war, dass ich mich links und er sich rechts an der Wand mit der Schulter nach oben schleifen konnte, während der Knebel unserer verschränkten Arme in der Mitte lag (und auch mein gutes Bein).

Als der alte Seebär endlich in einem tiefliegenden Sessel saß, den ich mitten im Raum platziert hatte, um ihm nicht den Moder der Wände auszusetzen, ließ er seinen Jutesack von der Schulter gleiten und entnahm ihm, ohne innezuhalten, eine Flasche Arrak, die er öffnete und die Hälfte des Flaschenhalses in seinen Bart steckte, was mich dazu veranlasste, ihm einen Zinnbecher zu reichen. Sein Verhalten passte so sehr zu diesem schwankenden Gebäude, dass mir übel wurde, weil ich es die ganze Zeit nicht erkannt hatte. Der Verfall ist doch nur dann etwas Wunderbares, wenn es der eigene ist.

„Deine Mutter?“, fragte er und wischte sich mit einem Ärmel über die gilbe Pracht seiner Geichtsfrisur. Er hielt sich wirklich nicht lange mit Nebensächlichkeiten auf. Als ich nicht darauf reagierte und ihn nur weiter anstarrte, nickte er. „Es liegt in der Familie“, sagte er und goss sich einen Schwall in den Zinnbecher, was ich als Zeichen wertete, dass er mich durchaus respektierte oder noch nicht wusste, wie er mich einschätzen sollte und ob ich nicht ebenfalls bereits Anzeichen des Wahnsinns zeigte.

„Ich bin nicht wegen des Hauses oder wegen dir hier, falls du das denkst, und ich bleibe auch nicht lange. Wenn ich könnte, würde ich dich zwar im Brunnen ersäufen wie ein junges Kätzchen, aber ich schätze, das hätte ich tatsächlich früher tun sollen.“

Ich konnte nicht erkennen, ob das nun seine Art von Humor war, um das Eis zu brechen, oder ob er es ernst meinte. Andererseits konnte ich ihn gut verstehen, denn ich selbst hätte meine Brut sicherlich nicht am Leben gelassen. Wenn meine Mutter Recht gehabt hatte, dann war ich ein Grenzgänger, ein Bote anderer Welten. Ich gewann dem Leben nicht den nötigen Respekt ab, wie mir schien.

Seine Augen fingen leicht zu glühen an, was an seinem Rachenputzer liegen mochte. Ich hatte noch kaum kein Wort an ihn gerichtet und das, was er sagte, trug ebenfalls nicht dazu bei, meine Stimmung ihm gegenüber zu verbessern, wobei es mich auf eine morbide Weise neugierig machte.

Was er sagte, war ohne Gram und sogar mit einer gewissen … Furcht?

Ich beschloss, einfach nur dazustehen, ihm auf meinen Stock gestützt zuzuhören, dann würde ich schon herausfinden, was es mit seinem Besuch auf sich hatte. Das war eine bessere Strategie, als ihn mit Fragen in eine völlig andere Richtung zu treiben. Mir war es sogar wohl ums Herz, dass er nicht versuchte, mich für sich einzunehmen. Doch dann überraschte er mich ein weiteres Mal, indem er sagte: „Ich habe die Karavelle gesehen, die aus dem Horn der Toten besteht. Was Ewigkeit meint, ist nun an seinem Ziel, was Kreislauf meint, ist nun gelöst, das Ende eines Kreises, der doch einer Spirale gleicht. Nichts wiederholt sich, kann ich dir sagen, es gleicht sich nur.“

Die Karavelle aus dem Horn der Toten. Die hatte ich in meinen Träumen gesehen, wenn ich im dumpfen Schlaf in meiner Stube lag, das Licht nicht hereinließ und mich in einem Zwischenreich befand, das ich in meiner Jugend bereits wiederentdeckt hatte. Dort wartete ich auf den Fährmann und ich sprach ihn an wie ein Gläubiger in einem Gebet seinen Gott ansprechen mochte. Dies waren die Ufer des Acheron, die das zäh fließende Gewässer, in das alle anderen Flüsse der Unterwelt einmündeten, zu einem noch schwärzeren Schlund führten, denn nur dort ist die Schwärze absolut, ein Ort der wahren Nichtexistenz, der Übergang von allem zum Nichts. Und wenn der Wind die Segel blähte, dann bestand er aus dem letzten Hauch vieler Generationen.

In diesem Zimmer, das in meiner Kindheit voller tückischem Leben war, wenn auch nicht ohne den Trübsinn, der voller Geduld auf eine andere Tageszeit wartete, machten sich die Schatten selbständig. Sie umringten die Dinge, die einmal ihr Wirt gewesen waren und forderten mich auf, mich zu diesem alten Mann zu setzen, um mir anzuhören, was er zu sagen hatte.

„Möglicherweise wirst du selbst einen Schluck gebrauchen können“, versuchte er mich zu locken. Ich aber schüttelte den Kopf und schwieg. Dann putzte er sich den Kadaver seines Mundes mit den Fingern und begann mit einer zitternden Stimme, sein Herz zu befreien.

„Was der Ozean nicht gebrauchen kann, dass spuckt er wieder aus, und damit meine ich alles, was keine Seele besitzt. Seit jeher geschehen die merkwürdigsten Dinge, die man sich überhaupt nur vorstellen kann, auf See. Eine Landratte wird das nie verstehen können Hier sind die Geister frei, zu tun, was immer ihnen beliebt, ungebunden und unbeeinträchtigt von einer weltlichen Architektur, die sie in ihre Schranken weist. Tatsächlich gähnt das Meer dem Himmel entgegen, ist vielleicht sogar sein Spiegelbild, und wer hätte jemals den Himmel erforscht? Wir wagen uns hinaus und wissen, dass wir nach einer gewissen Zeit, die sehr einsam werden kann, wieder Land erreichen, eine stolze Küste voller frivoler Früchte. Das Prinzip des Hafens ist ein anderes als man gemeinhin annimmt. Dort nämlich feiern wir unser Überleben oder bereiten uns gleichfalls auf den Tod vor, ein verschmutztes Paradies, in dem wir stets sind, was wir schon immer waren: verloren im Angesicht der Ewigkeit. Verzweifelt versprühen wir unsere raue Lebendigkeit, nur Reisende auf den Wogen der Vergänglichkeit, arme Teufel, die betrunken im Schoß einer Hure flennen und für einen Augenblick – nur einen Augenblick lang wünschen, die Zeit möge erstarren und uns dieses kurze und kleine Gefühl von Wert, dass wir im Schmutz und im Suff und im Laster gefunden zu haben glauben, für immer bewahren wie der ranzige Arm einer vergessenen Mutter, der aus dem Grab der Zeit greift – unserer Zeit – und sich um unserer Wohlergehen sorgt. Doch Stunden später brechen wir auf und blicken nicht zurück, erinnern uns nicht mehr an unsere melancholischen Stunden, an unsere Lebensbeichte, die wir einem fremden Weib ins Ohr geflüstert haben wie eine weitere Lüge, sich hartnäckig haltend, so wie schwarze Schiffsratten in den Kombüsen und im Vorschiff danach trachten, sich unter ihresgleichen einen Namen zu machen.

Ich heiratete in diese Familie – in deine Familie – ein, ohne zu wissen, dass ich fortan vor dem Wahnsinn zu fliehen versuchte, aber ich meine nicht den Wahnsinn der Lebenden, wie du ihn selbst erlebt hast. Der nämlich war nur ein Abklatsch der Verkommenheit deiner Ahnen, die all ihre Verworfenheit in die nächste Generation legten, bis sie endlich dich erreichte. Es ist wahr, ich kenne dich nicht gut, nicht aus erstem Augenschein, denn die wenigen Male, die ich dir begegnet bin, warst du nur ein Junge, der am Zipfel seiner Mutter hing und sich vielleicht einen Vater gewünscht hätte, der nicht ständig das Weite suchte. Ich aber kann dir sagen, dass kein Ort der Welt weit genug entfernt lag, vor dem zu fliehen, was sich mir immer mehr aufgrängte. Deshalb bin ich hier. Um dich zu fragen: Warum?“

Möglicherweise fantasierte mein alter Herr, der mit jedem Wort, das er an mich richtete, tiefer in den Sessel sank, während auch seine Augen die Absicht hatten, im Innern seines Schädels zu verschwinden. Ich selbst fühlte mich benommen von der angedeuteten Anklage, auch wenn mich keinerlei Gefühl der Schuld überkam, auf die er offensichtlich hinaus wollte. Und natürlich weigerte ich mich weiterhin, ihn zu fragen, was er da von sich gab, was er wirklich von mir wollte, obwohl er doch abgestritten hatte, dass er wegen mir hier war. Wollte er mich wirklich fragen, warum es mich gab, warum ich der entartete Zögling einer quasi alleinstehenden Frau war, die – wie fast alle in unserer Familie auf der mütterlichen Seite – den Verstand verloren hatten, bevor sie starben? Sah er mich etwa über das Leben, das mir zugedacht war, triumphieren?

Er fuhr fort.

„Es sind immer die Städte, die uns fliehen, die Horizonte und Küsten, die den Körper einer Insel nachfahren, die ihn überhaupt erst definieren. Sie alle sind vereint in einer Luftspiegelung, einem Trugbild, und man wird nie mit Sicherheit sagen können, ob sie ihren Ausgangspunkt in der Wirklichkeit haben. Was ist schon die Wissenschaft? Eine staubtrockene Erzählung zumeist. Die wahren Rätsel bleiben ihr verborgen, ihre Paradigmen schützen sie vor ihrem Untergang.

Auf den Ozeanen gibt es keine Veränderungen. Ich könnte dir jedes Jahrhundert deiner Wahl zeigen, und du wüsstest nicht, an was du dich orientieren solltest. Hier ist es nur die persönliche Zeit, die du mitbringst. In deinem Denken wirst du dich dem Gefährt anpassen und je älter es ist, desto archaischer wirst du im Laufe der Zeit selbst werden, bis du dort angekommen bist, wo du hingehörst. Du wirst dann jedes Land als ein anderer betreten.“

Tatsächlich wäre er mir in einem anderen Leben mit seinen Gedanken willkommen gewesen. Während ich ihm lauschte – ohne zu wissen, wohin mich seine Worte führen würden – glaubte ich immer mehr daran, tatsächlich sein Sohn zu sein. Meine Zunge wollte sich bereits lockern, denn er übernahm ganz ohne es zu wissen oder gar zu wollen, die Aufgabe des Fährmanns, der die Seelen zurückließ, die ihren Obolus nicht entrichten konnten. Selbstverständlich ging es hier nicht um silberne Münzen, es steckte mehr dahinter, ein Ertrag, den nur die Seele selbst entrichten konnte, und der Fährmann wiederum benötigte diese Bezahlung, um existieren zu können, ein schwarzes Öl, das mittels eines Hebebaums, der durch Seilwinden und Keilhölzer immer weiter nach unten gedrückt wird, in einen runden Stein fließt.

„Auf meiner letzten Reise – der Mission, dem rätselhaften Schiff der Toten zu folgen, auch wenn die Crew gar nicht daran glaubte – hatten wir weit draußen Schiffbrüchige entdeckt, die sich an Planken und Trümmern festhielten, die sie vermutlich vorher zu einem provisorischen Floß zusammengebunden hatten und das sich jetzt allmählich auflöste. Die See war an jenem Tag ruhig und wir machten sie schon von Weitem aus, wussten allerdings nicht, in welchen Sturm sie geraten sein mochten, denn der letzte Tumult lag schon etwas zurück. Zunächst war an den drei Männern nichts auffälliges zu erkennen, sie machten sich krächzend und gestikulierend bemerkbar, wie jeder das in dieser Situation getan hätte. Doch als wir sie an Bord geholt hatten, bemerkten wir, dass sie sich in einer uns unbekannten Sprache artikulierten. Außerdem waren sie gar nicht wie Seeleute gekleidet, sondern trugen Fetzen von Brokat, im Großen und Ganzen eine Garderobe, wie sie seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen wurde. Wenn man genauer hinsah, konnte man die Adern unter ihrer Haut erkennen.

Seefahrer haben in ihrem Leben schon eine Menge Kauderwelsch gehört, es gab sogar solche, die behaupteten, alle Sprachen der Welt zu kennen, was natürlich eine typische Übertreibung ist, denn nicht selten gehören Matrosen in einer gewissen Weise zum Fahrenden Volk. Sie sind zwar abergläubisch und halten sich von Weissagungen und Zauberei fern, es kann jedoch vorkommen, dass in ihren Erzählungen eine Seeschwalbe zu einem längst vergessenen Flugsaurier wird. Demzufolge sind sie gute Geschichtenerzähler, aber weniger geeignet als Historiker. Unsere Schiffbrüchigen redeten wild auf uns ein. Es war nur zu erahnen, dass sie uns von ihrem Unglück unterrichten wollten. Das zumindest konnten wir verstehen, weil sich diese Dinge selten unterscheiden. Der Verlust der Erinnerung, die das Wasser hinwegspült, ist das Verlieren des eigenen Lebens noch bevor man tot ist, die Gewissheit, von der Liebe deines Lebens verraten worden zu sein. Wir alle stammen aus dem Meer, aber wir haben uns entfremdet. Wir haben uns verändert, der Ozean aber erinnert sich an uns und spült uns, freudig auf ein Wiedersehen, in seine salzigen starken Arme. Du wirst feststellen, dass nicht das Meer dich verraten hat, sondern das Schiff, dem du dein Leben anvertraut hast. Deshalb solltest du dir gut überlegen, wo du an Bord gehst. Liebst du das Meer oder das Schiff? Oder begibst du dich nur auf Fahrt, um den Legenden fremder Ufer nachzuspüren?

Der Kapitän stand mit seinem Lieutenant und ein paar Schiffsjungen neben dem Küper und betrachtete die drei merkwürdigen Männer in ihren zerrissenen und nassen Fetzen wie einen Fang, den sie nicht einzuordnen wussten, bevor der Quartiermeister beauftragt wurde, ihnen fürs erste Kojen zuzuweisen. Unserer Neuankömmlinge hatten jedoch nicht die Absicht, sich von den Planken zu erheben, geschweige denn, mit dem Sprechen aufzuhören. Einmal an Bord, schienen sie sich schnell gefasst zu haben und es schien, als trieben sie sogar Scherze auf unsere Kosten. Wie weit diese Scherze wirklich gingen, wussten wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Wenn ich so darüber nachdenke, könnten sie gewusst haben, was geschehen würde, aber ich kam nie wirklich dahinter.

Findet man Worte, während man dem Schiff der Toten folgt, richtet man sie in erster Linie an jene, die nicht mehr zuhören. Wo mögen ihre Seelen sein? Eingepfercht in den Rumpf vielleicht, reitend auf den Wellen des nächsten Sturms? Wie konnten wir die Orientierung verlieren bei all den Möglichkeiten und Kenntnissen, die wir hatten? Aber nichts funktionierte, kein Himmelsgestirn war auszumachen und die Kompassnadeln liefen Amok. Sie zeigten nicht etwa ein falsches Magnetfeld an, sondern drehten sich unablässig im Kreis. Zunächst waren wir sicher, dass sich alles wieder einrenken würde, wenn erst die Waschküche, die ganz plötzlich aufgetaucht war, um uns herum verschwunden war, aber nach vier Tagen wurden auch die erfahrensten Stoiker an Bord unruhig. Nur die drei schiffbrüchigen Matrosen schienen selig zu sein. Jeder Versuch, ihnen eine Tätigkeit zuzuteilen war ebenso gescheitert wie sie zu verstehen. Nicht wenige hätten sie gerne wieder zurück ins Meer geworfen, wie sie da auf ihren Matten lagen, sich unterhielten und ab und zu über das Deck flanieren, wobei sie sich angeregt unterhielten wie Reisende, für die wir alle zu sorgen hatten.“

Immer wieder gelang es ihm, mich neugierig zu machen, wenn auch die Abschweifungen seiner Erzählung mich im Grunde ermüdeten. Ich hatte den Seemann nicht in mir und die Weite des Meeres ängstigte mich. Aber sprach der Alte nicht davon, dass es ihm genauso ging? Hatte er gesehen, was auch mich beschäftigte? Eine bodenlose Sinnlosigkeit in allem, was da kreucht und fleucht, das nicht aufzuwiegen ist mit den Erfahrungen, die wir in abgeschiedenen Lauben und schönen Wäldern machen? Das Chaos als stärkste Kraft, dem keine Ordnung Einhalt gebieten kann, weil sie selbst bereits den Kern der Verwesung in sich trägt?

Ich lauschte ihm angespannt, um nichts zu verpassen. Wenn ich das Schiff der Toten nur aus meinen Träumen kannte und er hinter ihm her gewesen ist, wer war dann im Vorteil?

„Das donnernde Tosen der Wellen sang mich in den Schlaf durch den Rhythmus seiner Leidenschaft, die an die Lenden des Kahns brandete. Vom tiefsten Grün bis zum hellsten Azur schäumte das Farbenspektrum über die Rahen und verführte die Segel dazu, einzustimmen in den Takt der stürmischen Bewegungen. Das Vorspiel war vorbei und wie ein rot-gereizter Stier zerfetzte die reine Freude am Spiel der Gewalten die Hymen unserer Wandten.

So lange wir es auch verfolgten, wir hatten nie gesehen, dass das Totenschiff irgendwo anlandete. Doch irrte es auch nicht ziellos umher, sondern suchte nach etwas, das es anscheinend nicht finden konnte. Das deuteten wir aufgrund der sinnlosen Manöver. Es versuchte nicht, uns abzuhängen – was ein leichtes für ein so großes Schiff gewesen wäre – noch ließ es zu, dass wir näher kamen, was immer wir auch unternahmen. Weiß wie ein Schemen und eingehüllt in steten Nebel zog es tagelang vor uns her. Aus den Tagen wurden Wochen, aber unser Kapitän bekam es nicht satt, ihm zu folgen. Das Problem war nur, dass wir irgendwann Proviant aufnehmen mussten und es war nicht davon auszugehen, dass es auf uns warten würde.

Niemand ist allein, wenn er sich mit dem Meer beschäftigt. Es raunt und klopft an jede deiner Türen, die du in deinen Kopf verbarrikadiert hältst, und das nicht ohne Grund. In unserer Familie ist der Wahnsinn etwas Alltägliches, er beginnt leise, als einen Raunen der Melancholie, der schwarzen Galle, die sich aus der Milz grämt, dem Organ, über das man eigentlich nichts rechtes weiß, außer dass der Astralleib während des Schlafes allein mit dem physischen Leib verbunden ist.“

Naglfar. Schiff der Knochen und des Horns, beseeltes Meisterwerk vieler Tausend Jahre – und doch tot wie abgetragener Stein, von dem kein Mineral mehr zu sprechen weiß. Über Generationen gebaut mit dem Blut der geschundenen Sklaven unterworfener Völker, aus den Knochen und den ungeschnittenen Fuß- und Fingernägeln aller Toten, die selbst noch aus den Mägen der Bergbären und Wölfe exhumiert worden waren von Geächteten, denen man ihr nutzloses Leben geschenkt hatte, um sich ihrer Dienste als Klauber zu versichern, Totengräber im Gewürm, auf Schlachtfeldern und Gräbern, finstere Barbiere in den Hallen der Hochwohlgeborenen und Diebe in den Armenstuben. Von all dem wussten nur die Witwen mehr als albtraumhafte Geschichten zu weben, aber sie taten es selten, denn auch die Hüttenfrauen hatten Angst vor dem Verrat des größten Geheimnisses der ganzen bekannten Welt. So zumindest hatte es mir der Fährmann gezeigt: ein Imperium jenseitiger Schifffahrt. Doch wenn der Alte jetzt vor mir saß und mir erzählte, was er gar nicht wissen konnte, dann musste jene Quelle, die ich im Traum konsultierte, auch andere Bereiche speisen. Ich hielt all das für meinen persönlichen Wahnsinn, eine Abweichung vom üblichen Gestrüpp des zähen Geistes, der nicht zuletzt Selbstmörder aus uns machte. Wusste der Zurückgekehrte von all meinen heimlichen Bildern? Wollte er mir einfach nur erzählen, dass er wusste, woran ich dachte und was ich in meinen Nächten heraufbeschwor? Hatten sie am Ende gar etwas mit ihm zu tun? Dass er das Wasser selbst symbolisierte, entging mir nicht, der Schwall seiner Worte rieselte unaufhaltsam über mich hinweg und ließ mich meine Stube betreten, die ich mir tief in meinen Abgründen geschaffen hatte für den Fall, das Haus meiner Geburt eines Tages verlassen zu müssen. Es war das genaue Abbild jener Kammer, die unter dem Dach lag, möglichst weit weg von den Niederungen des Kellers, in dem der Vorrat seit Jahrzehnten verfaulte, eine persönliche Bilge voller Leichenschmutz, Ratten und Trümmer abgerissener Scheunen, die früher einmal im Garten gestanden haben mochten.

„Und dann“, sprach der alte Seemann weiter, „driftete das weiße Schiff auf eine Luftspiegelung zu, die sich nicht etwa aus dem Meer erhob, sondern aus dem Winkel, in dem wir der Karavelle folgten, ergab. Diese Spiegelung hatte einen Fehler, kreisrund wie ein Handspiegel und zerschmettert von vielen Rissen gab sie das wieder, was sich auf unserer Seite abspielte, natürlich grotesk verzerrt. Wir erhaschten einen Blick auf unser Schiff, wie es das unheimlichen Objekt, das dort eintauchen wollte, verfolgte. Jetzt wurden die drei Kameraden an Bord lebendig und –

Erst brach das Gewitter herein, das seine Elektrometeore auf die Toppen der Masten und Spieren schickte, dann kamen die Stimmen, die wie ein akustischer Regen von oben nach unten stürzten, sich zwischen das Rigg klemmten, dann von ihrer eigenen Wucht zerstäubt wurden, sich aufteilten und durch das ganze Schiff rasten. Schon eine ganze Weile hatten wir den Wind von vorn bekommen, bevor er blitzschnell umschwang und wir ihn schräg von achter bekamen. Es wäre nützlich gewesen, beizudrehen, aber es ging alles zu schnell und in Anbetracht unserer Mission musste jedem sofort klar sein, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Der akustische Wahnsinn, der über uns herein brach, ließ niemanden bei Besinnung. Wie ein Geschoss stachen die hohen Schreie in die unbedeckten Ohren aller, die sich an Deck befanden. Doch es handelte sich nicht etwa um Sirenen, sondern um die Klagelaute toter Seelen, die sich ganz in der Nähe unserer Position aufhielten. Wäre ich nicht bereits von den Beinen gerissen worden, hätte ich mich selbst hingekauert, ein Reflex, der unter anderen Bedingungen weniger Angriffsfläche bot, hier aber so gut wie gar keinen Vorteil brachte. Ich riss meine Handflächen dennoch schnell genug nach oben und konnte zumindest vermeiden, dass mir das Blut aus dem Kopf spritzte, was man vom Großteil der Besatzung nicht behaupten konnte. In meinem direkten Umfeld sah ich gleich drei Matrosen wie im Veitstanz zusammenbrechen, die Gesichter bis zum Äußersten verzerrt wurden sie hin und her geschleudert, während sich ihr Inneres nach außen stülpte. Erst später sollte ich bemerken, das mir die irren Schreie gar nicht zusetzten, dass sie es auch mich gar nicht abgesehen hatten, oder war ich bereits tot und weigerte mich, das anzuerkennen? Ich saß gegen die Verschanzung der Reling gelehnt und beobachtete das Chaos um mich herum mit einer ungewohnten Gleichgültigkeit. Meine Hände behielt ich über meine Ohren gestülpt, aber ich konnte sehen, wie sich diese Schall-Kanonade gezielt ihre Opfer suchte und keiner der Seeleute etwas dagegen unternehmen konnte. Manche sprangen mit vom Wahnsinn verzerrten Gesichtern unter einem faulenden Bluthimmel über Bord, hinaus in die nachtdunkle See. Die Geräusche und Erschütterungen betäubten jede mögliche Bewegung, die nicht von den kreischenden Legionen gewollt waren. Der Regen spielte den Totengeister ebenfalls in den Hände. Wie in einem Tollhaus drehte sich die ganze Welt mit ihren Untergangsfarben, es gab kein oben und unten, das erkennbar gewesen wäre. Segelfetzen flatterten durch den Donner, Blitze bildeten einen elektrischen Kessel um das Schiff. Es war das Ende einer Reise, die nie hätte stattfinden dürfen, dabei hatten wir lange allen Widrigkeiten getrotzt, waren dem alten weißen Schiff gefolgt, dem wir sein uraltes Geheimnis entreißen wollten, denn dass es die Totenbarke wirklich gab, war für unseren Auftraggeber eine Tatsache, die er niemals öffentlich ausgesprochen hätte.“

Der Alte hielt inne und musterte mich wie eine schwärende Wunde. Ich wusste, was er mich an dieser Stelle hatte fragen wollen und fast hätte ich ihm ins Gesicht gelacht, aber ich wollte es ihm nicht einfacher machen, als es ohnehin schon war. Schließlich sprach er weiter, denn er sah ein, dass ich nicht im geringsten reagierte und ihn nur weiter ansah.

„Während ich meine Kumpane ringsherum in einem nassen, aussichtslosen Kampf sterben sah, wunderte ich mich erneut über meine entsetzliche Gleichgültigkeit und legte nach einigem Zögern meine Hände in den Schoß. Mir schoss etwas Blut aus der Nase und mein Herz stampfte hart in meiner Brust, aber innerlich war ich ruhig. Als die drei Schiffbrüchigen auf mich zukamen, verlor ich dennoch das Bewusstsein und hatte einen Traum, der doch vielmehr eine Vision gleichkam. Es schien mir, als wäre ich auf der anderen Seite, schwebte körperlos herum und nahm von dieser fremden Welt allein schon deshalb alles auf, weil sie so fremd erschien. Ich wurde Zeuge eines Gesprächs, das in mächtigen Hallen stattfand, einer gewaltigen Höhle. Ich werde versuchen, mich so gut wie möglich daran zu erinnern, auch wenn mir die Angst die Kehle zuschnürte. Ein gesunder Geist ist nicht dazu gemacht, aus seiner Existenz geschleudert zu werden ohne Schaden zu nehmen oder sich später an alles zu erinnern. Die Barrieren gibt es aus gutem Grund.“

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„Wenn wir diese Fahrt nicht jetzt beginnen, wird unsere Geschichte hier enden. Unsere Leiber werden in den Räucherkammern der Riesen hängen und unsere Seelen verpfropft in den Flaschen ihrer Zauberer für das gequälte Licht in ihren Kammern sorgen.“

Der da sprach, trug ein Ziergewand aus Echsenhaut, das weniger schlicht zu nennen war als praktisch, denn es schützte den kahlen Mann vor jedem Stoß gegen seine zarte Haut, die mit Essig gebleicht nicht mehr nur weiß sondern durchlässig erschien und ein Aderngeflecht offenbarte, das blau und violett durch seine Glieder mäanderte. Er saß auf einem Thron, der aus dem blanken Fels geschlagen, mit Talg und Haar poliert von einem grünlichen Licht beschienen wurde, das aus einer kunstvoll gefertigten Schale drang, die zu Tausenden in der ganzen Höhle aufgestellt waren.

„Im Vermächtnis all unserer Toten ruht jetzt unsere letzte Hoffnung.“

„Wir hätten noch weitere hundert Jahre benötigt, um uns ganz sicher zu sein“, antwortete jemand, der ihm zum verwechseln ähnlich sah, ein Spiegelbild an Sitte und Manier, wie alle zweiundzwanzig Räte, die tief unter der Stadt zusammengekommen waren, um über eine Expedition zu entscheiden, die manche für notwendig und unumgänglich hielten, andere für verfrüht und wieder andere für den blanken Wahnsinn, der sie alles kosten konnte.

Der erste sprach weiter, den Einwand ignorierend: „Noch nie ist es uns gelungen, mit den äußeren Mächten Kontakt aufzunehmen. Seit jeher sitzen wir in einer Falle, über die wir nur spekulieren können, wann sie zuschnappen wird. Hinter diesem Ring, der uns umgibt, soll es anderes Land geben, das dem unserem ähnelt, doch wir brauchen einen Weg.“

„Und du meinst, dass die Lamien sich von unserem Vorstoß beeindruckt zeigen werden?“

Ein dritter Rat mischte sich in das Gespräch.

„Ich sage euch, was ihr selbst schon lange wisst: Ein Totenkult ist für das Feenvolk eine ungeheure und unbegreifliche Konvention, da sie weder die Klage über das Vergängliche kennen, noch die Zusammenkunft einer solchen Energie jenseitiger Seelen verstehen. Ihre Überlegenheit resultiert aus den Illusionen, die sie zu wirken imstande sind. Sie werden uns scheuen und Naglfar anlegen lassen.“

Es kam zur Sprache, dass der König eingeweiht werden müsste, was zur Folge haben könnte, dass er sich und die Geschichte, die man ihm zu leben gegeben hatte – die man allen Königen bisher zu leben gegeben hatte – als den großen Verrat enttarnt, der es auch war und ist, dass es zu einem Glaubenskrieg kommen könnte, noch bevor man zu einer Offenbarung bereit war.

„In den Lügen und dem ganzen Glast, der unserer Zivilisation zugrunde liegt, lauert der eigentliche Abgrund, das eigentliche Ende von uns allen. Wir haben die Gefahr der Außenwelten unterschätzt,“ brachte ein weiterer der Räte in der gewaltigen Kaverne seine Bitterkeit zum Ausdruck, und er sagte: „Unsere Schwäche zu überwinden hätte über all die Zeit unser Anliegen sein sollen, und nicht die Erhöhung und Festigung unseres Standes. Naglfar ist – so weit wir das beurteilen können – unantastbar, unser eigentliches Jenseits.“

Der Erste forderte ihn auf, weiter zu sprechen, obwohl ein jeder der Versammelten wusste, welchen Vorschlag er zu unterbreiten hatte. Nach einer Pause sagte er: „Es ist nicht nur die Zeit gekommen, Naglfar loszuschicken, sondern auch der Tag und die Stunde, in der wir uns zu unseren Ahnen gesellen müssen, zu all unseren Toten, um ihnen im Jenseits das Licht zu sein, nachdem sie verlangen werden, wenn sie erwachen.“

„Aber auch, um weiter existieren zu können.“

Nun herrschte wieder Stille, denn jeder der dreiundzwanzig Männer wusste, dass mit dieser Entscheidung das Menschenreich verloren war und nur die geisterhafte Schwärze des Todes blieb.

Nichts wäre der zivilisierten Welt lieber gewesen als zu verschweigen, dass die unbekannten Kräfte, die sich um das Reich zusammenzogen, mit jedem Tag näher kamen. Unter den Gelehrten der gewaltigen Stadt Bast waren die Depeschen, die den bevorstehenden Untergang der Menschenreiche zum Inhalt hatten, vermehrt in falsche Hände geraten und all das, was an Maßnahmen in den weitläufigen und geheimnisvollen Höhlen unter den künstlich angelegten Ebereschen besprochen wurde, schwappte als Gerücht über die Straßen und Plätze und nahm naturgemäß jene bizarren Formen an, von denen man bis in den Vorhof des schwächlichen Königs Cristobal sprechen hörte. Das Zeitalter des Ertrags endete mit einer Expedition an die Küsten der Lamien. Das ungeheuerliche Schiff Naglfar bekam seinen ersten mörderischen Auftrag.

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In mir rührte sich der Fährmann, ließ sich zum ersten Mal wirklich erkennen. Während mein Vater tief eingesunken vor mir saß, dem Tode nahe, weil er durch seine Geschichte meine Tore endlich geöffnet hatte und das sein einzig wahrer Auftrag war, erlebte ich eine Verquickung der Welten, wie ich sie mir nie hätte vorstellen können. Als gingen die verschiedenen Repräsentanten aller möglichen Welten durch meinen Körper hindurch, dem Todgeborenen, der von einer langen Wanderschaft übrig geblieben war. Ich erkannte, wie sich Mythen und Sagen zu einer Wahrheit verschränkten, die ungeheuerlich war und musste mir eingestehen, dass meine Abescheu, die ich jeden Tag zur Schau stellte, und mein Zorn nur daher rührte, betrogen worden zu sein, eingepfercht in einen maroden Körper, der nichts taugte, wenn man sich an eine große Epoche weit hinter der Zeit erinnern konnte. Ich war ein Gott unter Göttern gewesen, die heute nur noch ein Abklatsch in Erzählungen und Gerüchten zu finden waren, ein Gigant, der in den erfrischenden Winden vor Jahrmillionen wie ein Mensch empfand, bedroht von Konvergenzen, eine Schleuse in der Ewigkeit, die sich bereit machte, alle Möglichkeiten voneinander zu trennen.

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Der Kahn bestand, den Gerüchten zur Folge, aus den Überresten der Toten, aus ihren Zähnen und Nägeln, aus ihrem Talg und ihren Haaren, vereinzelt sogar aus Knochen und Sehnen. Ein Material wie dieses hatte ich noch nicht gesehen, konnte mir aber vorstellen, dass die Weisen unseres Kontinents seit Langem an etwas arbeiteten, um unsere aussichtslose Lage zu verbessern. Bast war eine Stadt der Gerüchte, als gesichert konnte nur gelten, dass wir einen schwachsinnigen König hatten. Ich kannte noch Cristobals Vater, aber auch er erschien mir nur wie eine gutgekleidete Vogelscheuche mit einer Mädchenstimme, die immer dann eingesetzt wurde, wenn es eine neue Lüge zu verbreiten galt. Nicht, dass man das Volk fürchtete, es gab keine strukturelle Ordnung, die infiltriert oder bekämpft hätte werden können, sondern nur ein Geflecht aus vielen hundert Kasten und Gilden, die den Kontinent durchzogen. Nur die Angst vor dem Dasein hielt das System aufrecht, die Furcht vor dem Unbekannten, das selbst in der eigenen Familie lauern könnte.

Tatsächlich wurde die Stadt von Händlern beherrscht. Ein weiteres undurchschaubares Netz, in das kaum jemand zu dringen wagte.

Früher war selbst mir das Estiatorion als das verkommenste Loch in ganz Bast erschienen, eine Mördergrube, in der man nicht ein einziges Dünnbier ohne Zwischenfall trinken konnte. Die Wände waren voller Splitter angespülter Schiffsplanken, zerfetzter Kleider vergewaltigter Dirnen und weiterer Trophäen finsterer Herkunft. All das hatte man beiseite geschafft. In den sieben Jahren meiner unfreiwilligen Abwesenheit war aus der Hafenschänke eine trügerische Amtsstube geworden, die zwar nach wie vor wie eine Latrine roch, aber ein ganz anderes Publikum vorzuweisen hatte. Konnte man früher die Verschlagenheit in den vielen Gesichtern studieren, war sie jetzt in die Gewänder gewichen, während das, was aus den Kragen ragte, glatt rasiert und unbescholten wirkte, aber weitaus gefährlicher war als jeder messerschnelle Trunkenbold in irgendeiner Gasse.

Hier war ich richtig, was vor allem daran lag, dass ich auffiel. Ein Seemann ist ein einfacher Mann. Er mag ungepflegt erscheinen, unrasiert und ungekämmt, seine kleinen oder größeren Blessuren kunstvoll zur Schau stellen, um seine Erfahrenheit vorzukehren, aber er wird in den meisten Fällen gegen mein Erscheinen wie ein angesehener Bürger wirken. Schließlich waren sie nichts als einfache Flößer. Die meiste Zeit segelte man an den Küsten des Kontinents entlang, dem einzigen Domizil, das wir kannten. Außerdem gab es noch die Flussfahrt mit ihren Schaufelrädern und Handelsflößen, die das Herz des Kenorlandes durchschifften. War es nicht seltsam, dass wir sonst nichts über uns wussten, abgesehen natürlich von der Durchlässigkeit der Welten, die so oft keinen Sinn erkennen ließen in ihrem ständigen Wechsel?

In einer schummrigen Ecke saßen drei Männer hinter einem mit Kerzen übersäten Tisch, die ihrerseits in Glasgefäßen standen. Gut besucht war die Schänke nicht, gemessen an meiner Erinnerung, und jeder, der sich vom Tisch der Kontoren mit einem Schriftstück zurückzog, verließ diesen Ort und setzte sich nicht nieder, um seine neue Anstellung mit einem Krug Wein zu feiern. Meine narbenübersäte Haut begann zu spannen. Das geschah stets dann, wenn man mich zu ausgiebig musterte.

„Was willst du?“, wurde ich von einem stämmigen Mann mit leuchtend roten Wangen gefragt, der offensichtlich der Wirt war, aber niemanden bewirten wollte, der nicht zu den Kontoren gehörte. Ich machte eine schwache Geste in Richtung des Tisches, an dem Verträge unterzeichnet wurden.

„Du siehst aber nicht aus wie jemand, den sie gebrauchen können.“

Damit hatte er vermutlich sogar recht. Ich war nur hier wegen der Gerüchte, dass eine Expedition zu den reichen und trügerischen Küsten der Lemurem geplant wurde, und obwohl ich alle Schiffe hasste, beabsichtigte ich, mir das nicht entgehen zu lassen. Ein Volk von Toten, die doch lebendig sein sollten, die Geistern, Feen und anderem Gezücht ähnlicher waren als Naturgeistern und allen Menschen, die man kannte, Zauberer eingeschlossen.

Mein natürliches Umfeld war der feste Boden unter meinen Füßen, der trockene Staub, das nachgiebige Moos, ein Marsch von vielen Stunden auf den von Pferden und Wagen gefurchten Rinnen. Ich mochte bereits in nassen Kerkerzellen gedarbt haben und durch Blutströme gewatet sein, immer aber fühlte ich meinen Körper eine Verbindung mit dem Land eingehen, aus dem ich Kraft zu ziehen wusste, bis auf dieses eine Mal. Ich gebe zu, dass dies nicht der rühmlichste Augenblick meines Lebens war, heimtückisch niedergeschlagen und von meinem geliebten Eloid, dem Schwert meiner Ahnen, getrennt, auf eine Galeere der Steinbrüche rund um das Dunkelwasser inmitten Kenorlands verfrachtet, gemartert und geschunden, wie es an sich einem Verbrecher gebührt, der sich selbst die Feigheit eingesteht, vor dem Tod zu fliehen und dafür bereit ist, jegliche Demütigung in Kauf zu nehmen. Diese Intrige hatte ich nicht kommen sehen, und meine jugendliche Überheblichkeit möchte ich nicht als hinreichenden Grund gelten lassen. Bast war meine Stadt. Sie war es immer gewesen, von Geburt an und noch weiter in die Vergangenheit zurück, als der Vater meines Vaters – und dessen Vater – sich im Kampf eine Frau verdient und mit ihr einen Erben gezeugt hatte. Nun aber hatten die Händler das Heft in die Hand genommen und die verweichlichte Königsfamilie ließ sie gewähren, abhängig vom Geld der Kontoren, gierig danach, ihnen jeden Wunsch zu erfüllen. Bast wurde in all den Jahren ein Umschlagplatz für alle nur denkbaren Güter, und damit wuchs auch das Ansehen König Cristobals und dessen magerer blassen Gemahlin. Ich aber stand einer sauberen Stadt im Wege, liebte die hohen Fluchten hinaus ins Marsch, die unbefestigten Wege und das unstete Leben voller Überraschungen. Zwar konnte man mich wie meine Väter dingen, aber nur, wenn mir der Sinn danach stand und mir der Ertrag als eine Bereicherung meines freien Lebens erschien. Als die Händler begannen, Eskorten zusammenzustellen, war ich ein ums andere Mal bereit, mich durch die finsteren Wälder zu hauen, in denen andere meinesgleichen ihre Arbeit verrichteten. Wie wenig ahnte ich davon, was sie wirklich im Schilde führten, denn gab es die einen Handmänner nicht mehr, brauchte man auch jene nicht, die man dafür bezahlen musste, ihre Waren zu schützen. Das Ende kam abrupt und überraschend koordiniert. Wie es den Händlern gelungen war, diesen Plan so lange im Verborgenen zu schmieden, dass keine Amsel davon kündete, gibt mir heute noch zu denken.

Das Meer flirrte wie ein flüssiger Kristall, die Oberfläche scharf geschliffen. Alle Küsten der uns bekannten Inseln, die wir in gebührendem Abstand passierten, blieben ruhig. Die fremdartigen Häfen umschifften wir in einem größeren Radius, denn auch wenn die Lamien wussten, dass wir da waren, beabsichtigten wir eine gewisse Gleichgültigkeit zu demonstrieren, während wir in Wirklichkeit an den Fernrohren hingen, um einen Blick auf die Feenwesen zu erhaschen. Kormack, unser oberster Kartograph, bezweifelte, dass wir auch nur die geringste Spur solcher Wesen finden würden, und wie es aussah, behielt er recht. Wir bekamen Steilhänge, Nehrungen und Canalen zu Gesicht, Buchten und Hebungen, aber kein einziges Lebewesen. Das hätte uns beruhigen sollen, aber die Erzählungen, die in unserem Kopf einen Spuk entfachten, wurden wir nicht so leicht los. Die Gefährlichkeit der Lamien bestand aus ihren Illusionen, von denen vor allem die Händler berichteten. Blutrünstig und Unsichtbar seien sie, hieß es, und sie hassten alles Leben und ließen sich auch nicht von Opfern beeindrucken, die sie nahmen, als gehörten sie ohnehin schon immer ihnen. Jahrelang musste sich Bast damit abfinden, wertvolle Fracht zu verlieren, auch wenn niemand genau sagen konnte, wodurch und warum. Zwei Expeditionen zu den Totengeistern waren bereits gescheitert, wir hatten die Crew nie wieder gesehen. Eine dritte wurde von mehreren Kriegsschiffen begleitet. Auf diese Schiffe trafen wir zufällig und ganz unerwartet weit entfernt von ihrem Einsatzgebiet. Von den Seeleuten war jedoch niemand mehr am Leben. Es sah alles so aus, als hätten sich die Männer gegenseitig umgebracht. Warum sollte es uns anders ergehen? Weil wir den Fährmann an Bord hatten, der kein geringeres Rätsel darstellte als die Lamien selbst. Einer Männer trat an mich heran. Ich hatte ihn kurz in der Taverne gesehen.

„Du weißt, dass wir dem Tod entgegen reisen. Was sonst sollte der Sinn einer Totenbarke sein?“

Aus ihm sprach die Furcht, die er gerne von sich weisen würde. Ich vernahm das betteln um Erleichterung, um ein günstiges Wort. Auf diesem legendären Schiff zu stehen und ins Ungewisse zu fahren, hatte ihm die Nerven bereits für immer zerrüttet.

„Was ist der Tod anderes als ein Symbol der Überfahrt?“, antwortete ich, obwohl ich lieber schweigen würde. Aber eine Überheblichkeit stahl sich in mein Herz und ich hatte alle Lust, sie zu demonstrieren. „Wir sollten ihn ehren und nicht fürchten, auch wenn unsere Furcht darauf beruht, nichts über unser Ziel zu wissen. Wird es dich verwundern, wenn ich dir sage, dass mein Ziel der Tod ist, dass ich gerade deshalb an dieser Expedition beteiligt sein möchte? Ich weiß, dass wir nicht zurückkehren werden zu den Ufern der uns bekannten Welt. Wie können wir leben im Angesicht einer Bedrohung, von der wir so gut wie nichts wissen? Vielleicht finden wir Antworten, und wenn nicht, bestätigt sich nur, dass unser aller Leben keines Sinnes bedarf und daher auch keiner Furcht. Ich sage dir, ich war schon viele Male im Rachen des Ewigen. Mir kommt es manchmal so vor, als wäre ich der Wächter seiner Zunge, die mich nur aus einem Grunde noch nicht verschluckt hat: Ich bin es, der sie in Bewegung hält, wenn sie hinaus lappt, um in den Fliegenschwarm zu fahren, der sich in diesem verfluchten Land vermehrt und sich gleichzeitig fürchtet vor den äußeren Welten. Jemand muss verzweifelt sein, jemand der die geballte Macht des Reiches sein eigen nennt, aber erkennen muss, dass auch er – wie der niedrigste der Elenden – in der Ungewissheit erstarren muss. Dieser jemand will das ändern oder untergehen. Es scheint, wir haben etwas gemeinsam.“

+++

Jetzt hatte ich den Alten zum Verstummen gebracht, denn mit meinem eigenen Gebrabbel hatte er nicht gerechnet. Aber ich konnte nicht anders, in mir öffneten sich alle Schleusen einer Welt, die allen anderen verborgen sein sollte. Der Fährmann hatte mich von Anbeginn an begleitet und mir das Unbegreifliche gezeigt. Doch während er selbst den Seelen die Überfahrt ermöglichte, die Reinigung versprach, vernichtete Naglfar alles, strebte keine Transformation sondern die völlige Auslöschung an. Er war es, der mich gebeten hatte, an Bord zu gehen und es war mir klar, dass ich sein Agent war. Wie konnte er zulassen, dass seine Arbeit überflüssig würde? Wie konnte er zulassen, dass der Hades selbst einer endgültigen Vernichtung anheim fiele?

Die Augen des Alten weiteten sich, als ich ihm den vollen Becher aus den zitternden Händen nahm, denn jetzt, da er verstummt war und ich sprach, wusste ich, dass er seine letzte Reise antreten würde, die ihn in das Fegefeuer führte.

„Jetzt, alter Herr, stirbst du in Wirklichkeit. Vorbei sind die Gerüchte!“

Ein kleines Zucken in den schweren Lidern des bereits verwesenden Matrosen. Er verlor das Gesöff, das ich ihm nehmen wollte, auf halbem Weg zu seinem Mund. Es war vermutlich das erste Mal, dass er vor einem Becher zu Potte geht, das erste Mal freilich, dass er verreckte. Und als ich bemerkte, dass der Fusel gleichzeitig mit der Seele aus dem Becher fuhr – das eine Gefäß zu Boden fiel, das andere im Sessel erschlaffte – , ließ ich den Vater, abgesunken wie im gemütlichen Schlaf, leicht zur Seite geneigt, unverändert sitzen und verließ den Raum.

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